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Selbstentblößungen im Nirgendwo

Mit ihren Komödien "Kunst" und "Der Gott des Gemetzels" landete Yasmina Reza Welterfolge. Nun wurde ihr neues Stück in Berlin uraufgeführt. "Ihre Version des Spiels" ist eine Persiflage über den Literaturbetrieb und die Qual des Erfolgs. Stephan Kimmig macht daraus eine tragikomische Provinz-Orgie.

Von Karin Fischer | 03.10.2012
    Den Titel ihres Stücks hat Yasmina Reza bei dem amerikanischen Schriftsteller und Drehbuchautor Michael Herr geborgt, der in einem Buch über Las Vegas schreibt, es sei völlig uninteressant, wer gewinnt oder verliert, es komme einzig darauf an, wie man die Partie nacherzählt – "how you talk the game". Es gibt keine Realität, die nicht erzählt wird, das ist auch einer der Schlüsselsätze im Stück, das viele banale, aber auch einige wunderschöne, poetische, philosophische Sätze oder Zitate enthält über Autorschaft und Schreiben. Zum Beispiel den, dass ein Buch mit jedem Satz schwächer gemacht wird, den der Autor über es sagt.

    Tatsächlich hat Yasmina Reza, wie mit allen ihren Figuren, auch mit der Schriftstellerin Nathalie Oppenheim viel gemein: Sie gibt nicht viele Interviews, spricht nicht über Persönliches, absolviert nie den üblichen Lese-Zirkus. Jetzt aber hat Nathalie eine Einladung nach Vilan-en-Volène angenommen, wo sie auf den örtlichen Bibliothekar trifft und die Journalistin Rosanna, Star einer Talksendung, die nicht zufällig "Freunde meiner Nächte" heißt. Das Bühnen-Setting – drei kleine Tischchen, ein Stehpult – ist karg und sieht naturgemäß die Zuschauer als Zuhörer vor, außerdem wird Corinna Harfouchs Gesicht, wenn sie liest, in Großaufnahme auf eine Leinwand projiziert. Von Anfang an entwickelt diese Veranstaltung eine für derartige Anlässe ungewöhnliche Dynamik.

    Gastgeber Alexander Khuon als Bibliothekar, der selbst Gedichte schreibt und nach aufgeregter Einführung und vielen beschwörenden Gesten an die Lichtregie bewundernd an Nathalies Lippen hängt, entpuppt sich als sensitiver Intelligenzbolzen, ja als Seelenverwandter der Autorin. Katrin Wichmann als Journalistin hat etwas Inquisitorisches in der Stimme, einen dominanten Ton; sie versteckt ihre private Enthüllungs-Obsession hinter einem freundlich bis kritisch distanzierten Lächeln, während sie absichtlich Autorin und literarische Figur Gabrielle verwechselt, die ebenfalls Schriftstellerin ist und gerade ein Buch veröffentlich hat. Zunehmend herablassender im Ton wird Rosanne und Stephan Kimmig nutzt jede ihrer Fragen, zu Nathalies schriftstellerischen Glaubenssätzen, zu den Männern im Buch, zur feministischen Literatur, um die Erregtheitsspirale etwas höher zu schrauben.

    Corinna Harfouch als Nathalie Oppenheim ist ein Ereignis: Wie sie ebenso gelangweilt wie unsicher und zart, später zitternd vor Nervosität oder Wut, divenhaft oder hysterisch, kapriziös oder selbstbewusst, wirklich wütend oder sogar handgreiflich wird, als die Journalistin auf ihre Kindheit zu sprechen kommt - wie Corinna Harfouch nuanciert ungefähr 18 verschiedenen Temperamente an diesem Abend sichtbar macht, das ist jede Minute große Kunst. Bis zum Ende der Lesung hätte alles eine schöne Parabel über Seelenverwandtschaft, Eitelkeit und Macht im Leben und in der Kunst sein können, und wir hätten die Kammerspiele verlassen mit nur einem Wunsch: Dürfen wir bitte, geschätzte Yasmina Reza, bald auch noch den ganzen Thriller lesen?

    Doch unglücklicherweise gibt es einen zweiten Teil, in dem der Bürgermeister, Sven Lehmann gibt ihn mit unbegrenztem Selbstbewusstsein eines gebildeten Provinz-Napoleon, sich nach dem Empfang anbiedernd mit der Schriftstellerin vergleicht; der Bibliothekar, sturzbetrunken, über die ebenfalls sturzbetrunkene Nathalie herfällt und diese, das ist der stärkste Moment dieser emotionalen Überdruck-Veranstaltung, sozusagen als Rache aus seinem Gedichtband vorliest. Zuerst laut und überlegen lachend, dann leise und anerkennend, wie um Verzeihung bittend.

    Die Autorin Reza zeigt Nachtgestalten, die am Ende allein bleiben. Stephan Kimmig will herausarbeiten, wie dünn der Firnis der Zivilisation ist und wie nah an der Oberfläche das schmutzigere, gemeinere Leben lauert. Was im Text schön ausbalanciert ist, hat Stephan Kimmig im zweiten Teil zu einer tragikomischen Provinz-Orgie aufgeblasen, die so vermutlich noch nicht mal im weinseligen Frankreich stattfinden könnte. Très dommage!