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Selbsttherapeutische Reise eines Philosophieprofessors

Der Roman "Fliehkräfte" handelt von gescheiterten Lebensentwürfen, von Liebe und Hoffnung. Der Autor Stephan Thoma erzählt von einem fast 60-jährigen Philosophieprofessor, der mittels einer Art Roadmovie seine Lebenskrise bewältigt.

Von Eva Pfister | 15.10.2012
    Hartmut Hainbach, Professor für analytische Philosophie, ist kein Mann der schnellen Entscheidungen. Seit über einem Jahr lebt seine Frau jetzt in Berlin, wo sie an einem Theater arbeitet, während Hainbach sich in Bonn verlassen fühlt, zumal auch seine Tochter ausgezogen ist, um in Hamburg zu studieren. Dass Maria jahrelang frustriert war, weil sie keine sinnvolle Arbeit fand, hat der Ehemann wohl zu wenig ernst genommen. Da kommt das Angebot eines Berliner Verlages, als geisteswissenschaftlicher Berater einzusteigen. Aber will Hainbach die Professur in Bonn aufgeben? Mit welchen finanziellen Folgen sind zu rechnen? Für einen Mann, der auf die 60 zugeht, sind diese Fragen nicht einfach so wegzuwischen. Vor allem aber ist Hartmut tief verunsichert, denn er weiß nicht mehr, ob seine Frau überhaupt noch mit ihm leben will.

    "Noch einmal greift Hartmut nach ihrer Hand und küsst sie. Weiß nicht, ob er sich freuen oder was er sonst empfinden soll. Würde ein neutraler Beobachter am Nebentisch ihnen ansehen, auf welch driftendem Grund sie stehen? Ihn haben die vergangenen zwei Jahre gelehrt, dass Liebe ein schwaches Argument sein kann. Schwächer als einsame Nächte, die Frustration über ihr abgeschaltetes Handy oder das merkwürdige Gefühl beim Betreten von Marias Wohnung."

    In dieser Situation steckt der Protagonist von Stephan Thomes zweitem Roman. Vor drei Jahren überraschte der Philosoph und Sinologe mit seinem Debüt "Grenzgang", einem psychologisch spannenden Buch. In Zeitsprüngen von sieben Jahren, denn in diesem Rhythmus findet das große Volksfest mit dem Namen "Grenzgang" statt, erzählte Thome darin von gescheiterten Lebensentwürfen, von Liebe und Hoffnung. Sein neuer Roman "Fliehkräfte" hat im Grunde dasselbe Thema, aber er ist anders aufgebaut; es ist ein Buch der Rückblenden. Eigentlich spielt sich die Handlung in wenigen Tagen ab, in denen Hainbach seine Lähmung endlich überwindet. Nach einem missglückten Abenteuer mit einer Mitarbeiterin bricht er am Semesterende überstürzt auf, besucht seine erste Liebe Sandrine in Paris, fährt dann nach Südfrankreich, wo ein früherer Kollege ein Restaurant betreibt, und weiter nach Santiago de Compostela zu seiner Tochter, um danach mit ihr nach Portugal zu Marias Familie zu fahren, wo er auch seine Frau wieder treffen wird.

    Manchmal ist der Roman so unterhaltsam wie ein Roadmovie, meist aber wird man beim Lesen ausgebremst durch die vielen Rückblenden und Erinnerungen. Ganze Kapitel erzählen aus Hartmuts früherem Leben, von der Studienzeit in den USA, von seiner Tätigkeit in Berlin, von den Besuchen bei seiner Schwester und ihrer Familie. Aber auch die gegenwärtige Handlung wird am liebsten aus der Erinnerung referiert, und sei es, dass Hartmut im Auto sitzt und an den Abend zuvor denkt. Oder an das gestrige Telefongespräch mit Maria, das wieder so unbehaglich geendet hatte. Es kommt einem vor, als würde die Gegenwart sorgsam vermieden, und langsam begreift man, dass diese Erzählhaltung einiges über den Menschen Hartmut Hainbach aussagt. Als er nach einem heftigen Streit mit Maria seinen ersten Joint raucht, und sich dabei allmählich eine Versöhnung anbahnt, geht Folgendes durch seinen Kopf:

    "Er fragte sich, ob es ein schöner Moment war, den sie gerade erlebten. Was dafür sprach und was dagegen, obwohl er zu wissen glaubte, dass die Gründe in keiner Beziehung standen zu dem, was den Moment ausmachte. Der führte ein Eigenleben, unbehelligt von den Gründen. Irgendwo in dem Gedanken steckte etwas, das mit seinem Leben zu tun hatte."

    Er kann einem leidtun, dieser Professor Hartmut Hainbach, er ist einfach zu verkopft, zu zögerlich, zu begriffsstutzig, zu ängstlich und zu harmoniesüchtig. Letzteres legt sich etwas im Laufe seiner Reise. Nach einem heftigen Streit mit seiner Tochter, ruft er einen Kollegen an der Uni Bonn an, meldet seine Ausstiegspläne – und drückt ihm auch noch die unleserliche Dissertation "Die Rückkehr des Weltgeistes nach China" zur Begutachtung aufs Auge, die er bis jetzt brav mitgeschleppt hat. Als Geburtstagswunsch gibt er dem Kollegen ein Seneca-Zitat mit auf den Weg: "Wir haben keine knappe Zeitspanne, wohl aber viel davon vergeudet." Danach gibt es auf einer Raststätte in Portugal Streit mit einem deutschen Ehepaar, und Hartmut greift den Mann, der seine Tochter als Flittchen beschimpft hat, frontal an:

    "Seine Hände fassen Stoff und harte Muskeln. Im Kampf um seine Balance greift er nach allem, was Halt verspricht, und versucht gleichzeitig, den Schlägen des anderen auszuweichen. Nie in seinem erwachsenen Leben hat er jemandem einen Faustschlag versetzt. Es gab Kämpfe auf dem Schulhof, den längst vergessenen Rausch aus tierhafter Wut und Angst. Schweiß und Rotz und manchmal Blut. Bis hierher musste er kommen, um das noch einmal zu erleben. Ein stechender Schmerz in den Fingerknöcheln sagt ihm, dass er getroffen hat. Hart auf hart. Der andere stöhnt. Hartmut weiß nicht genau, was er zuletzt getan hat, aber es tut es noch einmal."

    Überraschenderweise fühlt Hartmut Hainbach hinterher keine Scham, sondern seit langem wieder einmal – Stolz! Die selbsttherapeutische Reise hat offenbar ihren Zweck erfüllt. Als er Maria wieder trifft, ist er ein Anderer geworden. Aber so ganz ohne ironische Vorbehalte wird auch dieses Happy End nicht gemeint sein.

    Stephan Thome: "Fliehkräfte". Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 474 S., 22,95 Euro