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Selbstanpassung und Gleichschaltung im Dritten Reich

Was im NS-Staat gedruckt wurde, entschied Propagandaminister Joseph Goebbels. Doch hinter den Kulissen tobte um die literaturpolitischen Hoheitsgewalt ein Kampf zwischen staatlichen und parteiamtlichen Bürokraten. Der NS-Forscher Jan-Pieter Barbianzeigt, was diese Machtspiele für Verlage, Verkäufer und die Produktion bedeuteten.

Von Florian Felix Weyh | 21.10.2010
    Die Versorgung war gesichert: 300 Wehrmachtsbuchhandlungen in den Kriegsgebieten, fahrende "Frontbuchwagen" und ein paar Motorkutter, voller Literatur, sorgten dafür, dass es im Zweiten Weltkrieg keinem Soldaten an Lektüre mangelte. Während die knappen Papierreserven Feldpostausgaben zugeteilt wurden, herrschte in der Heimat freilich eine Literaturmangelwirtschaft, deren Knappheit vom Überangebot an wenig nachgefragter Parteiliteratur konterkariert wurde. Dass die Frontlektüre, die man in der Heimat auch gerne genossen hätte ¬– Klassiker und Unterhaltungsromane – zum soldatischen Rezipienten fand, stand allerdings keineswegs fest. Vieles blieb irgendwo hängen oder wurde zerstört.

    "Aus der Perspektive der Gegenwart", schreibt Jan-Pieter Barbian, "lässt sich die NS-Diktatur als eine gigantische Verschwendung von Ressourcen bewerten, im Hinblick auf Menschen, Institutionen, materielle und ideelle Werte."

    Verschwendung durch totalitären Wahn – so lautet der Schlüssel zur 550-seitigen Monografie "Literaturpolitik im NS-Staat". Dass ein autoritäres Regime die Buchproduktion in seinem Sinne zu steuern versucht, ist keine Erfindung der Nazis. Papierkontingentierung, Publikationsverbote, Zensur gab es historisch schon lange vor ihnen. Aber dass die NS-Herrscher einen Hang zur aufgeblähten Bürokratie hatten, während sie zugleich die Funktionalität der Verwaltung unterliefen, indem sie Ämter und Stellen häufig unter Versorgungsgesichtspunkten schufen, ist in dieser Kombination einzigartig. Typischerweise erfolgten administrative Akte nicht aufgrund organisatorischer Erfordernisse, sondern entlang spezieller Klientelinteressen. So widmeten sich neben Goebbels zahllose andere Einrichtungen und Personen der Steuerung des Literaturbetriebs – Himmler wie Rosenberg, das Auswärtige Amt wie die Gestapo, die Parteileitung wie die Wehrmacht. Kompetenzgerangel, Reibungsverluste, Verbotsparadoxien, je nachdem, welche Stelle sich einmischte, erzeugten ein bedrohliches Wirrwarr, das schon für die Zeitgenossen schwer durchschaubar war.

    Im Allgemeinen gilt Joseph Goebbels als mächtigster Drahtzieher der Nazi-Medienmaschine, doch neben ihm war NS-Chefideologe Alfred Rosenberg kaum weniger einflussreich, obwohl sein "Hauptamt Schrifttum" eigentlich nur für den Bereich der Parteiliteratur zuständig sein sollte. Je stärker Partei und Staat miteinander verschmolzen, desto mehr wuchs die Macht des Parteiideologen, der damit Goebbels Propagandaapparat die Stirn bot. Denn Goebbels dachte "moderner" als Rosenberg. Für ihn war Propaganda feiner ziseliert als das, was in tumben Blut-und-Boden-Epen stand; er ließ auch schon mal hingehauchte Kritik von ansonsten linientreuen Schriftstellern als Schmuckwerk stehen, während sich Alfred Rosenberg, Autor des antisemitischen "Mythus des 20. Jahrhunderts" als Gralshüter der reinen Parteidoktrin ver¬stand. Dass eine vom Bombenkrieg gezeichnete Bevölkerung Unterhaltungsliteratur politischen Kampfschriften vorzog, verstand Goebbels durchaus; andere Drahtzieher der NS-Literaturpolitik empfanden diesen Umstand dagegen oft als Kränkung. Denn nicht wenige Mächtige auf dem literaturpolitischen Feld wirkten gleichzeitig als Autoren, waren mithin ökonomische Nutznießer ihrer eigenen Entscheidungen. Schon 1939 stellte der "Zentralverlag der NSDAP" das umsatzstärkste Unternehmen Deutschlands dar, größer als IG-Farben. Mit Druckerzeugnissen konnte man reich werden, und es ist ein offenes Geheimnis, dass mindestens ein Weltbuchkonzern von heute seinen Kapitalstamm im Dritten Reich durch die höchst lukrativen Feldpostausgaben erwarb. Ob sie nun den Weg an die Front fanden oder irgendwo in einem Waggon ausbrannten, war einerlei; der Staat bezahlte.

    Jan-Pieter Barbian ist ein extrem genauer, detailversessener Historiker, was die Lektüre angesichts zahlloser Namen und verschlungener Verwaltungskonstruktionen stellenweise zäh macht. Auch hätte er im spannendsten Teil des Buches ("Die Perspektive der Beherrschten") mehr aus dem Alltag berichten können; offen Quellen wie etwa die Tagebücher des Schriftstellers und evangelischen Kirchenlieddichters Jochen Klepper zeigen deutlich, wie sich ein Schriftstellerleben zwischen ökonomischen und ideologischen Zwängen anfühlte; bekanntlich beging Klepper 1942 Selbstmord. Doch insgesamt hat das Buch einen Erkenntniseffekt, den man so kaum erwartet: Es zeigt die zumindest partielle Vergeblichkeit totalitärer Literaturpolitik. Zwar vertrieb und ermordete das NS-Regime die wichtigsten Autoren, erzeugte unter den verbliebenen einen derart hohen Anpassungsdruck, dass kaum klare Worte mehr publiziert wurden, zwar brachte es Verlage, Bibliotheken und den Handel eminent rasch auf Linie – aber ihm gelang keine nachhaltige Gehirnwäsche der Leser. Nur wenige der vom Regime hoch geförderten Autoren, deren Namen wir heute zurecht nicht mehr kennen, brachten es zu Verkaufsbestsellern. Die verbotene, verbrannte, ausgemerzte Literatur nahtlos durch NS-Schwarten zu ersetzen, glückte in zwölf Jahren Literaturrepression kaum. Freilich kehrte diese Literatur nach Kriegsende in vielen Fällen auch nicht mehr in die Regale der Deutschen zurück; dieser Sieg der Nazis nach ihrem eigenen Untergang blieb nachhaltig.

    Auch in einem anderen Punkt verbuchte das Regime echte Erfolge: Dank einer trickreichen Kombination aus angeordneter 25%iger Buchpreissenkung und gleichzeitiger, sorgsam geheim gehaltener Subvention der Verleger gelang es den Nazis, den seit der Weltwirtschaftskrise darbenden Auslandsbuchmarkt ab 1935 wieder zu neuen Höhen zu führen. Vor allem wissenschaftliche Literatur wurde massenhaft exportiert – auch in Länder, die sonst keine Nazi-Produkte abnahmen. Diesem wichtigen Prestigeerfolg im Ausland steht freilich der triste Alltag im Inland gegenüber. Wo harmlose Ernährungsratgeber mit dem Titel "Warum magenkrank?" auf den Index gerieten, weil sich der "Reichsbauernführer" an einem Kapitel "Vom Gift in der Nahrung" stieß, agierte die Literaturpolitik nur als verlängerter Arm eines wichtigtuerischen Funktionärs. So resümiert Barbian denn auch, dass die unwiderlegbar bösartige Destruktivität der Nazi-Literaturpolitik kein schlüssiges Konzept besessen habe, weil er – in Anlehnung an Ernst Fraenkel – dem Nationalsozialismus keine eigene politische Theorie zubilligt. So gesehen ist der Titel "Literaturpolitik im Dritten Reich" sogar ein wenig schief: Es handelte sich um reine Willkürherrschaft.

    Jan-Pieter Barbian: "Literaturpolitik im NS-Staat", S. Fischer.