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Selig vertrödelte Zeit

Niemand wartet gerne. Doch Warten kann auch ein Geschenk sein – "geschenkte Zeit", wie die Autorin Andrea Köhler meint. Sie hat dem Thema ein wenig überzeugendes Buch gewidmet.

Astrid Nettling | 19.12.2007
    "Warten ist eine Zumutung. Und doch ist es das Einzige, was uns das Nagen der Zeit fühlbar und ihre Versprechen erfahrbar macht. Wir warten: auf den anderen, den Frühling, die Lottozahlen, eine Offerte, das Essen, den Richtigen und Godot. Auf Geburtstage, Feiertage, das Glück, die Sportergebnisse, den Befund. Wir warten darauf, daß ein Schmerz aufhört und der Schlaf uns findet oder der Wind sich legt. Im Pflichtenheft der verplanten Stunden ist das Warten die blanke Seite, die es zu füllen gilt."

    Ein überaus dankbares Thema für einen überaus unliebsamen Zustand ist das Warten. Ein Thema wie geschaffen für die Lebenskunst, um darüber nachzusinnen, wieso das Warten im Lebensalltag zumeist als etwas erfahren wird, dem wir einfach nur ausgeliefert sind. Als eine Zumutung eben, die sich unseren Wünschen, unseren Plänen und Aktivitäten in vielerlei Formen hemmend entgegenstellt. Doch Warten bedeutet nicht nur das. Zwar mag es von der Autorin übertrieben sein, den Menschen gleich als das "wartende Tier" zu charakterisieren, jedenfalls ist es nicht von der Hand zu weisen, dass das Warten auf das, was nicht 'da' ist, einen Grundbestandteil unseres Da-Seins ausmacht.

    Bereits im frühesten Kindesalter lernen wir das Warten – den Aufschub prompter Befriedigung, lernen wir, die leere Spanne Zeit, die uns das Wartenmüssen aufnötigt, zu ertragen. Später kommt zum Wartenmüssen das Wartenkönnen hinzu, die Fähigkeit abzuwarten und Kommendes zu erwarten, manchmal sogar die Kunst, diese Zeit des Übergangs als einen Freiraum zu erfahren, in dem, befreit vom Druck des Tätigseins, Knoten sich lösen und Sachen ins Reine kommen, als produktive Atempause, in der gut Ding seine Weile haben darf. Denn Warten heißt nicht bloß sinnloser Leerlauf, ist nicht bloß die drückend lange Weile trüber Stunden, sondern, dies versichert die Autorin mit Nachdruck, Warten bedeutet auch "geschenkte Zeit", und deren Spanne ist allemal weiter und reicher als die, welche die schiere Unumgänglichkeit des Wartens dem Wartenden einräumt.

    In zum Teil feinen Beobachtungen fächert Andrea Köhler in kurzen Kapiteln diese vielfältigen Seiten des Wartens auf – seine Tücken, Glücksmomente, seine Überraschungen und dramatischen Augenblicke, und gibt dem entspannten Innehalten und Zögern sowie der heiteren Saumseligkeit des Wartens Raum. Ganz im Sinne einer essayistisch verstandenen Lebenskunst, die nicht belehren, sondern die Aufmerksamkeit für Phänomene des Lebensalltags schärfen möchte. Dabei profitiert ihre Darstellung streckenweise von schönen wie klugen Zitaten aus Literatur und Philosophie, die ihr insgesamt jedoch ein wenig zu oft als Textbrücke dienen, anstatt auf die eigene Gedankenführung in den häufig sehr knapp gehaltenen Skizzen über das Warten zu vertrauen.

    Das hat zur Folge, dass der Autorin ihr eigentlich bedachtsamer Blick auf die Sache wiederholt abhanden kommt wie auch die Disziplin, trotz gedanklicher und stilistischer Freiheiten, die die essayistische Form erlaubt, nicht zu schludern. Doch wenn beispielsweise auf gerade mal zweieinhalb Seiten das frühe Zu-Bett-Gehen des Protagonisten bei Marcel Proust sich mit Walter Benjamins schönem Diktum zu dessen Roman als einer "Penelopearbeit des Eingedenkens" über Odysseus und die seefahrenden Männer flugs mit Freddy Quinns "Junge komm bald wieder" und den "Weißen Rosen aus Athen" verbindet und dies wiederum mit den notorisch wartenden Frauen daheim, wofür Roland Barthes mit seinem Satz "Historisch gesehen wird der Diskurs der Abwesenheit von den Frauen gehalten" einstehen muss, um schließlich bei der Kunst des Erzählens als ein Aufschieben des Todes zu landen, dann ist nicht mehr das Warten, sondern diese Art zu schreiben eine Zumutung.

    Mögliche Zusammenhänge werden durch solche 'Schreibe' mehr entstellt als erhellt. Sicher – nicht nur "time is money", dem gleichfalls ein Kapitelchen im Buch gewidmet ist, auch Druckbögen kosten Geld. Ob es nun diese Überlegung war oder die heutzutage nicht nur bei Verlagslektoren grassierende Angst, die potentielle Leserschaft mit längeren und sorgsam entfalteten Gedanken in die Flucht zu schlagen, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls wäre es dem Warten, dem Anspruch der Lebenskunst sowie dem der Autorin besser bekommen, hätte sie sich die Zeit und den Platz gegönnt, dem Warten tatsächlich seine gute Weile zu lassen. So wie sie es schließlich selber formuliert hat:

    "Kairos, der glückliche Augenblick, braucht das Warten im Rücken: die manchmal quälende, manchmal selig vertrödelte, die wie auch immer geschenkte Zeit."


    Andrea Köhler: Lange Weile. Über das Warten, Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig, 2007, 101 S., 15 Euro.