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Selbstentlarvung des Totalitarismus

Der 1965 auf der Leipziger Dokumentarfilmwoche uraufgeführte sowjetische Film "Der gewöhnliche Faschismus", der den Nationalsozialismus als Alltagsphänomen, in seiner psychologischen Dimension zeigt und die Frage stellt, wie der ganz normale kleine Mann zum Faschisten werden kann, schlug damals wie eine Bombe ein.

Von Karla Hielscher | 12.11.2009
    Anderthalb Jahre lang hatten die Drehbuchautoren etwa zwei Millionen Meter Wochenschau- und Kulturfilmmaterials aus den 1945 von der Roten Armee konfiszierten Beständen des Reichsfilmarchivs gesichtet, den berühmten Spielfilmregisseur Michail Romm für das Projekt gewonnen und danach gemeinsam diesen bewegenden Dokumentarfilm mit seiner innovativen Filmästhetik geschaffen.

    Die differenzierte, tief nachdenkliche und auch mit komischen, satirischen und farcenhaften Elementen arbeitende Filmmontage mit ihrem verfremdenden Blick auf den Nationalsozialismus, der eine Selbstentlarvung des Systems bewirkt, wurde zu einem Schlüsselfilm der 60er-Jahre und löste eine breite internationale Diskussion aus.

    Nun endlich, über 40 Jahre später, liegt das damals von der sowjetischen Zensur verbotene Foto-Text-Buch zum Film im originalen, vom Regisseur selbst entworfenem Layout vor. In seiner erweiterten und wunderschön gestalteten deutschen Ausgabe tauchen die Filmbilder wie aus dem Dunkel des Kinosaals aus dem schwarzen Hintergrund der Druckseite auf. Sie gewinnen so filmische Dimensionen und bringen auch in der Buchform die erregende emotionale Aufgeladenheit dieses ungewöhnlichen Films zur Geltung.

    Dazu bietet das Buch hochinteressante Berichte und Dokumente zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte in der Sowjetunion, der DDR und in Westdeutschland. Es werden also drei historische Ebenen zusammengeführt: das Bildmaterial der Nazizeit, dessen künstlerische Bearbeitung in dem Film der 60er-Jahre und die heutige Sicht darauf. Entstanden ist ein einzigartiges Zeugnis verdichteter Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts.
    Dazu Maja Turowskaja, die Drehbuchautorin des Films:

    "Für mich sind in dieser deutschen Version zwei Dinge wichtig. Erstens: dieses Buch wurde gemacht als drei Phantomländer noch existierten. Es handelt von drei Ländern, die es nicht mehr gibt: Das Deutschland der Nazizeit, die Sowjetunion und die DDR. In diesem Buch sind gleichsam mehr oder weniger deutlich drei Phantomstaaten anwesend. Und das Zweite: Das ist das, was ich die Überprüfung der politischen Relativitätstheorie durch die Praxis nenne: Wie nämlich der Kalte Krieg die Rezeption ein und desselben Films völlig unterschiedlich gestaltet hat, abhängig von den Vorurteilen der jeweiligen Gesellschaft."

    Im Westdeutschland des Kalten Krieges konnte man sich einfach nicht vorstellen, dass aus der Sowjetunion etwas anderes als Kremlpropaganda kommen könne. Trotzdem hat man den Film schon 1968 im ARD-Fernsehen ausgestrahlt, wenn auch mit erklärenden Vorreden und Kommentaren und äußerst kontroversem Echo.

    In der DDR wurde der Film nach seinem großen Erfolg auf dem Leipziger Festival sehr bald per Anruf aus dem ZK abgesetzt und blieb bis zur Wende verboten. Er könne "im Hinblick auf einige äußere Erscheinungsformen ... fehl interpretiert werden" heißt es in einem im Archiv gefundenen Aktenvermerk.

    In der Sowjetunion sahen allein in den ersten Monaten 20 Millionen Menschen den Film, eine bis dahin noch nie da gewesene Zahl für einen Dokumentarfilm. Das geplante und druckfertige Werkbuch zum Film jedoch fiel der Zensur zum Opfer, und Michail Romm beklagte sich - nachdem er die verschiedenen Zensurinstanzen durchlaufen hatte - in einem Brief an Breschnew bitter darüber, dass ein antifaschistisches Buch in der Sowjetunion nicht erscheinen könne.
    "Der Zensor – und das kann sogar Suslow persönlich gewesen sein – das habe ich vergessen, der hat ihm Folgendes gesagt. Romm hatte argumentiert: Den Film haben Millionen Menschen gesehen, das Buch werden höchstens ein paar Tausend aufschlagen. Welchen Sinn soll es dann haben, es zu verbieten. Daraufhin sagte der Zensor zu ihm: Millionen haben den Film gesehen und wieder vergessen, aber die Tausende werden das Buch aufschlagen und nachzudenken beginnen!"
    Diese Angst vor "Fehlinterpretationen" und dem Nachdenken des Publikums hatte in der Tat seine Gründe. Denn dieser Film - montiert aus dem Dokumentarmaterial der Nazizeit mit dem Grundverfahren der kontrastierenden Gegenüberstellung unschuldiger Kindergesichter und hysterisch brüllender Menschenmengen, von nachdenklichen Einzelmenschen und in Reih' und Glied marschierenden militanten Massen, von den anklagenden Augen der Opfer und den brutalen Visagen der Täter – stellt eine Auseinandersetzung mit jedem totalitären System dar.

    Der Film handelt – wie es schon im Antrag an Mosfilm hieß - nicht "von der Geschichte des deutschen Faschismus", "sondern vom Faschismus als einem moralischen, ästhetischen und alltäglichen Phänomen". Der Film provoziert mit seinen Bildern von den grotesken Formen des Führerkults, von Massenaufmärschen und Militärparaden, von der ideologischen Dressur von Kleinkindern oder dem Besuch Hitlers auf Kunstausstellungen ganz von selbst den Vergleich mit dem Stalinismus.

    "Aber natürlich interessierte uns – als wir den Film machten – nicht nur das, was in Deutschland in den 30er-Jahren passiert war. Uns erregte auch die eigene Geschichte. Und was uns damals überraschte – wir wussten das nur so im Allgemeinen – das war die Ähnlichkeit auf Schritt und Tritt. Das war jedes Mal einfach wie ein Schlag. Für einen normalen Menschen, der damals gelebt hat, war der Moment der Ähnlichkeit einfach frappierend. Uns verblüffte diese Ähnlichkeit. Wir wollten nicht nur den deutschen Faschismus verstehen, sondern auch unser eigenes Leben ... "

    Und die Zuschauer in der Sowjetunion haben das durchaus verstanden.

    "Die Menschen haben begriffen, in welchem Maße das – ob man das wollte oder nicht - ähnlich war. Das merkte man, wenn im Kinosaal alle aufstöhnten und an die eigene Vergangenheit dachten. Und sie begannen zum ersten Mal über sich und ihre Geschichte nachzudenken. Und deshalb – wie seltsam das auch ist – wurde der Film in Russland am allerpersönlichsten aufgefasst, obwohl es nicht um Russland, nicht um den russischen Totalitarismus ging. In Russland wurde der Film gerade unter diesem Aspekt wahrgenommen, als Signal zu dem Versuch über sich selbst Klarheit zu gewinnen."

    Das beeindruckende Buch, das im Sonderforschungsbereich "Medien und kulturelle Kommunikation" in Köln entstand, ist mehr als eine Dokumentation über einen herausragenden Film. Es ist ein Buch über die Geschichte und das Ende der Epoche der Ideologien.


    "Der gewöhnliche Faschismus". Ein Werkbuch zum Film von Michail Romm,
    herausgegeben von Wolfgang Beilenhoff und Sabine Hänsgen unter Mitarbeit von Maja Turowskaja, Drehbuchautorin des Films, Berlin, vorwerk 8, 2009, 335 Seiten, 24 Euro.