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Seismografische Seelenanalyse Amerikas

Das Stück "Detroit" der Autorin Lisa D'Armour handelt von der schwierigen Erkenntnis, dass Ur-Glaubenssätze des amerikanischen Traums schon lange nicht mehr der Realität entsprechen. Gekonnt spielt sie darin mit den subtilen Feinheiten des Klassenunterschieds zweier Paare.

Von Andreas Robertz | 20.10.2012
    Und da ist sie wieder, die typische amerikanische Gartenveranda mit der gläsernen Schiebetür, die etwas bessere Baumarkt-Camping-Sitzgruppe und die schicke Grillstation mit integrierter Abdeckhaube. Es gibt Steaks und kleine Gourmetdips nach raffinierten neuen Rezepten mit echtem Meersalz, das man erst ganz zum Schluss auf den Dipp priselt . Das Barbecue mit den neuen Nachbarn als Inbegriff amerikanischer Heimeligkeit. Und obwohl der Sonnenschirm nicht mehr richtig spannt und die Schiebetür klemmt, sieht es bei Mary und Ben immer noch besser aus als im verwahrlosten Nachbarhaus, das plötzlich wieder bewohnt ist. Sharon und Kenny haben sich dort mit Erlaubnis des Eigentümers Frank eingenistet, um wieder einen neuen Anfang für sich zu finden. Sie haben sich beim Entzug kennengelernt, arbeiten beide in Gelegenheitsjobs und besitzen nicht einmal das Geld, sich neue Möbel zu leisten.

    Doch auch bei Mary und Ben wackelt es hinter der Fassade der Selbstzufriedenheit. Sie arbeitet als Anwaltshelferin, er hat gerade seine Arbeit bei einer Bank verloren. Kein Problem, denn mit viel Enthusiasmus, einem handelsüblichen Selbsthilfebuch und einer neuen Internetseite will er sich als Berater für Schuldenfragen selbstständig machen. Je öfter die beiden ungleichen Paare Zeit verbringen, umso mehr werden Bens und Marys Lügen über ihre eigene Situation offenbar. Denn Sharon und Kennys einfache und ehrliche Art, das Akzeptieren ihrer Situation und ihre daraus folgende Philosophie – "man muss den Moment leben, etwas anderes haben wir nämlich nicht" – treibt Mary und Ben an den Rand ihres bedrohten Lebens. In einer grandiosen Saufszene, schon fast am Ende des Stücks, stimmen die beiden einem inszenierten Befreiungsakt zu: Sie beginnen die Gartenmöbel zu verbrennen, schließlich zünden sie sogar ihr Haus an. Biedermann und die Brandstifter als heilendes Ritual.

    Fast erleichtert stehen die beiden am Schluss vor den rauchenden Trümmern ihres Hauses und hören dem alten Frank zu, wie er von früher redet, von den Tagen echter Nachbarschaft und dem einfachen Glück, zwar arm zu sein, aber ein Dach über dem Kopf zu haben. Dann schaut er nachdenklich auf die rauchenden Reste und gibt zu, dass er längst vergessen habe, ob diese Zeit wirklich oder nur in seiner Fantasie so war.

    Das, was Autorin Lisa D'Armour so gekonnt in "Detroit" einfängt, ist allgegenwärtige drohende Insolvenz der amerikanischen Mittelschicht. Der passende englische Ausdruck ist "Anxiety": eine existentielle untergründige Angst, die die Menschen ergriffen hat, ein gefährlich-nervöser nationaler Panikzustand, dass der unweigerliche Niedergang nur ein paar unbezahlte Rechnungen weit weg ist. Gekonnt spielt D'Amour mit den subtilen Feinheiten des Klassenunterschieds zweier Paare: die, die nichts mehr zu verlieren haben, und die, die sich noch mit aller Kraft an die letzten Utensilien ihrer kleinen heilen Welt klammern. Zwischen Satire und Tragödie beschreibt D'Amour, wie sich Mary und Ben jenseits der Fassade des "Self Made Man" und der schalen Durchhalteparolen von "wir schaffen das schon" und "wenn wir nur hart genug arbeiten" neu finden müssen.

    "Detroit" handelt von der schwierigen Erkenntnis, dass diese Ur-Glaubenssätze des amerikanischen Traums schon lange nicht mehr der Realität entsprechen. In einem tragikomischen Monolog gibt Ben schließlich zu, dass er gar nicht an einer neuen Webseite arbeitet, sondern sich ein Parallelleben in einem Second Life Internetspiel aufgebaut hat. Wunderbar hier David Schwimmer, der vielen aus der Sitcom "Friends" als Ross bekannt sein dürfte, in seiner jungenhaften Hilflosigkeit.

    Charles Isherwood, Kritiker der "New York Times", schreibt, dass "Detroit" die momentane Situation Amerikas feiner beobachte als jedes andere Stück, das zurzeit in New York zu sehen ist. Wenn man der Auf- und Abbewegung der Wahlvorhersagen Glauben schenken darf, dann wird derjenige Präsident werden, der die beste Antwort auf jene nationale "Anxiety" zu bieten hat - sei es durch noch mehr Lügen oder ehrliche Nüchternheit.