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Sinfonische Musik
Seltene Hindemith-Einspielung

In der Kirche Santa Croce in Florenz zeigen Fresken Szenen aus dem Leben des Heiligen Franz von Assisi. Die Bilder des Malers Giotto di Bondone beeindruckten Paul Hindemith 1937 so sehr, dass er sie vertonen wollte. Das Seattle Symphony Orchestra hat die Komposition nun auf CD eingespielt.

Von Jochen Hubmacher | 03.08.2014
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    Paul Hindemith beim Autogrammschreiben (picture-alliance / Bildagentur Schapowalow )
    Franziskus mit Heiligenschein und im zerschlissenen Bettlergewand oder auf dem Sterbebett umringt von trauernden Gefährten. Die Fresken von Giotto di Bondone aus dem frühen 14. Jahrhundert in der Franziskanerkirche Santa Croce in Florenz sind spektakulär. Sie zeigen Szenen aus dem Leben des Heiligen Franz von Assisi und noch heute beeindrucken sie Besucher aus aller Welt. Auch wenn nach einer etwas übereifrigen Restaurierung Ende der 1950er Jahre hässliche Fehlstellen entstanden sind.
    Als Paul Hindemith 1937 beim Florentiner Musikfestival Maggio Musicale weilte, konnte er die Giotto-Fresken von Santa Croce noch in ihrer ganzen Pracht sehen. Und sie dienten ihm als Inspiration für sein Ballett "Nobilissima Visione". Eine "Tanzlegende", die in sechs Bildern entscheidende Stationen auf dem Lebensweg des Heiligen Franziskus nachzeichnet. Die komplette Ballettmusik war lange Zeit nur auf einer einzigen CD-Aufnahme erhältlich. Eingespielt Anfang der 1990er Jahre von den Bamberger Symphonikern unter Karl Anton Rickenbacher. Beim Label Naxos ist jetzt eine zweite Gesamtaufnahme von Hindemiths "Nobilissima Visione" erschienen, die auf der Frontseite des Booklets jedoch irrtümlicherweise als Ersteinspielung angepriesen wird. Die CD mit dem Sinfonieorchester aus dem US-amerikanischen Seattle und Gerard Schwarz am Dirigentenpult stelle ich Ihnen heute vor. Jochen Hubmacher heißt Sie herzlich willkommen.
    Musik: Paul Hindemith: Nobilissima Visione, Einleitung
    Ein Ballett über das Leben von Franz von Assisi? Léonide Massine, langjähriger Tänzer und Choreograf der legendären Ballets Russes konnte der Idee zunächst wenig abgewinnen. Doch die Giotto-Fresken mit den Franziskus-Darstellungen in der Florentiner Kirche Santa Croce hatten Paul Hindemith so nachhaltig beeindruckt, dass er das gemeinsame Projekt unbeirrt vorantrieb. Schließlich wurde das Ballett im Juli 1938 in London uraufgeführt. Zu einer Zeit als Hindemiths Musik in Nazi-Deutschland bereits als "entartet" diffamiert wurde. Nur ein paar Monate später emigrierte der Komponist über die Schweiz in die USA und im folgenden Jahr begann mit dem Überfall Hitler-Deutschlands auf Polen der Zweite Weltkrieg.
    Vor dem Hintergrund der sich anbahnenden weltpolitischen Katastrophe, lässt sich nur spekulieren: War es allein der Zauber der Fresken, der den Kunstkenner und begabten Zeichner Hindemith in den Bann gezogen hat? Oder war Hindemith damals nicht mindestens genauso sehr von den Idealen des Franz von Assisi beeindruckt? Jenem Mann aus wohlhabenden Verhältnissen, der all seine Besitztümer verschenkt, um ein Leben in Armut zu führen, in dem Selbstlosigkeit und Hilfsbereitschaft an oberster Stelle stehen. Der Musikwissenschaftler und Pionier des Nachkriegsrundfunks Heinrich Strobel schrieb dazu:
    "Wen würde dieser Stoff nicht ergreifen in einer Zeit, in der die brutalsten Instinkte der Menschen frevelhaft entfesselt wurden, in der Erbärmlichkeit und Machtwahn sich hemmungslos austobten wie in den Tagen des heiligen Franziskus."
    Musik: Paul Hindemith: Nobilissima Visione, Erscheinung der drei Frauen
    In diesem Abschnitt aus "Nobilissima Visione" hat Paul Hindemith das Erweckungserlebnis Franz von Assisis vertont. In einer Vision erscheinen drei Frauengestalten, die symbolhaft für Demut, Keuschheit und Armut stehen. Franziskus erkennt seine Bestimmung und lässt sein früheres Leben komplett hinter sich. Ein Leben, das er als Sohn eines wohlhabenden Tuchhändlers bis dahin eher den irdischen Dingen gewidmet hatte.
    Das Ballett Paul Hindemiths erzählt in knapp 45 Minuten die Geschichte der spirituellen Verwandlung eines Menschen vom Lebemann zum Heiligen. Das hat mitunter seine Längen, vor allem, wenn man nur die Musik hört. Vermutlich war Hindemith sich dessen bewusst und stellte daher eine gut 20-minütige "Nobilissima Visione"-Orchestersuite zusammen. Sie hört man meist im Konzertsaal oder auf CD-Aufnahmen. Allerdings fehlen darin einige musikalische Perlen der Ballettpartitur. Etwa die Szene, in der Franziskus einen angriffslustigen Wolf bändigt, indem er auf zwei Holzstöcken Geige spielt.
    Musik: Paul Hindemith: Nobilissima Visione, Geigenspiel / Der Wolf
    Seattle Symphony, wie sich das Sinfonieorchester aus der Metropole im US-Bundessaat Washington nennt, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts gegründet. Anders jedoch als das im gleichen Zeitraum entstandene Philadelphia Orchestra schaffte es das Ensemble aus Seattle nicht in den elitären Klub der sogenannten "Big Five", der renommiertesten fünf US-amerikanischen Sinfonieorchester. Was vielleicht daran liegt, dass es außer mit dem Engländer Thomas Beecham zu Beginn der 1940er Jahre nie wirklich einen Chefdirigenten von Weltrang hatte.
    Die jetzt beim Label Naxos erschienene Aufnahme von Paul Hindemiths Nobilissima Visione entstand noch unter der Ägide von Gerard Schwarz.
    Der Sohn österreichischer Einwanderer und ehemalige Solo-Trompeter des New York Philharmonic Orchestra leitete von 1985 bis 2011 die musikalischen Geschicke von Seattle Symphony. In den mehr als 25 Jahren als Chefdirigent verstand es Schwarz, das Orchester zum einen künstlerisch weiterzuentwickeln, sichtbarstes Zeichen vielleicht das Debüt in der New Yorker Carnegie Hall 2004. Zum anderen schaffte er es, immer wieder Mäzene für seine musikalischen Projekte zu begeistern. Seattle Symphony steht seit Jahren wirtschaftlich gut da, was bei weitem nicht alle US-amerikanischen Orchester von sich behaupten können.
    Die Ära Schwarz ist jedoch auch gekennzeichnet von massiven Querelen zwischen Dirigent und Musikern. Einige warfen ihrem Chef einen autokratischen Führungsstil oder gar Mobbing vor. Man traf sich vor Gericht. Musiker, die Schwarz unterstützten, sahen sich ihrerseits mit anonymen Attacken konfrontiert. In der New York Times war von einem zerkratzen Auto zu lesen, einem verbeulten Waldhorn oder einer Rasierklinge, die im Inneren des Briefkastens eines Orchestermitglieds angebracht wurde.
    Der CD, auf der sich neben Paul Hindemiths Nobilissima Visione auch noch dessen fünf Stücke für Streichorchester, op. 44 Nr. 4 befinden, sind diese Querelen nicht anzumerken. Vielleicht weil zum Zeitpunkt der Aufnahme klar war, dass Gerard Schwarz ab der folgenden Spielzeit nicht mehr musikalischer Leiter des Orchesters sein würde.
    An die technische Perfektion der ganz großen US-amerikanischen Orchester reicht Seattle Symphony zwar nicht heran, insbesondere die Solo-Positionen sind nicht mit den Ausnahme-Könnern besetzt, mit denen die Big Five-Orchester oft glänzen. Dennoch haben wir es hier mit einer sehr hörenswerten Aufnahme zu tun, die nicht zuletzt die Frage aufwirft, warum ein Ballett wie Nobilissima Visione, ob in Deutschland oder sonstwo, kaum auf den Spielplänen der Musiktheater auftaucht.
    Musik: Paul Hindemith:Nobilissima Visione, Incipiunt laudes creaturarum
    Die Neue Platte:
    Paul Hindemith: "Nobilissima Visione" und Fünf Stücke für Streichorchester, op. 44 Nr. 4
    Seattle Symphony, Leitung: Gerard Schwarz
    Label: Naxos, Bestell-Nr.: 8.572763, LC: 05537