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Selbstmord auf Raten

Der Jurist Lukas Hammerstein erzählt in seinem Roman "Wo wirst du sein" die Geschichte einer Anarchistengruppe, die eine Bankerin entführt. Alles liefe auch nach Plan, wenn nicht plötzlich etwas dazwischen kommen würde: die Liebe.

Von Martin Lüdke | 23.06.2010
    Gut? Oder doch nur gut gemeint?
    Oder wenigstens gut gemacht?

    Lukas Hammerstein, ein gelernter Jurist, unterdessen auch etwas über 50 Jahre alt, präsentiert uns mit diesem Roman "Wo wirst du sein" eine neue Variante seines großen Themas, Sinn im Leben zu finden; im politisch-gesellschaftlichen Leben ebenso wie im privaten. In "Video", seinem vorherigen Roman, hatte sich ein Politiker umgebracht, und die Nachwelt rätselte daraufhin über sein filmisches Vermächtnis, eben das Video. Der neue Roman beschreibt fast so etwas wie einen Selbstmord auf Raten.

    "Irgendwann überkam Max das Gefühl, etwas im Leben falsch zu machen, genauer: alles."

    Es fängt bereits hoch dramatisch an, mit einer ordentlichen Entführung. Professionell organisiert, und, zunächst, ohne Panne über die Bühne gebracht.

    "Sie hatte sie nicht kommen sehen. Ihre Entführer. Eine Sekunde lang glaubte sie, die Männer, die zu beiden Seiten ihres Wagens auftauchten, die Türen aufrissen und ihren Namen riefen, gehörten zu einer Zivilstreife, dann begriff sie, dass etwas anderes geschah. Ein Wagen hatte sich quergestellt und versperrte den Weg. ( ... ) Dies war ein Überfall, und er galt nicht ihrem Wagen oder ihrer Kreditkarte, man hatte es auf sie abgesehen."

    Verständlicherweise. Denn sie, die Große Unbekannte, gilt als "Ikone" eines unzähmbaren Kapitals, obwohl – vielleicht auch, gerade weil sie ihr Gesicht verbirgt, öffentlich nicht in Erscheinung tritt. Das mag ein bisschen konstruiert erscheinen, aber deshalb glaubt die kleine Gruppe der Anarchisten, durch sie einen besonderen Coup landen zu können.
    Die Bankerin Lisa Locust sollte nämlich – wie seinerzeit Hanns-Martin Schleyer unter dem Signet der RAF und einem schäbigen Pappschild vor der Brust, "Seit zwanzig Tagen Gefangener der RAF" – auf analoge Weise öffentlich ausgestellt werden und damit auch, der alte RAF-Gedanke, die eigentliche Ohnmacht der Mächtigen plakativ vorführen.

    Das Ganze geschieht in naher Zukunft, ohne dass die Veränderungen im Einzelnen beschrieben würden.Ein einleuchtendes Konzept. Die weibliche Erscheinungsform eines Josef Ackermann, der bei seinen erstrebten Milliardengewinnen auch nicht nach der Sozialverträglichkeit seiner Strategien fragt, naturgemäß alle Moral und Humanität den Interessen des Geschäfts unterordnet, solche Arroganz der Macht einmal ganz klein zu zeigen, gedemütigt und ohnmächtig, das war, Fritz Teufel lässt grüßen, das war die Idee der Gruppe.

    Auf seinen seltsamen Lebenswegen war der bereits 50 Jahre alte, durchaus erfolgreiche Journalist Maximilian Klein, von Allen Max genannt, auf diese Leute gestoßen, die zum Teil seine Kinder hätten sein können. Er hatte auch die Idee, in seinem ehemaligen Elternhaus, das er einst selbst in eine Ruine verwandelt hatte, die Gefangene unterzubringen. Er hatte allerdings keine Idee davon, dass es sich bei dieser Lisa Locust um Lisa Pauly, seine Kinder- und Jugendfreundin, und genauer gesagt: um die große Liebe seines Lebens handelte.

    Als er den Raum betrat, in dem man sie festhielt, blickte sie kaum auf. Er hingegen erkannte sie sofort. Lisa. "Wenn das so ist.
    Wenn das so war, würde es nicht gut gehen. Ein Blick auf sie genügte ihm, um zu begreifen, dass etwas schief gelaufen war. Plötzlich war wieder alles anders, mit einem Mal wurde, was eben noch richtig, zwingend und logisch schien, falsch.

    Im Bruchteil einer Sekunde hatte er, der schon lange nichts mehr zu verlieren hatte, eine Menge zu verlieren." Allein dieses kurze Zitat zeigt schon einige Redundanz. Alles muss, so scheint der Autor zu glauben, mindestens zwei Mal gesagt werden. "Schiefgelaufen", "anders", falsch", "eine Menge zu verlieren". Ich fürchte, hier, in solchen Passagen, es gibt, nebenbei gesagt auch durchaus bessere, in solchen Passagen werden die Selbstzweifel des Autors an seinem eigenen Konzept sichtbar. Der Versuch, eine haarsträubende Entführungsstory mit einer fast romantischen Liebeselegie zu verbinden, musste scheitern. Für einen handfesten Politthriller fehlen Hammerstein offenbar elementare Voraussetzung. Die zumindest ansatzweise angestrebte politisch-ökonomische Analyse unserer Gegenwart, eine Beschreibung der längst noch nicht ausgestandenen Krise des kapitalistischen Systems, verläuft sich in Behauptungen, eher belanglosen Feuilletons, die als Grundsatz-Artikel von Max, zum Teil aber auch von Lisa ausgegeben werden.

    Der auszugsweise zitierte "Aufsatz" von Max über die "Kritik der professionellen Vernunft" spielt zwar (im Titel bereits) auf die Tradition der Frankfurter Schule an, Max Horkheimers "Kritik der instrumentellen Vernunft", erreicht nicht einmal das parodistische Niveau der Neuen Frankfurter Schule. "Dieser Hörer", heißt es da über einen armen Mr. Smith, sei "Teil seiner Macht, Verbindung zu seinen digitalen Herren. Er legt ihn ab, um das ewige Rauschen los zu sein. Das Herz geht ihm über vor Müdigkeit. Seine Profession quält ihn." Solche "Kritik" ist bestenfalls Quark, feuilletonistisch aufgeschäumt.

    Dem Roman schadet es nicht weiter, denn die Liebesgeschichte drängt sich ohnehin immer stärker in den Vordergrund. Anfangs werden die beiden Handlungsstränge, Entführung / Beziehung, noch streng parallel geführt. Da geht die Tür auf, mit dem ersten Blick erkennt Max, es ist sie, seine Lisa. Darauf folgt, sofort, die erste, gleich weit zurückreichende Rückblende, bis in die Kindheit, das allererste Zusammentreffen überhaupt.

    Danach geht es, schön chronologisch, Schritt für Schritt vorwärts. Aber diese Parallelführung löst sich gewissermaßen von selbst auf. Denn in der einen Nacht, in der Max seine gefangene Freundin bewacht, passiert naturgemäß nicht allzu viel, zumal Lisa wunderbarerweise gleich erst einmal einschläft. Weil die erzählte Gegenwart so wenig hergibt, dieser Stoff also schnell verbraucht ist, gewinnen die brav nacherzählten Lebensläufe immer mehr Raum, so dass man die Ausgangssituation fast schon wieder vergessen hat, wenn Max am Ende von seiner Gruppe ziemlich brutal zusammengeschlagen wird, weil er sein geliebtes Opfer laufen und damit das ganze Vorhaben scheitern ließ.

    Und damit scheitert auch Hammersteins eigenes Projekt. Die Geschichte von zwei Liebenden, die ein ganzes Leben lang verbunden blieben, aber über die Jahrzehnte hinweg doch nicht wirklich zusammenfanden, hat bereits am Anfang alle Spannung verloren, weil der Anfang das Ende dieser Geschichte beschreibt. Es kann keine Entwicklung geben, sondern eine Folge von substanziell nicht unterscheidbaren Episoden.

    Das ist schade, denn Max ist ein guter Typ. Ein später Aussteiger aus einer Gesellschaft, die es tatsächlich ja kaum wert ist, bewahrt zu werden. Die Tragik seiner Biografie berührt durchaus. Und zwar auch darum, weil der arme Hund, der zum Anarchisten wird, weiß, wogegen er kämpft, aber eben auch, sogar noch genauer weiß, dass er nie wissen wird, wofür.

    Aus solchen Gründen sind auch kluge Menschen unter unseren Vorfahren früher einmal gläubig geworden. Heute bleibt ihnen nur die Verzweiflung. Darüber sucht uns aber dieser Roman über weite Strecken, durch eine Liebe, die auch im Scheitern bestehen bleibt, hinweg zu trösten.
    Also: Gut? Nein. Gut gemacht? Auch nicht.
    Aber, da bin ich mir sicher, gut gemeint.

    Lukas Hammerstein: "Wo wirst du sein"
    S. Fischer Verlag, Frankfurt 2010, 256 Seiten, 18.95 Euro