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Selam Berlin

Noch ein Wenderoman, jetzt, fast anderthalb Jahrzehnte nach Neunundachtzig, und dann auch noch einer, der wie schon so viele in Berlin spielt? Hand aufs Herz: wer würde da nicht erst einmal müde abwinken. Schließlich meint man, das inzwischen zu einer dicken Fußnote der jüngeren Literaturgeschichte gewordene Genre in allen seinen mehr oder weniger geglückten Varianten längst zu kennen, vom Symbolismus eines Thomas Hettche bis zu den weiten Feldern des Günter Grass. Gibt es da überhaupt noch irgendetwas, was es bisher nicht schon gab? Keine Sorge, es gibt, und das sogar auf überraschende Weise. "Selam Berlin" heißt Yadé Karas allererster Roman, der exakt zwischen dem Tag des Mauerfalls und dem 3. Oktober des folgenden Jahres, also dem Vereinigungstag spielt – und paradoxerweise in Istanbul beginnt.

Uwe Pralle | 06.05.2003
    Mein Name ist Hasan Kazan. In Berlin nennen mich einige Leute "Hansi", obwohl meine Eltern mir den schönen Namen Hasan Selim Khan gegeben haben. Ach ja, meine Eltern ... - Vor Jahren verließen sie Istanbul und emigrierten nach Westberlin, Kreuzberg. Dort kam ich auf die Welt. Meine Eltern glaubten an den Westen. Er bedeutete Fortschritt, Technik und Arbeit für sie. Doch als ich und mein Bruder Ediz heranwuchsen und mit den westlichen Werten, mit Moral und Erziehung in Berührung kamen, wendeten sich meine Eltern ab. Sie befürchteten, daß wir in Berlin zu "Kiffern", "Hippies" oder "Homos" würden. Deshalb schickten sie uns auf die deutsche Schule in Istanbul. Ich war dreizehn.

    Hasan ist neunzehn, als die Mauer fällt, und in Istanbul hat er soeben das Abitur gemacht. Als er im Fernsehen sieht, was in seiner Geburtsstadt geschieht, will er nur noch eins: "voll in die Berlin-Party mit einsteigen". So kehrt er zurück und landet in einer Stadt, die ihm vertraut ist, aber schon nicht mehr ganz die selbe. Die Bezeichnung "Wenderoman" findet Yadé Kara für ihren Roman allerdings ziemlich unpassend.

    Ich finde, Selam Berlin ist erst mal ein Berlin-Roman, ich bin in dieser Stadt aufgewachsen und diese Stadt hat mich geprägt, und ich habe ein Bedürfnis gehabt, mich mit dieser Stadt auseinander zu setzen als Berliner. Und ich finde, das ist ein Berlin-Roman mit einem Helden, der schelmische Züge hat, ich finde das trifft Selam Berlin am besten. Wenderoman oder Wendezeit, also ich finde die Wende als solche ist eigentlich für Menschen aus der ehemaligen DDR treffender, weil die Menschen im Westen haben ja nicht eine so dramatische Wende durchgemacht. Die haben ja ihre Strukturen beibehalten, die mussten sich ja nicht um 180 Grad auf was Neues einstellen, deswegen finde ich Wende für einen Roman zu benutzen, der aus einer Westberliner Perspektive geschrieben ist, nicht treffend.

    Verständlich, dass Yadé Kara das mittlerweile ziemlich ausgewaschene Etikett nicht mag. Dabei muss sie es eigentlich gar nicht fürchten, denn ihr Roman ist in einem ebenso ungewohnten wie unverkrampften Sinn ein Wenderoman: die Unbekümmertheit ihres Helden lässt die übliche Bedeutungsschwere der Wendezeit gar nicht erst aufkommen, und stattdessen wendet er sich den Versuchen seines Ich-Erzählers zu, in einem für neue Möglichkeiten offenen Zeitintervall der Geschichte in Berlin wieder Fuß zu fassen. Es ist wie ein langgedehnter Traummoment, in dem alles geht, aber niemand so genau weiß, wo es tatsächlich langgehen wird. Geschichtsbuchnotorische Ereignisse tauchen allenfalls an Hasans Blickrand auf, und erzählt ist der Roman in einer knappen und atemlosen Sprache, die ironische, spöttische und manchmal auch zotige Züge hat.

    Ich meine, Selam Berlin ist kurz, knapp, schell, und wie mal eine englische Freundin von mir – das finde ich sehr treffend – beschrieben hat: It’s sharp, it’s short and it’s snappy. Und ich finde, das trifft es auch, also so schreibe ich.

    Daß die Sprache oft atemlos und mit kurzen, pointierten Dialogen dahineilt, liegt nicht etwa daran, daß hier der mittlerweile auch in Comedies so beliebte kurzatmige Slang deutsch-türkischer Jugendlicher auftaucht. Es hat einfach mit dem Berliner Roman-Sujet zu tun. Ich habe diesen Roman so schnell geschrieben, weil diese Zeit des Mauerfalls war für mich eine wahnsinnig schnelle Zeit. Also die Ereignisse sind so rasant gewesen, wenn ich an diese Zeit denke, ist für mich Tempo drin. Also das Zeitgefühl und die Erinnerung an damals, da sind schnelle Bilder im Kopf. Für mich hat Berlin einen Sound. Und dieser Sound von Berlin, der ist zackig, der ist schnell, der ist kantig und der ist rasant.

    Yadé Kara ist zwar 1965 in Cayirli in der Türkei und nicht etwa in Berlin geboren, aber sie lebt dort seit ihrem 6. Lebensjahr. Sie kennt also die Lage ihres Romanhelden auch selbst sehr gut, ständig im Transit zwischen mindestens zwei Sprachen und zwei Welten mit ihren verschiedenen Traditionen zu leben.

    Ich bin dreisprachig aufgewachsen, also ich hab Sasa gelernt, das ist meine Muttersprache, dann hab ich Türkisch gelernt. Ich bin hier zur Schule gegangen, hab dann hier auch studiert, das ist dann die Sprache geworden, in der ich mich am meisten wissenschaftlich und auch per Arbeit ausgedrückt habe, aber die deutsche Sprache ist natürlich die dominanteste von allen.

    Gelebt hat sie zeitweise auch in London, Istanbul und Honkong, was das Crossover von Sprachen und Kulturen, aber auch ihre Vergleichsmaßstäbe noch erweitert hat.

    Also man vergleicht nur, wenn man was Neues entdeckt, oder was Anderes, dann vergleicht man. Aber nach einer Zeit hört man auf. Wenn man nämlich ständig vergleicht, dann wird man unglücklich. Aber man sieht natürlich sofort die Unterschiede, also man muss nicht lange nachdenken, weil man hat den Blick, man sieht sofort die Unterschiede, man sieht sofort, wo die Missverständnisse auch zwischen den Kulturen sind, man sieht, was die Einen besser können, was die Anderen nicht, das sieht man natürlich.

    Hasans Blick ist ein wenig wie der eines oft spöttisch gestimmten Ethnologen, der mit seinen Istanbuler und Westberliner Vergleichsmaßstäben operiert.

    Mama fand Berlin zu prollig, deshalb blieb sie mit Ediz am Bosporus. Im Vergleich zu Istanbul war Berlin ein Kaff. Aber es war ein überschaubares Kaff, mit einer Mauer drum herum. Ich mochte es. Istanbul war aufgedreht. Berlin auch, aber anders. Alles war übersichtlicher und ruhiger. Die Geschäfte schlossen um achtzehn Uhr, die Busse waren pünktlich, und die Leute ignorierten sich gegenseitig und ließen sich in Ruhe. Das war OK für mich. Vieles lief nach Routine und Plan. Ich fühlte mich sicherer und gelassener als in Istanbul. Ich wusste nicht, was ich in Berlin machen würde. Hauptsache erst mal weg, dachte ich. Es würde sich was ergeben. Aber was? Keine Ahnung.

    Sein Bruder will unbedingt in den USA studieren, aber weil Hasan noch nicht weiß, wie es mit ihm weitergehen soll, lässt er sich treiben, trifft Jugendfreunde wieder, schlägt sich mit Jobs durch, verliebt sich in eine Filmmacherin und kommt zufällig zu einer Filmrolle – er soll, wie kann es auch anders sein, einen kleinen Dealer spielen:

    Bevor Wolf mit seiner ultracoolen "Action" die Szene in Gang setzte, erklärte er mir die Rolle des Dealers. - "Er ist einer dieser typischen Kreuzberger Jungs, so ein Macho, der die Ehre der Schwester rettet. Verstehste?" - Ich nickte. Was Wolf wollte, war klar. Einen Spielautomaten-Türken mit Messer und Familiensinn. Ich machte einen auf Nix-verstehen-Türke; Lan-Türke; einen Moruk-Typen. Schließlich hatte Wolf eine Milieustudie gemacht, und er glaubte zu wissen, wie die Türken so drauf waren.

    Während Hasan durch die Milieus solch schlauer Filmemacher, von Proll-Berlinern und Szenelokalen flippt und sich dabei wie ein später Nachfahre des Don Quixote mit allerlei Klischees herumschlägt, spielt sich in seiner Familie eine kleine Wende-Tragödie der besonderen Art ab. Sein Vater betreibt seit den 70er Jahren ein kleines Reisebüro.

    Baba lebte und arbeitete in Kreuzberg, und den ganzen Tag über sprach er türkisch, trank türkischen Tee und verdrückte Köftes und Kebaps. Auf seinen Geschäftsbesuchen in Ostberlin stopfte er sich mit Eisbein, Schweinshaxe und Sauerkraut voll. Dort war er frei, denn es gab keine Türken, keine Moslems und keinen Allah in der sozialistischen DDR. Baba kannte sich in diesem alten preußischen Berlin mit Ost- und Westteil besser aus als in irgendeiner türkischen Stadt.

    Bei seinen Geschäftsbesuchen in Ostberlin hat der Vater heimliche Beziehungen geknüpft, die nach der Wende auffliegen und in der Familie Kazim heftige Turbulenzen auslösen. So wird Hasan mit seinem deutsch-türkischen Doppelblick aus den vertrauten Westberliner Milieus gleichzeitig auch in die der Ostberliner Umbrüche hineingezogen – und selbst wenn Yadé Kara nichts davon wissen will, daß Selam Berlin ein Wenderoman ist: ihre Euphorie ist trotzdem nicht zu überhören, diese Zeit erlebt zu haben.

    Also ich finde immer wieder, Berlin ist eine der wenigen Städte auf der Welt, die eine so interessante – aber in Anführungsstrichen – Geschichte haben. Es gibt wenige Städte, die so von der Geschichte wie Berlin zerrüttet, ja, zertrümmert, zerbombt und wieder aufgebaut worden sind. Und ich interessiere mich sehr für Geschichte, also Geschichte ist so eine kleine Leidenschaft von mir. Und ich habe ja auch ein Stück Geschichte erlebt mit diesem Mauerfall, und ich konnte gar nicht fassen, daß ich sowas miterlebe.

    Es kann sich also auch heute noch lohnen, auf diese Erlebnisse zurückzukommen. Selam Berlin holt nach, was schon längst einmal fällig war: die Erfahrungen von deutsch-türkischen Berlinern in den historischen Moment von 1989 einzublenden. Und dabei ist Yadé Kara das kleine Kunststück gelungen, den unverkrampftesten aller bisherigen Wenderomane zu schreiben.