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Selbstmordversuche und Aufbau-Ideologie

Heute vor 50 Jahren starb Johannes R. Becher. Der gebürtige Münchner distanzierte sich als ein der Tradition und dem "kulturellen Erbe" verpflichteter parteilicher Dichter zunächst von seinem expressionistischen Frühwerk. Nach Jahren im sowjetischen Exil wurde Becher nach 1945 in der Ostzone ein führender Kulturpolitiker, Publizist, Verlags- und Zeitschriftengründer und 1954 der erste Kulturminister der DDR. Seine in der Mitte der fünfziger Jahre publizierten Tagebücher zeigen, dass er wusste, wie stark die Politik seine Dichtung ruiniert hatte.

Von Manfred Jäger | 11.10.2008
    In seiner Lebensbilanz verstand sich Johannes R. Becher als ein Repräsentant der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts, der auch die Schwächen und Verfehlungen des Zeitalters aufnahm, durchlebte und durchlitt. Am 22. Mai 1891 kam er als Hans Robert Becher in München-Schwabing zur Welt, in einem gutbürgerlichen Elternhaus.

    "Da mein Vater ein hoher Justizbeamter war, war für mich vor allem jede gesetzliche Bestimmung von vornherein verdächtig. Dort, wo Verbotstafeln standen, dort ging ich unter allen Umständen durch."

    In einem Rückblick auf seine bewegten Jugendjahre rechtfertigt Becher im Mai 1956 sein sprachgewaltiges Frühwerk:

    "Der Expressionismus war trotz aller seiner Fehler schon ein teilweise großartiger Aufstand, vor allem gegen die Langeweile."

    Der junge Dichter entschied sich dafür, jenseits der bürgerlichen Langeweile zu leben – oder zu sterben. Am 17. April 1910 will er gemeinsam mit seiner sieben Jahre älteren Geliebten Franziska aus dem Leben gehen. Seine Schüsse treffen nur die Frau tödlich, während er mit einem Lungensteckschuß überlebt. Der Vater sorgte dafür, dass es wegen des "einseitig erfolgreichen Doppelselbstmordversuchs" zu keiner Strafverfolgung kam. In den Folgejahren wurde Becher morphiumsüchtig und nach Klinikaufenthalten mehrfach rückfällig. Nach 1919 suchte er bei den Kommunisten seelischen Halt und fand 1923 mit dem entgültigen Eintritt in die KPD auch eine politische Heimat.

    Die Naziherrschaft zwang den Mitbegründer des "Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller" 1933 ins Exil. Seit 1935 lebte er in der Sowjekunion, wo er unter dem Heimatverlust und der lebensbedrohenden Stalinschen Willkür litt und mehrere Selbstmordversuche unternahm. Dennoch kehrte er schon im Mai 1945 mit der "Gruppe Ulbricht" nach Berlin zurück und wurde zum führenden Kulturpolitiker der sowjetischen Zone. Geschickt gewann er bürgerliche Schichten, auch die im Lande gebliebenen "inneren Emigranten", zur Mitarbeit. Im Juli 1945, bei der Gründung des "Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands" mischte er religiöses und marxistisches Vokabular:

    "Eine Auferstehungsphilosophie, eine deutsche Erneuerungslehre, eine Aufbauideologie tun not, um unser Volk aus dem tiefsten Grab seiner Geschichte heraus zu führen. Zu einem solchen Anderswerden, zu solch einer Wandlung, zu solch einem Reformationswerk rufen wir auf!"

    Becher begründete den "Aufbau"-Verlag und die Zeitschrift "Sinn und Form". Er verfocht mit Überzeugungskraft die Wiederherstellung eines einheitlichen Deutschlands, wovon auch sein Text der DDR-Nationalhymne zeugt. Nachdem 1971 die DDR als sozialistische Nation galt, durften die Worte "Deutschland, einig Vaterland" nicht mehr gesungen werden.
    1954 war Becher erster Amtsinhaber des neu gegründeten Ministeriums für Kultur geworden. Es schmeichelte seiner Eitelkeit, die angeblich geglückte Einheit von Geist und Macht zu personifizieren. In mehreren Tagebuchbänden suchte er als Staaatsmann die Poesie zu verteidigen.

    1957 mußte Becher demütig Selbstkritik üben, weil er nicht gegen den "konterevolutionären Revisionismus" seines Freundes Georg Lukács und gegen dessen Anhänger in der DDR aufgetreten war. Die SED-Führung hatte verinnerlicht, was der Dichter ihr als Auftrag für Gegenwart und Zukunft mitgab:

    "Seid euch bewußt der Macht!
    Die Macht ist euch gegeben,
    Daß ihr sie nie, nie mehr
    Aus euren Händen gebt!"

    Am 11. Oktober 1958 starb Johannes R. Becher nach einer schweren Krebsoperation. Das SED Politbüro feierte den umstrittenen, zerrissenen, ehrgeizigen, auftrumpfenden und depresssiven Ästheten bei diversen Staatsakten und Trauerfeiern mit der Behauptung, er sei der größte deutsche Dichter der neuesten Zeit gewesen. Solche Phrasen muss vergessen, wer die wenigen Gedichte dieses Vielschreibers auffinden will, die Bestand haben.