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Selbstverteidigungskurs
Blind, aber nicht wehrlos

Ein Blinder in der S-Bahn, mit einem Smartphone in der Hand – leichte Beute für Diebe. Doch es geht auch anders, das beweist Carsten Prüßner. Der Ju-Jutsu-Trainer bringt Sehbehinderten bei, wie sie sich bei Angriffen selbstbewusst behaupten und Angreifer mit ihrem Blindenstock effektiv in die Flucht schlagen können.

Von Astrid Wulf | 03.11.2016
    Trainerin Beate Bechmann (r) trainiert in ihrem Studio in Offenbach am Main mit Ayse (l) die Abwehr eines Angriffs. Seit den Übergriffen in Köln verzeichnet die Kampfsport-Ausbilderin einen Ansturm auf Selbstvertidigungskurse für Frauen.
    Eine Trainerin übt mit einer Frau die Abwehr eines Angriffs. (picture alliance / dpa / Boris Roessler)
    "Ihr habt euren Stock in der rechten Hand, und der andere kommt und hält euch am linken Arm fest, denkt dran: richtig zuschlagen und als Abschluss die Würge. Und los bitte."
    Die sechs Trainingspaare gehen aufeinander los. Der Angreifer versucht, dem anderen den Hals abzudrücken, das Opfer wehrt sich mit einem Schaumstock, der im Training den Blindenstock ersetzt, schlägt kräftig zu und drückt dem Angreifer mit dem Stab die Luft ab. Im Ernstfall wäre ein Angreifer chancenlos.
    Mehr Lebensqualität durch den Kurs
    Stefan Reininghaus aus Lotte in Nordrhein-Westfalen ist nassgeschwitzt, das Training ist anstrengend. Der 38-Jährige hat sein Augenlicht vor zehn Jahren verloren. Er verbringt seinen Urlaub in diesem Hotel für Blinde und Sehbehinderte, wo auch dieser Kurs stattfindet.
    "Ich finde, er gibt eine Art Selbstsicherheit. Auch ein selbstsicheres Auftreten. Man verlernt das mit der Zeit, wenn man erblindet, finde ich. Diesen aufrechten Gang."
    Eine aufrechte Haltung und ein selbstsicheres Auftreten will Ju-Jutsu-Trainer Carsten Prüßner seinen Teilnehmern beibringen – und dazu effektive und einfach zu lernende Techniken, wie Angreifer mit Hebelgriffen und gezielten Schlägen schnell abgewehrt werden können. Der Trainer ist überzeugt: Diese Fähigkeiten bringen den Teilnehmer viel mehr, als sich lediglich in gefährlichen Situationen verteidigen zu können, auch im Alltag gewinnen die Blinden und Sehbehinderten dank der Kampfsporterfahrungen eine viel größere Lebensqualität.
    "Ich möchte ihnen die Angst nehmen, dass etwas passieren kann. Oder wenn etwas passieren sollte, dass sie sich ein bisschen wehren können. Dass sie mehr oder weniger zu jeder Tag- und Nachtzeit ihren Wünschen und Bedürfnissen auch außerhalb ihrer eigenen vier Wände nachgehen können, und das bringt Lebensqualität. Das ist für mich das A und O dieser Kurse und dieser Einstellung."
    "Und denkt dran, die Arme schön hoch, ausatmen, runterschlagen, und ein bisschen aggressiv gucken. Ok? Und los!"
    Als Blinder ein leichtes Opfer
    Es gibt keine Statistiken zu Überfällen oder Angriffen auf Blinde und Sehbehinderte. Für viele Diebe ist es jedoch ein Leichtes, Blinde zu erkennen, zum Beispiel am Blindenstock oder der dunkel gefärbten Brille. Oft nutzen sie eine Spracherkennungsoftware beim Smartphone, etwa um sich den Weg weisen zu lassen. Ein Blinder in der S-Bahn, mit einem Smartphone in der Hand – leichte Beute für Kriminelle. Ju-Jutsu-Trainer Carsten Prüßner ist realistisch genug, um zu wissen, dass viele Abwehrtechniken aus dem Ju-Jutsu gegen Trickbetrüger und Taschendiebe häufig nicht helfen dürften – viele Taschendiebe sind einfach zu schnell. Trotzdem möchte er den Blinden ein Grundgefühl von mehr Sicherheit vermitteln.
    "Wir üben, wie man aufrecht steht, wie man stabil steht, eine Gestik macht, "nein, ich will nicht!" und nicht sagt: "nein, heute nicht..." das schreckt niemanden ab. Die Zuversicht und Aufrichtigkeit der Leute, wenn sie da so stehen, das ist schon der Unterschied zu einem Opfer."
    Opfer leiden Jahre unter den Folgen von Attacken
    Dem Trainer ist es auch besonders wichtig, den Teilnehmern beizubringen, körperliche Angriffe abwehren zu können – denn unter den Folgen solcher Attacken leiden die Opfer oft jahrelang. Der Blinde Eric Klumb aus Moers beispielsweise übt, sich mit einem festen Schlag aus dem festen Griff seiner Trainingspartnerin zu befreien. Ihm macht das einwöchige Training viel Spaß.
    "Komm, stärker draufhauen. Wie in der Realität." "Au!" Eric Klumb hat wie viele andere blinde Kursteilnehmer schon Situationen erlebt, in denen er sich unsicher oder hilflos gefühlt hat – zum Beispiel, als er sich in der Bahn inmitten einer Gruppe pöbelnder Betrunkener wiederfand. Er erhofft sich durch den Kursen in Zukunft in solchen Momenten entspannter bleiben zu können, selbstsicherer.
    "Das stärkt, gibt Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit, gerade in so einem Kurs kriege ich auch die eigene Körperwahrnehmung mit, wie stehe ich, wie muss ich mich in welcher Situation wie bewegen, das gibt schon was."
    Manche Teilnehmer kommen immer wieder
    Seit acht Jahren gibt der Detmolder Trainer für den Deutschen Ju-Jutsu-Verband Kurse für Blinde und Sehbehinderte – er ist also routiniert – trotzdem sind diese Kurse für ihn jedes Mal erneut eine Herausforderung.
    "Wenn ich mal nicht sage, rechts oder links, kommen die lustigsten Sachen raus. Der Vorteil ist, bei den Sehbehinderten, sie können sich das wahnsinnig gut merken. Sie haben eine hohe Konzentrationsfähigkeit, sind eifrig und sehr ehrgeizig, um das am nächsten Tag auch wirklich noch drauf zu haben, ich bin mir ganz sicher, dass die nachmittags noch auf ihrem Zimmer trainieren."
    Einige Teilnehmer kommen immer wieder zu den Kursen, sagt Kursleiter Carsten Prüßner. Um im Training zu bleiben, die Griffe immer mal wieder zu üben – und weil es dem Selbstbewusstsein gut tut, sagt die blinde Teilnehmerin Marita Neugebauer aus Neustadt.
    "Und wenn ich nach Hause komme, warte ich darauf, dass einer kommt und mich angreift, damit ich mein Wissen ausnutzen kann."