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"Seine Weisen ergriffen von meinem Körper Besitz"

Klänge, Wohllaute wie Misstöne, spielen in diesem kurzen Roman, der sich eher wie ein Märchen aus 1001er-Nacht liest, eine große Rolle. Im Mittelpunkt stehen Weißbart und Mohsen, zwei im ganzen Land verehrte Târspieler - zwei Antipoden.

Eine Besprechung von Marli Feldvoß | 16.09.2009
    Yasmine Ghatas ungewöhnliches Romandebüt "Die Nacht der Kalligraphen" hat die Kritiker zu Lobeshymnen hingerissen. An die Stelle der Schönheit und Eleganz arabischer Schriftzeichen und des zärtlichen Umgangs mit Feder, Tinte und feinstem Papier tritt im neuen Roman der französisch-libanesischen Autorin die im Orient nicht minder geschätzte Kunstfertigkeit des Lautenspiels auf der fünfsaitigen Târ.

    Nun kann man sich als mitteleuropäischer Leser das Instrument mit dem doppelbauchigen Klangkörper aus Maulbeerholz zwar visuell vorstellen, den einzigartigen metallischen Klang hat man indes nicht im Ohr. Klänge, Wohllaute wie Misstöne, spielen in diesem kurzen Roman, der sich eher wie ein Märchen aus 1001er-Nacht liest, nämlich eine große Rolle. Im Mittelpunkt stehen Weißbart und Mohsen, zwei im ganzen Land verehrte Târspieler - zwei Antipoden. Weißbarts Kunst war stets das Ergebnis großer Anstrengung, künstlicher Ekstasen im Opiumrausch, dem blinden Mohsen war hingegen "das innere Hören der Dinge" schon in die Wiege gelegt. Mohsen spürte genau, was ihn von Weißbart trennte:

    Was nicht im Herzen ist, kann auch die Musik nicht hervorlocken.

    Als Weißbart stirbt – so beginnt das Buch – will Hossein, sein ältester Sohn, die traditionelle Nachfolge als Târspieler antreten, aber das Instrument verweigert seine Dienste, als sei es von einem bösen Geist besessen. Es starrt die Hinterbliebenen wie aus leeren Augenhöhlen an und verrät mit seinem Getöse noch die Handschrift Weißbarts, eine Abfolge von langen, von typischen Pausen unterbrochenen Melodielinien. Als es auch nichts hilft, die Saiten zu verbrennen, machen sich die beiden Söhne Weißbarts, Hossein und Nur auf den Weg durch die Wüste in die entfernte Stadt Ardabil, um die Târ dort reparieren zu lassen. Eine Initiationsreise beginnt, die von vier Erzählern begleitet wird. Schon der zweite Erzähler, Parvis, Mohsens Sohn, lüftet das Geheimnis, das zur Verstimmung des Instruments geführt hat. Parvis war - erst sechsjährig - Zeuge, wie sein blinder Vater unter der Hand des vom Neid zerfressenen Konkurrenten Weißbart starb, und hat ewige Rache geschworen.

    ... ein Schlag auf den Kopf raffte ihn dahin. Das Blut strömte wie eine rasche Folge von Tönen. Seine stets geschlossenen Augen öffneten sich ein letztes Mal auf die Welt. Bevor er entschlief, sagte er noch: "Gott ist mir in einer unförmigen Wolke von unbestimmter Farbe erschienen. Er ist klar wie das Wasser und leuchtend wie die Flamme. Wenn er verschwindet, führt mich ein verblassender Lichtschein in die Dunkelheit zurück. In diesem Augenblick glaube ich, meine Saiten knistern, meine Töne zucken zu hören wie ein erlöschendes Feuer.

    Stück für Stück setzt sich aus den verschiedenen Erzählperspektiven ein Puzzle zusammen, das – mit archaischer Wucht – eine Tragödie antiken Ausmaßes enthüllt. Dabei fällt auch der Stimme von Forough, Weißbarts Witwe, eine entscheidende Rolle zu. Wie mit Engelszungen berichtet sie von dem begnadeten und von ihr in Wahrheit geliebten Mohsen, der immer mehr zur Schlüsselfigur wird.

    Diese Musik trug mich weit weg von mir, weit weg von diesen baufälligen vier Wänden. Ich meinte die Blüten der Bäume zittern zu hören, die Vögel stellten das Zwitschern ein, und die Tiere des Hauses schlichen auf leisen Pfoten zum Fenster. Ich schloss die Augen, um mir nichts entgegen zu lassen von dieser Musik, die durch meine Adern rann, meine Finger glitten über das Stroh, Wellen durchliefen meinen Körper, in ihrem Rhythmus bog ich die geschmeidigen Halme. Ja, an jenem Tag weckte Mohsens Musik die Leidenschaft in mir, seine Weisen ergriffen von meinem Körper Besitz.

    Die Musik, Botschafterin des Glaubens, der Liebe und mehr. Denn Mohsen wurde nicht nur als Musiker, sondern wie ein Messias verehrt, der seinerzeit die vom Erdbeben zerstörte Stadt Ardabil wiedererstehen ließ, sogar Tote zum Leben erwecken konnte. Mohsen trägt die Züge eines Sufis, eines arabischen Mystikers, aber ihm fehlen die weltabgewandten, asketischen Merkmale. Seine Person steht auch in ihrer leiblichen Erscheinung für eine gelebte, gütige und tolerante muslimische Frömmigkeit. Alles, was geschieht, findet seinen Resonanzraum in der Târ, die zu einer eigenen Erzählfigur wird. Damit will die Autorin wohl an die traditionelle Auffassung islamischen Kunstschaffens anknüpfen, die eng mit der Gottsuche verbunden ist. Auf weltläufige Erzählfülle und romaneske Opulenz muss man vielleicht deshalb verzichten. Der schmale Band gleicht eher einer Art Lehrstück. Warum dann Roman?

    Wer will, kann das "Reiseabenteuer", das mit Entführung und Geiselnahme zunächst in der Gefangenschaft endet, auch wie einen bizarren orientalischen Krimi lesen, der durch die hoch entwickelte poetische Sprache von Yasmine Ghata auf besondere Art und Weise geadelt wird. Nicht zuletzt folgt "Die Târ meines Vaters" den Gesetzen einer Partitur für vier Stimmen, die, je länger man zuhört, einen fremdartigen Singsang hervorbringen, der sich betäubend auf die Sinne legt.

    Yasmine Ghata, Die Târ meines Vaters, Roman, Aus dem Französischen von Andrea Spingler, 128 Seiten, gebunden, Ammann Verlag, Zürich 2009, Euro 16,95