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Selbstbegegnungen im Lesen und Schreiben

1933 stirbt in Palermo Raymond Roussel, dessen Hauptwerk "Locus Solus" die Surrealisten begeisterte. Neben dem Toten sitzt ein namenloser "Blutsauger". Das ist der Ausgangspunkt in Jochen Beyses kunstvoller Erzählung, die um die Existenz eines Schriftstellers von heute kreist.

Von Joachim Büthe | 30.01.2013
    Am Abend des 13. Juli 1933 stirbt in Palermo der Schriftsteller Raymond Roussel, dessen Hauptwerk "Locus Solus" nicht nur die Surrealisten begeisterte, sondern dessen Nachwirkungen bei Künstlern und Schriftstellern bis heute zu spüren sind: Auf der Suche nach dem, was nicht ist. Das ist der Ausgangspunkt in Jochen Beyses Erzählung, und man begegnet den Personen, die damals anwesend waren ebenso wie Figuren, die hätten anwesend sein können. Derjenige aber, durch dessen Augen wir die Szenerie betrachten, war garantiert nicht vor Ort. Es ist ein sehr kultivierter, elitärer Vampir.

    "Der Durst ist unerbittlich. Ein Biss, ein kurzes Schlucken, das reicht nicht. Am Ende bleibt der Hunger nach Leben ungestillt, der Durst nach Wissen sowieso. Er hört nie auf. Einer schönen Seele ginge es anders. Die hätte so viel Frieden genossen, dass es für alle Ewigkeit vorbei wäre mit der Lust auf funkelnde Gedanken. Noch etwas: Die Verhältnisse haben sich geändert. Früher sprachen selbst Tote ein ungetrübtes Nachwort auf die Zeit, heute fault bereits der Geist der Lebenden. Er meldet sich im Schatten eines Winkels, und schon steigt einem der Ekel hoch."

    Welcher Zeit diese pessimistische Diagnose gilt, 1933 oder der Gegenwart, mag offen bleiben, denn der namenlose Blutsauger von Palermo verschmilzt immer mehr mit dem, der ihn erfunden hat. Was mit kurzen, reflexiven Einschüben des Autors beginnt, wird zusehends raumgreifender, bis der Wechsel zwischen den Zeitebenen so elegant und fließend verläuft, dass man ihn kaum noch bemerkt. Wenn also der Vampir mit der Vertrauten von Raymond Roussel literarische Fragen diskutiert, so kann sich der Autor hinter der ihm so nahen Figur zwar verstecken, aber nicht hinter ihr verschwinden.

    "Was den Glauben an Blutsauger angeht, soll man sich nicht lächerlich machen. Es gibt keine. Allerdings gibt es immer wieder Existenzen, die nicht ohne Weiteres sterben können. Aber wer kann schon ohne Weiteres sterben. Jeder, der einfach nur erzählt, was ihm passiert ist, schleppt sich durch den Riesenbau der Geschichte. Vorbei an Triumphbögen, Marterpfählen, stinkigen Kloaken. Und immer unter den Augen unvergänglicher Autoren. Wer annimmt, er könne dem großen Zusammenhang entgehen, läuft in die Irre."

    So atmosphärisch dicht Beyse das Palermo des Jahres 1933 und seines "Grand Hotel delle Palme", in dem Roussel seine letzten Tage verbringt, erstehen lässt, so deutlich ist diese Erzählung auch eine Erzählung von Lektüren. Das betrifft nicht nur die ebenso präzise – kühlen wie fantastischen Konstruktionen von Roussel, sondern auch literarische Feuerköpfe wie Céline und Wyndham Lewis. Hinzu kommen Onetti und Otto Weininger, allesamt Autoren, bei denen die Gemütlichkeit aufhört und mit Verstörungen zu rechnen ist. "Eine kurze Geschichte des Schreibens" erwähnt Beyse als Alternativtitel dieser Erzählung, und eine kurze Geschichte seines Schreibens ist sie mit Sicherheit, wenn auch keine widerspruchsfreie Poetik. Ausgerechnet die Vertraute Roussels, der die Realität nie an sich herankommen lassen musste, preist Céline. Eine Theorie des Erzählens liefert Beyse nicht.

    "Das habe ich gemeint, als ich sagte, das Leben wäre nie tiefer zu mir vorgedrungen als in dieser Nacht. Jetzt, wo ich die Szene beschrieben habe und die eigenen Sätze lesen kann, lässt sich der Augenblick auf spielerische Art verlängern und mit dem Wissen von heute noch intensiver nacherleben: Nur dazu ist das Schreiben gut. Andere haben wohlbegründete Ideen und scharfsinnige Theorien über das Schreiben oder weihen es mit feierlichen Redeweisen, um den Geist der Erzählung zu beschwören usw. Aber es gibt keinen Geist der Erzählung. Unsinn ist das, und ein eitler dazu."

    Ein hochfahrender Vampir, der sich um seine immer weniger Geist enthaltende Nahrung sorgt und ein Autor, der den kühlen Geist Roussels in Palermo für die Nebelbildung in Berlin verantwortlich macht und sich von dem, was andere das Leben nennen, angezogen und abgestoßen fühlt, letzteres vermutlich ein bisschen mehr. Einer, der ein umfangreiches, unterbewertetes Werk vorzuweisen hat und sich Rechenschaft ablegt, warum er fortfährt zu schreiben, unterwegs im Riesenbau der Geschichte.

    "Irgendwann wird aus den fremden Stimmen der Klang der eigenen entstanden sein, ein unverwechselbarer Rhythmus im Denken und Schreiben. Dass die Gedankensaugerei endlich aufhören kann und man sich satt das Maul wischt. So geht die Zeit dahin, und keinen interessiert's. Wunderbar eigentlich. Jeder wahre Kampf wird im Geheimen ausgefochten, Schaukämpfe sind Betrug."

    Es ist ein hochreflexives Vergnügen, der Stimme von Jochen Beyse zu lauschen, und es müssen sich doch Leser finden lassen, die es bemerken, schon um sein Selbstbild durcheinanderzubringen. Die meisten seiner Bücher sind vergriffen, aber im Antiquariat gut auffindbar. Bitte suchen! Und wenn es stimmt, wie in Palermo 1933 nachzulesen, dass in seiner Schublade eine Übersetzung von Wyndham Lewis' "Apes of God" ruht, dann möchte ich sie bitte möglichst schnell im Druck sehen.

    Jochen Beyse: Palermo 1933.
    Erzählung
    Verlag diaphanes, Broschur, Zürich 2012, 158 Seiten, 14,95 Euro