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Selbstliebe oder Selbstzerstörung

Das Wort Kult meint Götterverehrung. Der Körper wird dabei für die Huldigung instrumentalisiert. Innerhalb des Körperkultes ist der Körper aber nicht nur Mittel, sondern auch Zweck des Kultes. Er selbst ist es, der geehrt, angebetet und manipuliert wird. Dies zeigen viele Formen in unserer Gesellschaft. Unsere vierteilige Serie "Körperkult" befasst sich damit.

Von Svenja Flaßpöhler | 31.01.2010
    In der dritten Folge hören Sie heute einen Essay von Svenja Flasspöhler über "Selbstliebe und Selbstzerstörung". Im Anschluss an ihre These, dass Schönheit nichts mehr Natürliches sei, befasst sich die Autorin mit der Frage, ob sich der künstliche geschönte Körper nicht letztendlich selber opfert. Anders gesprochen: Wo hört die Selbstliebe auf, fängt der Selbsthass an?

    Svenja Flasspöhler ist freie Publizistin. Neben ihren Hörfunk- beiträgen für den SWR und den Deutschlandfunk veröffentlicht sie unter anderem in der Zeitschrift "Psychologie heute" und im "Freitag". 2009 erschien ihr Buch "Mein Wille geschehe. Sterben in Zeiten der Freitodhilfe".

    "Während des Trinkens liebt er berückt von dem Reiz des erschauten
    Bilds einen leiblosen Wahn, was Welle ist, hält er für Körper,
    Staunt sich selber an; und reglos bleibt im gebanntem
    Blick wie ein Standbild er starr, das aus parischem Marmor gehauen."


    So heißt es in Ovids "Metamorphosen" über den tragischen Helden Narziss. Gebeugt über eine Quelle verzehrt sich der schöne Jüngling nach seinem perfekten alter ego, aber so sehr er es auch begehrt, er vermag es nicht zu erreichen, da es nur als 'Welle', als virtuelle Oberfläche existiert. Aus lauter Verzweiflung über seine ungestillte Sehnsucht geißelt sich Narziss zu Tode, sein Leib verschwindet und alles, was von ihm bleibt, ist eine Blume. Woran Narziss im antiken Mythos so kläglich scheitert, das scheint uns heute in einem immer stärkerem Maße zu gelingen: Mittels der Schönheitschirurgie wollen wir uns mit unserem idealen Körperbild vereinen, wir wollen uns identisch fühlen mit uns selbst, wollen ohne Makel sein, ohne Fehl und ohne die Spuren des Alters.

    Bis vor einigen Jahren schien es noch so, als würden nur Stars wie Michael Jackson oder Cher derart narzisstische Fantasien hegen. Doch mittlerweile steht fest: Die Schönheits-OP ist längst angekommen in der Mitte der Gesellschaft. "Schönheitschirurgie ist eine Zivilisationserscheinung wie das Internet", so sagte Werner Mang, einer der berühmtesten deutschen Schönheitschirurgen im Sommer 2005 und setzte hinzu, dass seine Hauptkundin die Hausfrau von nebenan sei, die sich ein Facelifting gönnt und dafür auf den Urlaub verzichtet. Allein in Deutschland lassen sich jährlich eine halbe Million Frauen und Männer aus kosmetischen Gründen operieren, die Zahl ästhetischer Eingriffe wie etwa Fettabsaugen, Nasenoperationen, Schamlippenveränderungen oder Brustvergrößerungen steigt stetig und der Faltenkiller Botox erzielt weltweit Rekordumsätze. Die Zeit, in der man über künstliche Nasen und Brüste frank und frei polemisieren konnte, scheint also tatsächlich vorbei zu sein.

    Werden wir die Schönheitschirurgie schon bald genauso als Teil des Lebens akzeptieren wie das Internet? Verurteilen wir die modernen Mühen des Schönseinwollens womöglich einfach nur deshalb, weil es technischere und effektivere Mühen sind als früher? Liegt der kategorischen Ablehnung schönheitschirurgischer Eingriffe nur krudester Kulturkonservatismus zugrunde? In ihrem Artikel Schnitt für Schnitt, der 2008 im Magazin der Süddeutschen Zeitung erschien, vertritt die Autorin Birgit Schmid genau diese Ansicht:

    "Obwohl im Detail oder großumfänglich jede und jeder Hand an sich legt, um sich zu verschönern: Spätestens beim Wie und wie viel wissen alle, was richtig und falsch ist. Man verurteilt es – wenn nicht offen, dann insgeheim - sollte jemand größeren ästhetischen Aufwand betreiben. Es gibt eine moralisch-ethische Grenze, die schnell so empfindlich berührt ist wie ein freigelegter Zahnhals: Nicht von Schönheitsstreben, sondern von Schönheitswahn und Körperkult ist dann die Rede, von denen die postmodernen Gesellschaften befallen seien. Man braucht wertende Begriffe, die eindeutig negativ sind und die Gegenwart als narzisstisch und oberflächlich bezeichnen. "Körperkult" kritisiert, dass der Körper anstelle der Religion zur sinnstiftenden Instanz geworden ist. In dem Wort schwingt mit, dass wir uns von der unverfälschten, guten Natur entfernt haben. Natürliche Schönheit wird zur Antithese des Körperkults. Es ist moralisch besser, Körbchengröße AA oder eine Knolle im Gesicht zu haben als Brüste wie Katie Price oder eine Nase wie Michael Jackson."

    Das ist natürlich starker Tobak und ruft sogleich Widerspruch hervor. Ist eine künstliche Nase, und vor allem die von Michael Jackson, etwa nicht verurteilenswert? Und ja, natürlich ist es besser, kleine Brüste zu haben als künstlich aufgepumpte! Aber, so fragt Birgit Schmid: Warum eigentlich? Beruht die moralische Empörung über die Künstlichkeit moderner Schönheit wirklich auf Argumenten oder nicht vielleicht doch nur auf reiner Ideologie? Was ist dagegen einzuwenden, wenn Menschen sich für eine neue Nase entscheiden, weil sie unter der alten gelitten haben? Ist es nicht besser und vor allem glücksversprechender, sich einmal unters Messer zu legen, als jeden Morgen aufs Neue missmutig in den Spiegel zu schauen?

    Anstatt ein Leben lang unter abstehenden Ohren zu leiden, nimmt der moderne Mensch sein Schicksal selbst in die Hand, ein paar Schnitte, und schon ist der Missmut von gestern. Das mache, meint Birgit Schmid, durchaus auch evolutionsbiologisch Sinn, denn schließlich ist die Schönheit selbst im Tierreich eine Überlebenstechnik:

    "Die sexuellen Ornamente, welche die Spezies im Laufe der Evolution ausgebildet haben, im Tierreich als anschaulichstes Beispiel das unpraktische Pfauenrad, hatten keine andere Funktion, als schneller einen sexuellen Partner zu bekommen und sich fortzupflanzen ... Die Macht der Schönheit beruh[t] seit Urzeiten auf einem ihrer Wahrnehmung eingeschriebenen Versprechen. Es lautet: bessere Partnerchancen, leichteres Berufsleben, höheres soziales Prestige".

    Nun hat ein schönheitsoperierter Körper zwar mit evolutionsbiologischer Natürlichkeit nichts mehr zu tun – aber ist die menschliche Schönheit nicht seit jeher künstlich? Und wird sie nicht auch seit jeher mit größtem Aufwand betrieben? "Wer schön sein will, muss leiden", so heißt es ja schließlich – und dieses Sprichwort gilt doch offensichtlich nicht erst seit Erfindung der Schönheitschirurgie. Tatsächlich hat es ja in jeder Epoche bestimmte Schönheitsideale gegeben, Ideale, die man genau wie heute um jeden Preis erfüllen wollte und die nur zu erfüllen waren, wenn man wie auch immer geartete Eingriffe am Körper vornahm. Birgit Schmid schreibt:

    "Die Sehnsucht, attraktiv zu sein und gemäß dem jeweiligen Ideal perfekt auszusehen, der Wunsch, hängende Mundwinkel anzuheben, fehlende Brüste existent zu machen, lässt sich nicht als 'Zeitgeist' abtun. Der Mensch formt und stylt sich seit je. ... Nicht zufällig ist "Kosmetik", die Kunst des Schmückens, ein altgriechisches Wort und bedeutet, dass man dank der Schönheitspflege in Einklang mit sich und der Welt lebt. Der Körper wird geschmückt, gefärbt, zurückgestutzt, abgeschuppt, gedehnt, geritzt – in jeder Kultur, zu allen Zeiten."

    Nun mag man einwenden, dass es doch durchaus etwas anderes ist, ob man sich, sagen wir, Falten überpudert oder mit Botox aufspritzen lässt. Und zwar schon allein deshalb, weil das Überpudern ungefährlich, das Aufspritzen hingegen mit erheblichen Risiken verbunden ist. Botox ist eigentlich ein Medikament gegen Muskelkrämpfe und zählt zu den giftigsten Substanzen überhaupt. Zwei Kilogramm des hochpotenten Nervengiftes reichen angeblich aus, um die gesamte Menschheit zu töten, und wenn das Mittel falsch oder in einer zu hohen Dosis injiziert wird, kommt es zu Atem- und Schluckbeschwerden sowie zu einer Erschlaffung der Gesichtszüge. Aber wer wollte behaupten, dass nicht auch die Menschen früherer Epochen mitunter auf brutalste Weise in den Körper eingriffen? Bereits die Römerinnen, so berichtet Schmid in ihrem Artikel, träufelten sich Tollkirschsaft in die Augen, um große und glänzende Pupillen zu haben, im 17. Jahrhundert schnürten sich die Frauen mit Miedern die Luft ab und in der Spätromantik nahmen sie Essig zu sich oder durchwachten die Nächte, um blass und interessant zu wirken.

    Manchmal verwendeten sie für diesen Effekt auch Bleiweiß, das hochgiftig ist und nicht selten Narben im Gesicht hinterließ. Und was ist mit den Lotusfüßen in China, die dort Jahrhunderte lang als weibliches Schönheitsideal galten? Man brach den Frauen das Fußgewölbe und band dann die Füße fest ein, um ihr Wachstum zu verhindern. Gefragt wurden die Frauen natürlich nicht, genauso wenig wie die Padaung-Frauen in Burma, denen man noch heute mit Messingspiralen den Hals so extrem verlängert, dass sie ihn selbstständig gar nicht mehr halten können. Der lange Hals ist beim Volk der Padaung nicht nur ein weibliches Schönheitsideal, sondern zeigt traditionell auch die Stellung der Trägerin im Dorf an.

    Aber wird der Eingriff dadurch respektabler? Ist ein Eingriff im Dienste einer Tradition etwa moralisch gerechtfertigter als ein Eingriff in den Körper ohne Tradition? Sind die Eingriffe, die wir in westlichen Kulturen um der Schönheit willen vornehmen, im Vergleich zu jenen in traditionellen Kulturen nicht nachgerade human? Auf der Südseeinsel Samoa zum Beispiel, so ist im Katalog zur Ausstellung "Hautzeichen-Körperbilder" nachzulesen, die 2007 in Frankfurt gezeigt wurde – auf Samoa werden jungen Männern noch heute im Zuge eines Übergangsrituals vom Knie bis zur Hüfte dicht an dicht Zeichen in die Haut geritzt, und das unter den größten Qualen und mit immensem Blutverlust.

    Auf Neuguinea fügt man sechzehn Jahre alten Jungen bis zu 2000 Schnitte am ganzen Körper mit einem Rasiermesser zu, um das 'Krokodil' zu ehren, das dem dortigen Glauben zufolge der Ursprung des Lebens ist. Und bei den brasilianischen Kayapó-Indianern sticht man einem neugeborenen Jungen schon nach wenigen Tagen ein Loch in die Unterlippe. Mit den Jahren wird das Loch vergrößert, und wenn der Junge das Heiratsalter erreicht hat, setzt man ihm eine sogenannte Lippenscheibe ein, die so groß ist wie eine Untertasse und die Redekunst ihres Trägers symbolisieren soll. Und was ist dagegen eine kleine Lippenkorrektur beim Schönheitschirurgen? Ist es im Vergleich zu den Ritualen in traditionellen Gemeinschaften nicht geradezu lächerlich, dass wir hierzulande von einem Körperkult sprechen? Und zwar nicht nur, weil die Eingriffe vergleichsweise harmlos sind, sondern auch, weil wir uns ja immerhin entscheiden können, ob wir sie vornehmen lassen wollen oder auch nicht? So schreibt Birgit Schmid:

    "Das moderne Schönheitsstreben basiert zumindest auf Freiwilligkeit. Es sind erwachsene Menschen, die es selbst verantworten, wenn der Busen nach dem Eingriff höllisch weh tut oder nach einer Pfuscherei Schlauchbootlippen das Gesicht verunstalten."

    Soweit die Argumentation Birgit Schmids, die zumindest in diesem letzten Punkt ohne Zweifel zutreffend ist: Ja, wir sind tatsächlich frei, uns für oder gegen schönheitschirurgische Eingriffe zu entscheiden. Niemand zwingt uns dazu, dass wir uns um der Schönheit willen unters Messer legen, wir können tun und lassen, was wir wollen. Was Schmid allerdings übersieht, ist, dass wir heute sogar so frei sind wie noch niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit. Nicht nur sind wir frei, uns einer Operation zu unterziehen oder auch nicht, sondern es ist uns auch quer durch alle Gesellschaftsschichten möglich, uns den Körper zu geben, den wir haben wollen. Flatrate-Fitnessen, Shoppen, Wellness, Sonnenstudio, Schönheitschirurgie – noch nie gab es so viele Möglichkeiten, den eigenen Körper zu trimmen, zu formen, zu schmücken, zu pflegen.

    Insofern hat Schmid schlichtweg unrecht, wenn sie uns mit früheren Epochen vergleicht. Während die Schönheit in vorangegangenen Jahrhunderten ein Luxus und daher nur einigen wenigen vorbehalten war, steht sie heute allen offen. Und genau diese Freiheit, so möchte dieser Essay zeigen, ist äußerst zweischneidig. Gerade weil ich so frei bin, 'alles aus mir zu machen', wie man so schön sagt, bin ich ständig in Gefahr, genauso kläglich im Selbsthass unter zu gehen wie Narziss im antiken Mythos. Diese tiefe Dialektik der Freiheit gilt es im Folgenden zu durchdringen, eine Dialektik, die geradezu sträflich ausgeblendet wird, wenn man in der Zunahme an Möglichkeiten lediglich das Positive, nämlich die Seite des Fortschritts sieht. Was heißt es, dass heute jeder Mensch schön sein kann? Und zwar so schön, wie er will?

    "Der Mensch ist heute nicht nur seines eigenen Glückes, sondern auch seiner körperlichen Erscheinung Schmied. Kosmetika, Diät-Bücher, Fitness- Programme und Anti-Aging sind Teil des kulturellen Angebots, um dieser Aufgabe gerecht zu werden. Die wirkungsvollste Möglichkeit, den menschlichen Körper zum Idealkörper umzustilisieren, wird aber durch die plastische Chirurgie offeriert, die dafür eine Vielfalt von Techniken bereithält. Dazu gehören Botox-Injektionen, Haartransplantationen, Face-Lifting, Fettabsaugung und Brustvergrößerung, um nur einige zu nennen, und immer mehr Menschen sind bereit, davon Gebrauch zu machen und sich um der Schönheit willen buchstäblich 'unters Messer' zu legen."

    So schreibt die Psychoanalytikerin Christa Rohde-Dachser in der Zeitschrift "Psyche". Die dialektische Kehrseite der Möglichkeit, schön sein zu können, ist also offensichtlich die ständige Verpflichtung, auch schön sein zu müssen. Wie sagt man? "Ich muss mal wieder etwas für mich tun!" Was sich wie liebevolle Selbstfürsorge anhört, ist gleichzeitig ein innerer Vorwurf: "Du vernachlässigst dich! Du machst nichts aus dir!" Und wenn der Mensch seiner eigenen Erscheinung Schmied ist, wie Rohde-Dachser schreibt – woher weiß er, wann er genug geschmiedet, wann er genug an seinem Körper gearbeitet hat? Gibt es überhaupt ein 'Genug' angesichts der Möglichkeiten, die zur Verfügung stehen? Ich kann immer noch ein Gramm abnehmen, immer noch eine Bauchfalte straffen, immer noch mehr konsumieren, und ich bin doch nie so schön, wie ich sein könnte. In ihrem Buch "Wir sind schön" schreibt Christiane Zschirnt:

    "Unser Problem ist nicht, dass wir zum Schönsein versklavt werden. Unser Problem ist eher: Wir stehen vor grenzenloser Freiheit. Wir blicken auf ein Meer von Möglichkeiten. Jede neue Creme, jede neue Jeans ist ein Versprechen: Das könntest auch du sein. Auch Du könntest jung wirken, sexy Schuhe tragen, blonde Haare haben, dünn sein, größere Brüste haben, weiblicher wirken, reich aussehen. Du musst nicht so aussehen, wie du aussiehst! Du kannst dies sein! Du kannst das sein! Du musst dich nur entscheiden: kauf mich! Und handle jetzt: Investiere etwas mehr Zeit in deine Haare! Denke an deine Falten! Vergiss Deine Problemzonen nicht!"

    In der Konsumkultur ist die Schönheit ein kategorischer Imperativ: "Sei schön!" Von diesem Imperativ werden wir im Spätkapitalismus regelrecht bedrängt, denn schließlich lebt diese Gesellschaftsform ganz maßgeblich davon, dass wir uns nie schön genug fühlen. 120 Milliarden Euro setzt die Schönheitsindustrie jährlich um, und weil nichts ertragreicher ist als ein gestörtes Selbstverhältnis, sehen wir uns ständig mit virtueller Perfektion konfrontiert. Der Mensch des 17., 18. und 19. Jahrhunderts – und auch diesen Unterschied übersieht Birgit Schmid in ihrem Text – lebte noch nicht in einer Welt der Bilder, die überall das zu erreichende Optimum vor Augen führen; ja, selbst im 20. Jahrhundert ließ sich kaum ahnen, welche Möglichkeiten der Bildverbreitung und vor allem auch der Bildbearbeitung heute existieren. Keinen einzigen Pickel, keine einzige Falte haben die Models in den Magazinen, weil die Bilder mit technischen Mitteln retouchiert wurden. Die Perfektion dieser Bilder stellt eine ständige Verheißung dar, die das konsumistische Begehren in Gang halten soll und gleichzeitig, gerade weil sie sich nie erfüllen kann, das eigene Minderwertigkeitsgefühl umso fester installiert.

    "Das ist vielleicht das grundlegende Paradox des modernen Körperhasses. Es ähnelt zunehmend dem Rennen zwischen Hase und Igel: Mit jeder neuen Methode, einen echten Körper zu formen, zu operieren oder zu verändern, hat die Bildbearbeitungstechnik schon wieder neue Wege gefunden, prominente Gesichter noch schöner, noch glamouröser, noch übermenschlicher zu gestalten. Der eigene Körper wird zum Feind, weil er sich nicht so stark formen lässt, wie wir es von ihm fordern. Und die Schuld daran suchen wir bei uns."

    So schrieb die Publizistin Michaela Haas im Juli 2009 in einer Ausgabe des Magazins der "Süddeutschen Zeitung", das dem Thema Körperkult gewidmet war. "Völlig verkrampft", so lautete der Titel des Heftes, und auf dem Cover zu sehen war ein Knäuel verkeilter Arme: Der moderne Mensch im verzweifelten Kampf mit sich selbst, weil das Imaginäre, das er ersehnt, unerreichbar bleiben muss. Erinnert das nicht stark an den Mythos des Narziss? An Narziss, wie er verzweifelt sein perfektes alter ego zu umschlingen versucht? Tatsächlich scheint es, als hätten wir eben jene Sehnsucht, die Narziss in den Wahnsinn trieb, regelrecht zum gesellschaftlichen Prinzip erhoben. Indem wir unentwegt am eigenen Körper herumarbeiten, hoffen wir, das quälende Begehren endlich stillzustellen. Wir müssen nur, anders als der gescheiterte Narziss im Mythos, die ersehnte Perfektion tatsächlich erreichen! Wir müssen uns nur mit ihr vereinen! Wir müssen nur endlich so aussehen wie Madonna oder Angelina Jolie! Christa Rohde-Dachser schreibt:

    "In dem Maße, in dem der Mensch sich selbst mit seinem Schöpfer identifiziert, wächst ihm auch die Macht zu, seinen Körper nach seinem eigenen Wunsch zu formen. Der fantasierte Idealkörper wird dann zu einem erkorenen Objekt, das die Erfüllung des Begehrens verspricht, je ähnlicher man ihm wird ... Auf diesem Weg gibt es kein Erbarmen, auch nicht gegenüber dem eigenen Körper, dessen Schmerzen in Kauf genommen werden, weil sie der phantasmagorische Preis sind, der dafür gezahlt werden muss. Weil dieses Ziel aber außerhalb des Möglichen liegt, kann es auch durch eine Schönheitsoperation, welcher Art auch immer, nicht dauerhaft erreicht werden. Das bedeutet, dass der chirurgische Eingriff früher oder später wiederholt werden muss, in der vergeblichen Hoffnung, dass dieser der nunmehr endgültig letzte sein werde."

    Genau diese narzisstische Fantasie der Verschmelzung mit dem Ideal ist es, die in unserer Gesellschaft ununterbrochen genährt wird. Jedes dritte Mädchen hat mittlerweile Essstörungen, 40 Prozent aller Mädchen zwischen sechs und 16 Jahren würden sich Fett absaugen lassen, wenn sie könnten, jeder hundertste Deutsche ist fitnesssüchtig, in den USA sind es angeblich noch viel mehr, und dass auch die Chirurgie zur Sucht werden kann, hat sich am jüngst verstorbenen King of Pop eindrücklich gezeigt:

    Alle zwei Monate hat sich Michael Jackson zeitweise den unterschiedlichsten Operationen unterzogen, an Nase, Kinn, Wangen, Augen, immer wieder hat er seine Haut aufhellen lassen, bis er zuletzt nur noch eine Fratze war, eine traurige Parodie seiner selbst. Diese gesellschaftlich geförderte, ja geradezu geforderte Autoaggressivität relativiert das von Birgit Schmid vorgebrachte Argument, dass uns in unserer aufgeklärten Gesellschaft immerhin niemand zu körperlichen Leiden zwinge, ganz entschieden. Es stimmt zwar, dass mich kein Mensch zwingt; aber ich zwinge mich, und das ist im Grunde viel schlimmer.

    Wenn man unser modernes Verhältnis zum Körper vor dem Hintergrund der grassierenden Süchte betrachtet, dann sind wir im Grunde sogar unfreier als die Menschen in traditionellen Kulturen. Natürlich kann sich der Junge auf Neuguinea nicht gegen die Schnitte mit der Rasierklinge entscheiden, und es stimmt auch, dass die Rituale, die Menschen im Dienste einer kultischen Tradition über sich ergehen lassen müssen, außerordentlich schmerzhaft sind. Aber diese Schmerzen sind immerhin aufgehoben in tradierten, sinnstiftenden Erzählungen und in Zeremonien, die einen klar definierten Anfang und ein klar definiertes Ende haben. In unserer Kultur hingegen weiß der Mensch gerade nicht, wann es genug ist – denn statt einer sinnstiftenden Erzählung gibt es nur das utopische Heilsversprechen des perfekten Körpers. Christiane Zschirnt schreibt:

    "Noch nie wurde der bloßen Tatsache, im 'richtigen' Körper zu stecken, so viel Bedeutung verliehen. Nie zuvor galt ein perfekter Körper als Lösung aller Probleme. Er soll heute die Antwort auf Identitätskrisen, Leistungsschwächen, Selbstachtungsdefizite, Einsamkeit, Lieblosigkeit sein. All das wird verschwinden, so das große Versprechen, wenn wir erst im richtigen Körper stecken, dann kommen auch der richtige Partner, die richtigen Freunde, der richtige Job und das richtige Leben."

    Unaufhörlich kreisen wir um den Körper, weil er in unserer Kultur nicht lediglich ein Mittel darstellt, um eine Gottheit zu ehren, sondern Mittel und Zweck zugleich ist. Mehr denn je erhoffen wir uns von ihm allein unser Glück, denn alles andere ist Metaphysik, und die haben wir überwunden. Wenn der Körper schön, wenn er gesund, wenn er perfekt ist, dann, so lautet das radikalmaterialistische Heilsversprechen, lösen sich alle Identitätskrisen von selbst. Ich muss nur die hässliche Falte unterm Kinn loswerden und dann fängt mein Leben endlich an! Diese Vorstellung, die durch jede "Brigitte"-Diät genauso gespeist wird wie durch die Angebote der Schönheitschirurgie, ist nun aber im Grunde eine nachgerade mythische – denn warum sollte sich, bei Lichte betrachtet, mein gesamtes Leben nur aufgrund einer verschwundenen Falte ändern? Würde das nicht regelrecht an Zauberei grenzen? Tatsächlich ist die Vorstellung, dass der perfekte Körper das psychische Heil bringt, im Grunde nicht weniger abergläubisch als die kultische Götzenverehrung. Oder anders ausgedrückt: Den Grund für psychisches Elend einzig und allein im Körper zu suchen ist in einem ganz buchstäblichen Sinne zauberhaft einfach. Aus ihrer Erfahrung als Psychoanalytikerin erzählt Christa Rohde-Dachser den folgenden Fall:

    "Ich selbst erinnere mich aus meiner Tätigkeit an einer psychiatrischen Klinik an einen etwa 30-jährigen Patienten, von Beruf Rechtsanwalt, der vom Kieferchirurgen zur psychotherapeutischen Beratung geschickt worden war, weil er die feste Überzeugung hatte, mit einer operativen Korrektur des aus seiner Sicht zu markant ausgebildeten Kieferknochens in seiner Umgebung nicht mehr so aggressiv anzuecken, wie dies aus seiner Sicht derzeit der Fall war. Ich selbst konnte an dem Gesicht des Patienten nichts Auffälliges entdecken und versuchte, ihm diesen Eindruck auch mitzuteilen, allerdings umsonst. Der Patient war bis zum Schluss überzeugt, dass es nur seine Kieferknochen waren und nicht etwa seine aggressiven Gefühle, die zu den Schwierigkeiten mit seiner Umgebung führten. Ich konnte damals nichts anderes tun, als sowohl dem Patienten als auch dem Kieferchirurgen meine erheblichen Zweifel daran mitzuteilen. Später hörte ich zufällig, dass der Patient sich doch der Operation unterzogen hatte. Wie es ihm danach ging, habe ich nicht erfahren. Ich vermute aber sehr, dass seine psychischen Probleme damit nicht aus der Welt geschaffen werden konnten."

    Für Christa Rohde-Dachser liegt es auf der Hand, dass die Entscheidung für eine Schönheitsoperation in vielen Fällen aus einem unbearbeiteten inneren Konflikt resultiert. Ein Körperteil wird gewissermaßen als Opfer dargebracht, um sich subjektiv empfundener Schuld zu entledigen und auf diese Weise das Phantasma der idealen Welt aufrecht zu erhalten. Gestützt wird eine derartige Psychologik tagtäglich durch die Schönheitsindustrie, die den perfekten Körper moralisch auflädt: Wer eine glatte Haut, symmetrische Gesichtszüge und eine gute Figur hat, 'ist mit sich im Reinen' und ein besserer Mensch. Und einer Frau, die mit 50 noch so aussieht wie mit Mitte 30, attestiert man eine gelungene, vitale Existenz, während die, die so alt aussieht wie sie wirklich ist, sich verbraucht, verschleudert, vernachlässigt hat und bereits vom Tod gezeichnet ist.

    Dabei ist es ja in Wahrheit genau umgekehrt. Wer sich die Anzeichen seiner Vergänglichkeit wegoperieren lässt, flüchtet, so formuliert es Rohde-Dachser, "in einen narzisstischen Raum, in dem die Zeit still steht und Ende und Anfang ineinander übergehen". Ein solcher Raum mythischer Zeitlosigkeit kann aber letztlich nichts anderes sein als der Tod selbst. "Und reglos bleibt im gebanntem Blick wie ein Standbild er starr, das aus parischem Marmor gehauen", so heißt es bei Ovid. Die Angleichung an das Ideal ewiger Schönheit bedeutet also letzten Endes eine Angleichung ans Tote – und tatsächlich wirkt ja so manches schönheitsoperierte Gesicht wie eine Maske, der Zeit enthoben und im wahrsten Sinne des Wortes aufgesetzt. Doch Narzissten sind noch in einem anderen Sinne dem Tode zugewandt. Schließlich haben sie weder die Zeit noch die Energie, sich dem Leben zu widmen, weil sie ständig nur mit sich selbst beschäftigt sind. Oder um es mit Sigmund Freud zu sagen: Wer unentwegt narzisstisch um den Körper kreist, hat die Libido von der Außenwelt abgezogen. Der heutige Körperkult ist also im Grunde ein Kult der Asozialität: Gefeiert wird der unablässig mit sich selbst beschäftigte Mensch, der, obwohl er sich doch eigentlich für andere schön macht, so einsam ist, wie man nur sein kann. In ihrem Buch Tanz um die Lust schreibt Ariadne von Schirach:

    "Stellen wir uns doch mal vor, wir hätten es geschafft. Wir wären schlank und schön und lässig drauf, mit dem richtigen Haarschnitt, fittem Styling und einer exklusiven Duftnote. Wir wären hot. Sexy. Und weiter? Wir stehen optimiert bis zum Anschlag in irgendwelchen Clubs, Bars und Vernissagen – und dann gehen wir allein nach Hause ..."

    Auch das evolutionsbiologische Argument entpuppt sich vor diesem Hintergrund als haltlos: Indem wir schöner und schöner werden, sichern wir nicht unser Überleben, sondern eher unser Aussterben. Was also hat es auf sich mit unserem Wunsch nach vollkommener Schönheit? Liegt dem unstillbaren Verlangen nach Perfektion womöglich eine gigantische Todessehnsucht zugrunde? Arbeiten wir, indem wir den Körper zwanghaft optimieren, nicht tatsächlich gerade seinem Verschwinden entgegen?

    Möchten wir im Grunde, dass er vergeht wie der Leib des Narziss im Mythos? Schließlich ist unser Körper ja das Letzte, was uns daran hindert, wirklich frei zu sein! Und wird es ihn dann irgendwann geben, den plastischen Menschen? Oder flüchten wir uns früher oder später vollständig in die Virtualität des Cyberspace, in dem sich schon jetzt jede narzisstische Sehnsucht problemlos stillen lässt? Vielleicht ist der gegenwärtige Kult um den Körper tatsächlich die letzte Zuckung: Noch einmal bäumen wir uns auf und setzen alles daran, dem Körper Unsterblichkeit abzuringen, ohne zu merken, dass wir uns im Grunde schon lange von ihm verabschiedet haben.
    Popstar Michael Jackson betrachtet Unterlagen während seines Gerichtstermins
    Popstar Michael Jackson hat sich unterschiedlichsten Operationen unterzogen. (AP)
    Schminken will gelernt sein
    "Wir kreisen unaufhörlich um unseren Körper". (AP)