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Selbst ist die Stadt

Am Sonntag wählen die Hamburger nicht nur den Bundestag neu, sie entscheiden auch, ob ihre Stadt die Strom-, Gas- und Fernwärmenetze zurückkaufen soll. Zurzeit sind sie in der Hand der Konzerne Vattenfall und E.ON. Die Initiative "Unser Hamburg - Unser Netz!" wirbt gemeinsam mit Verbraucherzentrale, Kirchenvertretern, Energieunternehmen und Künstlern für den Rückkauf.

Von Axel Schröder | 19.09.2013
    Eigentlich geht es in der Hamburger Bürgerschaft sachlich zu, hanseatisch, gesittet. Unter den mächtigen Kronleuchtern wird seit 120 Jahren vornehm debattiert. Es geht aber auch anders:

    "Kein Pakt mit dem Atomkonzern Vattenfall!" - "Ich komme zum Schluss!" - "Keine Privatisierung der Fernwärme! Ja zu Bürger, zu Netzen ..." - "Herr Kerstan, Ihre Redezeit ist wirklich abgelaufen!" - "Ja zu den Netzen! Ja zu 100 Prozent für Hamburg! Ja zum Volksentscheid! Vielen Dank!"

    Der Mann in Rage ist Jens Kerstan. Fraktionschef der Grünen in der Hamburger Bürgerschaft. Fünfmal steht er an diesem Septembernachmittag am Pult und kämpft für den Rückkauf der Energienetze von Vattenfall und E.ON. Am Sonntag entscheiden die Hamburger parallel zur Bundestagswahl darüber, ob die Strom-, Gas- und Fernwärmenetze von der Stadt zurückgekauft werden sollen. Die kleine Initiative "Unser Hamburg - Unser Netz!" wirbt mit breiter Unterstützung für diesen Rückkauf. Seite an Seite mit der Verbraucherzentrale, mit Kirchenvertretern, Energieunternehmen und Künstlern. Gegen diesen Rückkauf engagiert sich eine mächtige Allianz aus Handels- und Handwerkskammer, aus SPD, FDP und CDU. Angeführt vom Ersten Bürgermeister Olaf Scholz:

    "Es gibt außer der Aussage: 'Wollen wir haben!' keine einzige Begründung, warum die Netze gekauft werden sollen. Und darum sage ich: Zwei Milliarden sind zu viel! Wir haben Besseres zu tun und unser Geld für Besseres einzusetzen!"

    Scholz wirbt für die Beibehaltung des Status quo: für eine 25,1-Prozent-Beteiligung der Stadt Hamburg an den Strom-, Gas- und Fernwärmenetzen. Diese Beteiligung hatte der Bürgermeister gleich zu Beginn seiner Amtszeit mit den Stromkonzernen ausgehandelt. 543 Millionen Euro kostete der Megadeal. Dafür habe die Stadt aber weitaus mehr herausgeholt als eine einfache Beteiligung, erklärt SPD-Fraktionschef Andreas Dressel:

    "Wir haben Mitsprache im Bereich der Erzeugung für die Stadt erreicht. Jede Sache, die in Hamburg verbrannt wird in einem Kraftwerk, muss mit uns abgestimmt werden. Wir haben 160 Blockheizkraftwerke, die zum Beispiel E.ON Hanse in Hamburg baut, wir haben in Speichertechnologien Investitionen erreicht. Das heißt: Das ist ja gerade unser strategischer Hebel: Einfluss zu gewinnen auf die Erzeugung, denn da spielt für die Energiewende die Musik!"

    Ein Teil der Verträge zwischen den Energiekonzernen und der Stadt ist auch die Zusage der Unternehmen, in den kommenden Jahren 1,6 Milliarden Euro zu investieren. In neue Kraftwerke, in Speicher oder Pilotprojekte für moderne Stromnetze. Zusätzlich bekommt die Stadt eine garantierte Rendite aus dem Betrieb der Energienetze. Die Rückabwicklung dieser Verträge wäre ein Desaster, prognostiziert SPD-Mann Dressel:

    "Wenn man alles kauft, dann gibt es niemanden, der einem etwas garantiert. Weder irgendein Konzern, noch die Bundesnetzagentur, noch die Kunden, noch die Versorger - niemand garantiert es einem!"

    Nur die Gegenseite habe das noch nicht begriffen, schimpft Dressel:

    "Es bleibt dann an vielen Stellen leider 'unsachliches Getöse' übrig."

    Und zu diesem Getöse kommt dann noch die millionenschwere Werbekampagne von Vattenfall. Die wunderschön gefilmten Kinospots sind eine Hommage an die Stadt, an den Hafen, die Menschen und vor allem: an den Konzern und seine Partnerschaft mit der Stadt:

    "Mit Vattenfall als Partner für die Energiewende. Hamburg und Vattenfall! Gemeinsam für unsere Stadt!"

    Der "Partner für die Energiewende" ist das Unternehmen aber gerade nicht. Das kritisiert Manfred Braasch. Geschäftsführer des BUND Hamburg und treibende Kraft hinter der Initiative "Unser Hamburg - Unser Netz". 62.000 Unterschriften mussten die Aktivisten für die Zulassung des Volksentscheids sammeln. Zusammengekommen waren am Ende 114.000. Ein Grund für den Erfolg: das miese Image von Vattenfall. Nach schweren Störfällen in den mittlerweile abgeschalteten Atomkraftwerken Krümmel und Brunsbüttel habe der Konzern erfolglos versucht, die Ereignisse herunterzuspielen:

    "Wenn man sich Vattenfall anschaut, ist das ein Unternehmen, was die Bundesrepublik Deutschland verklagt hat wegen des Atomausstiegs, das weiterhin auf klimaschädlichen Braunkohle-Tagebau und Braunkohleverstromung in Ostdeutschland setzt und das in Deutschland 1.500 Arbeitsplätze abbaut."

    Vor allem aber setzt der schwedische Konzern immer noch auf konventionelle Großkraftwerke, auf zentrale Strom- und Fernwärmeproduktion. Manfred Braasch kann das nicht verstehen:

    "Bei der Fernwärme in Hamburg, die einen sehr großen Beitrag zum Klimaschutz leisten könnte, brauchen wir dezentrale Strukturen, brauchen wir die Einspeisung von erneuerbaren Energien und wir brauchen eine Marktöffnung für Dritte! All das wird mit dem jetzigen Senatsmodell nicht kommen."

    Niedrigere Strompreise durch einen Rückkauf verspricht Braasch allerdings nicht. Dafür aber eine schnellere Energiewende in Hamburg. Und finanzieren lässt sich der Rückkauf auch, da ist Braasch überzeugt. Immerhin ließe sich mit dem Betrieb der Energienetze Jahr für Jahr rund 100 Millionen Euro Gewinn machen. In zwanzig Jahren wäre der Kredit dann abbezahlt. - Sonntagabend, 22 Uhr, steht das Ergebnis des Volksentscheids fest. Klar ist schon jetzt: Es wird eine knappe Entscheidung: Die Rückkaufsgegner haben Boden gut gemacht. Rund vierzig Prozent der Wahlberechtigten wollen für, genauso viele gegen den Rückkauf stimmen. Und ab Montag kehrt dann wieder hanseatische Gelassenheit in die Bürgerschaft. Hoffentlich auf allen Seiten.

    "Ich finde das einen Skandal!" - "Was bleibt, ist Propaganda, Diffamierung und nach wie vor Suggestion und Unwahrheiten!" - "Keine Privatisierung der Fernwärme! Ja zu Bürger, zu Netzen ..." - "Herr Kerstan, Ihre Redezeit ist wirklich abgelaufen!" - "Ja zu den Netzen! Ja zu 100 Prozent für Hamburg!"