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Selbstbehauptung für Senioren
Bloß nicht leise und schüchtern auftreten

Auch wenn es in den Kriminalstatistiken keine Belege dafür gibt, viele ältere Menschen fühlen sich unsicher, wenn sie rausgehen. Wie Senioren wieder selbstbewusster auftreten können, vermitteln Unternehmen wie das Beratungs- und Trainingszentrum "Millimetertraining".

Von Mirko Smiljanic | 06.01.2017
    Vier Senioren gehen im Herbst auf der Bodenseeinsel Mainau spazieren.
    Vier Senioren gehen auf der Bodenseeinsel Mainau spazieren. Ältere Menschen fühlen sich abends aber oft nicht mehr sicher. Coaching kann da helfen. (picture-alliance / Patrick Seeger)
    Für Sicherheit auf der Straße sorgt die Polizei. Für die Erziehung der Kinder sorgen die Eltern, und für eine angenehme Lernatmosphäre die Schule. So wäre es ideal. Tatsächlich aber fühlen sich viele Menschen von Kriminalität bedroht, scheitern Eltern an der Erziehung und Lehrer daran, in ihren Klassen Gewaltausbrüche und Mobbing zu verhindern. Und auch wenn es in der Realität dann doch meist viel harmloser zugeht – subjektiv haben viele Menschen den Eindruck, dass es überall Mängel gibt – bei den staatlichen Institutionen und im Privaten. Aus den Mängeln ist an vielen Orten eine Geschäftsidee entstanden. "Das Firmenporträt" blickt in einer Serie auf die Reparaturbetriebe der Gesellschaft.

    Gemeindesaal der Evangelischen Emmaus-Kirche Köln, ein früher Herbstnachmittag. Zwölf Frauen sitzen sich im Kreis gegenüber, ihr Durchschnittsalter liegt jenseits der 70. "Selbstbehauptung für Senioren" steht heute auf dem Programm.
    "Haben wir so kleine Sachen, die wir sagen können, zum Beispiel ein Wort wie Halt, Stopp. Sollen wir mal ein Stopp nehmen?", fragt Catrin Wagner, Gründerin und Chefin des Kölner Beratungs- und Trainingszentrum "Millimetertraining" in die Runde.
    "Ich möchte gar nicht, dass Sie das auf der Straße nutzen", erklärt Wagner, "aber ich möchte mal, dass Sie ein lautes Wort haben. Bei drei rufen wir mal ein ganz deutliches, lautes Stopp. Okay, eins, zwei, drei – Stopp!"
    Stimmübungen als Voraussetzung, um sich im Alltag bemerkbar zu machen. Bloß nicht leise und schüchtern auftreten, Selbstbehauptung erfordert eine laute und kräftige Präsens. Und auf´s Neue: "Eins, zwei, drei,... Stopp!"
    "Man wird weniger mutig"
    Selbstbehauptung brauchen und suchen alle Seniorinnen, die sich für diesen Kurs angemeldet haben. Eine von Ihnen beschreibt: "Weil ich immer unsicherer werde, wenn ich über die Straße gehe oder durch den dunklen Park. Man denkt, man wird mutiger, aber man wird weniger mutig."
    Kursleiterin Wagner ergänzt: "Es ist eine Überlegung, dass ältere Menschen sich zum Teil gar nicht mehr raustrauen abends, wenn es beispielsweise dunkel ist, dass sie zum Teil mehr Ängste haben, was Sie uns auch selber sagen, und unser Ansatz ist es, wie kann ich auch ältere Menschen stärken, dass sie sich ihrer Stärken bewusst sind, ihrer Ressourcen bewusst sind, um sich auch wieder rauszutrauen."
    Catrin Wagner, Ende 40, zierlich, durchtrainiert, hat 1998 mit "Millimetertraining" eine der frühen Firmen auf dem Gebiet des sozialen Trainings gegründet. In den ersten Jahren hatte sie ausschließliche Jugendliche im Visier, heute bieten sie und ihre sechs Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Beratung, Training und Fortbildung für alle Altersgruppen und Problemfelder an: vom Kampf gegen Mobbing in Schulklassen, über Antiaggressionstrainings mit gewaltbereiten jungen Männern bis hin zur Selbstbehauptung verunsicherter Senioren. Den Firmennamen habe sie gewählt, um eines von vornherein klar zu machen: Wer rasch große Erfolge erwartet, wird enttäuscht, räumt sie ein. Der Name sei "wirklich aus unserer Arbeit entstanden, dass wir gemerkt haben, dass unsere Arbeit häufig in Millimeterschritten geschieht, das heißt, Verhaltensänderung geschieht nicht von jetzt auf gleich, sondern in ganz, ganz kleinen Schritten."
    Kriminalstatistik: Senioren werden selten überfallen
    Und weiter wird geübt in der Runde: "Okay, jetzt sagen wir mal einen ganzen Satz: Lassen Sie mich in Ruhe! Der ist zwar schon sehr lang, aber wir gucken mal, wie der kommt und ob wir den laut und deutlich sprechen können, eins, zwei, drei: Lassen Sie mich in Ruhe!"
    Für diese Übung stehen die Seniorinnen auf, im Stehen lässt es sich leichter laut sprechen. Aggressive Übergriffe oder gar Überfälle hat übrigens bislang keine der Frauen erlebt, gesteht eine von ihnen: "Aber in meinem Alter weiß man ja nicht, was kommt. Aber ich denke immer, da soll mal einer kommen, dem werde ich entsprechend Kontra geben. Aber wenn der vielleicht zwei Meter groß ist, dann klappt das auch nicht so, mal eben mit Knie zwischen die Weichteile oder sonst was, was ich mir dann immer vornehme oder mit den Fingern in die Augen..."
    Ältere Menschen werden fühlen sich häufig unsicher und ängstlich, auch wenn die Kriminalstatistik ein eher beruhigendes Bild zeichnet: Senioren werden selten überfallen.
    "Dann kreisen wir den ganzen Tag um Köln"
    Aufträge bekommt "Millimetertraining" von Jugendämtern und Kirchengemeinden, von Schulen und Wohlfahrtsverbänden. Sobald Justizbehörden wie die Jugendgerichtshilfe im Spiel sind, ist es mit der Freiwilligkeit vorbei: Gerichte können gewaltbereite Männer und Frauen zum Besuch von Antiaggressionstrainings verpflichten. Knapp 50 Kurse pro Woche bietet Catrin Wagner an, kurzfristig gibt es kaum Termine: "Man kann gut davon leben, aber es ist schon ein hoher Aufwand, auch wie wir es betreiben, dass wir sehr viel reisen zu unserem Publikum, zu unseren Kunden hin, können Sie sich vorstellen, dass wir wirklich manchmal den ganzen Tag um Köln herum kreisen und sehr, sehr aufwendig arbeiten."
    Mittlerweile geht’s im Selbstbehauptungskurs für Senioren handfester zu. Zwei Stühle stehen nebeneinander. Auf dem einen sitzt eine der Damen, ihre Handtasche hat sie über die Lehne gehängt, auf dem anderen hat es sich Catrin Wagner bequem gemacht mit dem Ziel, die Handtasche zu stehlen. Eine der Kursteilnehmerinnen hat gelernt: "Pfoten weg! Pfoten weg! Verschwinde, aber ganz schnell, sonst rufe ich die Polizei!"
    Das kann auch noch etwas lauter sein, nächster Versuch: "Pfoten weg! Mach Dich vom Acker! Pfoten weg!" Das hört sich schon besser an. Lautstarke Abwehr – der Kurs applaudiert.