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Selbst erforscht

"Das Kopenhagener Journal" gewährt einen geradezu intimen Einblick in das Schaffen des Schriftstellers Peter Weiss. Obwohl es nur den Zeitraum eines halben Jahres umfasst, erweist sich das Tagebuch als wichtiger Baustein bei der Bewertung von Leben und Werk. Am 8. November wäre Weiss 90 Jahre alt geworden.

Von Angela Gutzeit | 08.11.2006
    Das "Kopenhagener Journal" aus dem Jahre 1960 hatte Peter Weiss als ein rein privates Tagebuch gewertet. Das hinderte ihn nicht daran, größere zusammenhängende Teile daraus zu verwenden und in anderen Kontexten zu publizieren. Dazu gehört unter anderem der essayistische Text über den "Palais Idéal", ein wunderlich-monströses Bauwerk des Briefträgers Cheval im französischen Hauterives. Jetzt endlich liegt uns dieses Tagebuch in Gänze vor. Und obwohl es nur den Zeitraum eines halben Jahres umfasst, erweist es sich als wichtiger Baustein bei der Bewertung und Betrachtung von Leben und Werk des Peter Weiss.

    Man kann es auch als Scharnier bezeichnen, als Verbindungsglied, das eine entscheidende Entwicklungsphase dokumentiert, in der der Maler und Filmautor endgültig der Literatur den Vorzug gibt und damit als mittlerweile über 40-Jähriger auch endlich den Durchbruch in Deutschland erlebt. In seinen Notaten reflektiert er diesen Übergang und treibt ihn damit gleichzeitig voran.

    In Schweden, seinem Exilland, das er nie wieder für längere Zeit verließ, ihm aber auch nie zur Heimat wurde, fühlte Weiss sich verkannt, nicht genug gefördert. Der Kontakt mit Siegfried Unseld, der Peter Weiss im Sommer 1959 in den Kreis der Suhrkamp-Autoren einreihte und mit Autoren wie Uwe Johnson, Hans Magnus Enzensberger und Martin Walser bekannt machte, verschaffte ihm Genugtuung, stürzte ihn jedoch zugleich in tiefe Zweifel über seine künstlerische Existenz. Er fürchtete sich vor dem Balance- Akt, der ihm, wie er meinte, nun abverlangt werde zwischen freiem Schaffen, das er nur sich selbst gegenüber zu verantworten habe, und den Anforderungen eines Verlages, eines Marktes, die ihn zur Anpassung zwingen würden.

    Überhaupt - dieses Sich-Dazwischen-Fühlen: zwischen künstlerischen Ausdrucksformen, zwischen Gebundenheit und Freiheit in den Künsten wie in seiner Beziehung zu Frauen. Diese Skrupel: Wie soll ich schreiben? Wo gehöre ich hin? Wie verschaffe ich mir über mich selbst Klarheit? Das sind wesentliche Elemente dieses Tagebuchs. Unter anderem in seinen späteren "Notizbüchern" wird er diese Selbstbefragung, dieses Reflektieren über seinen künstlerischen Weg in gewisser Weise fortsetzen. Aber nur hier, im Kopenhagener Journal, äußert sich diese Unsicherheit als tiefe Krise, hervorgerufen durch einschneidende Veränderungen zwischen dem Frühjahr 1959 und dem Herbst 1960.

    In dem erhellenden Nachwort und den umfangreichen Anmerkungen der Herausgeber Rainer Gerlach und Jürgen Schutte treten sie zu Tage: Der Tod der Eltern, der ihn erschüttert, aber auch frei macht für die Verwirklichung seiner autobiografischen Erzählungsbände "Abschied von den Eltern" und "Fluchtpunkt". Die zeitweilige Trennung von seiner Lebensgefährtin Gunilla Palmstierna, die ihn während seiner Kopenhagener Filmarbeit vereinsamen lässt, ihn aber auch in einen Rausch mit beinahe wahllos gesuchten Sexualpartnerinnen treibt. Und eben der neue Verlag, der nicht nur umfangreiche Änderungen an seinem "Kindheitsbuch" verlangt, sondern auch ständig neue Manuskripte.

    Im Tagebuch versucht Peter Weiss diesem Druck standzuhalten, ihn zu verarbeiten und ihn produktiv zu wenden. Dabei wählt er verschiedene Äußerungsformen, verbindet analytische Selbstbefragung zu Schaffenskrisen sowie sexuellen Nöten und Fantasien mit umfangreichen Arbeitsschilderungen und -plänen. Er notiert Lektüreerlebnisse. Er fragt sich, wie andere Autoren es schaffen, seelische Zustände und bedrängende Erinnerungen zu objektivieren. Auf der Suche nach Anregungen vertieft er sich in Hebbels Tagebücher, in Brechts Journale und in Kafkas autobiografische Aufzeichnungen. In der Nachbarschaft zu Reflexionen und der Wiedergabe von Gesprächen über den Wert der Psychoanalyse, die für ihn künstlerisch wie privat einen geradezu existenziellen Stellenwert hat, wird sein Anliegen deutlich, die für ihn gültige Form des autobiografischen Schreibens zu finden.

    Und so lassen sich Peter Weiss' Notate aus dem Jahre 1960 auch als aufschlussreiches Hintergrundmaterial zu den beiden Büchern "Abschied von den Eltern" und "Fluchtpunkt" sehen, die er in dieser Zeit abschloss beziehungsweise begann. Das Neue und Interessante an diesen literarisch gestalteten Autobiografien war ja gerade, dass Peter Weiss hier nicht einfach nur Erinnerungsmaterial in Form brachte, sondern gleichzeitig und zum Teil sogar gegen dieses Material in einem psychoanalytischen Sezierprozess Seelenlagen freilegt, um Widerstand und Erkenntnis freizusetzen.

    Das "Kopenhagener Journal" ist für Peter Weiss ein Experimentierfeld, auf dem er sich selbst zum Forschungsobjekt macht, wie er es formuliert. Man kann ergänzen: Er testet bis an die Grenzen des Erträglichen aus, was ihm zumutbar und inwieweit es formulierbar ist. Die Depression, die ihn während der Filmarbeit über die Kopenhagener Vorstadtmenschen befällt, schildert er bis zur Selbstentblößung: Methoden seiner sexuellen Selbstbefriedigung, das Urinieren in eine Milchflasche, weil er keine Lust mehr hat zum Klo zu gehen, sein tagelanges Liegen auf verdrecktem Bett. Gleichzeitig weist das Journal - zumindest aus der Sicht des heutigen, wissenden Lesers - über die krisenhafte Zeit seines Entstehens hinaus. Sowohl inhaltlich wie ästhetisch kündigen sich die Themen der späteren erfolgreichen Bücher und Theaterstücke an, beispielsweise in dem Gespräch mit Freunden über die Psychoanalyse. In dem mehrere Seiten umfassenden, geschlossenen Text ist mit dem Stilmittel, in der indirekt wiedergegebenen Gesprächsform das Für und Wider von Argumenten zu erwägen und dadurch einen Erkenntnisprozess voranzutreiben, bereits der Ton gefunden, der sein umfangreiches Werk zur "Ästhetik des Widerstandes" bestimmt. Auch das in den Tagebuchnotizen angedeutete Ringen mit dem revolutionären Kommunismus, der die erwartete künstlerische Revolution nicht verwirklicht habe, so Weiss, wird in dem dreiteiligen "Ästhetik"-Buch zum zentralen Punkt werden.

    Die Herausgeber der kritischen Ausgabe des "Kopenhagener Journals" haben Peter Weiss' Aufzeichnungen weitgehend in ihrer ursprünglichen Schreibweise belassen. Das heißt, sie haben Streichungen kenntlich gemacht und die oft falsche Interpunktion nicht korrigiert. Der mühevolle Prozess des Tagebuchschreibens erhält auf diese Weise noch einmal ein besonderes Gewicht. Die anfänglichen Irritationen beim Lesen werden aber sowieso mehr als aufgewogen durch den Einblick, der uns dieses Journal in den Schaffensprozess des Schriftstellers Peter Weiss gewährt.