Donnerstag, 28. März 2024

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Sendereihe Philosophie im Hirnscan
Manuskript: Die Welt, wie sie scheint

Unser Geist arbeitet in Kategorien wie Zeit und Raum oder Ursache und Wirkung. Sie formen sein Bild der Wirklichkeit. Diese philosophische Perspektive wird inzwischen von der Hirnforschung unterfüttert. Von der Evolution und den eigenen Erfahrungen geformte Nervennetze prägen die Wahrnehmung der Welt.

Von Volkart Wildermuth | 29.05.2014
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    Die Welt als Wahrnehmung. (picture-alliance/dpa)
    Eiskalt, das ist der erste Eindruck. Oben brennt die Sonne, plätschernd schwappen blaue Wellen, darunter Stille. Silbern, grün, bunt gestreift flitschen Fische zwischen dunklen Felsen über Sand. Plötzlich kristallisiert beige im Beige ein Oval. Es verschiebt sich, wird im Kontrast zum Tintenfisch. Er schwimmt beiseite, verfärbt sich drohend in ein prächtiges Violett, bevor er rückwärts davon zischt. Zurück bleibt eine kleine, schwarze Wolke.
    Thomas Metzinger: "In der Welt gibt es keine Farben. Es gibt nur verschiedene Wellenlängen-Mischungen vor unseren Augen. Farbig sind die Modelle von Gegenständen, die in unserem Gehirn erzeugt werden, in unserem Bewusstsein auftauchen."
    Über die Begegnung mit dem Tintenfisch hätte man einen Aufsatz schreiben können: Mein schönstes Ferienerlebnis. Erlebnis, das klingt einfach, klar, direkt gegeben. Aber seit mehr als 2000 Jahren haben Philosophen den Vorgang des Erlebens bedacht, analysiert, kritisiert. Der schöne Tintenfisch löst sich auf in Theorien.
    Gesehen hat der Taucher nur ein verzerrtes Schattenbild des Tintenfischs. Der wahre Tintenfisch, das Tintenfischideal existiert im Reich der reinen Ideen, sagt Platon.
    Nein, nein, entgegnet David Hume. Er hat Lichtpunkte wahrgenommen, in einem räumlichen und zeitlichen Muster. Die Lichtpunkte waren assortiert, erst sein Geist hat daraus den Tintenfisch gemacht.
    Falsch, verspricht Gottfried Wilhelm Leibnitz. Das Bild des Tintenfischs in seinem Geist hat zwar keine direkte Beziehung zu dem Tintenfisch vor ihm im Wasser. Aber Gott hat Geist und Welt in Harmonie geschaffen. Deshalb kann er seinen Augen trauen.
    Der Tintenfisch an sich, ihn kann er nicht erkennen, widerspricht Immanuel Kant energisch. Der Geist formt die Sinneseindrücke nach seinen eigenen Gesetzen, ordnet sie in Raum und Zeit, schließt auf Ursache und Wirkung. Wie die Welt, wie der Tintenfisch wirklich ist, darüber könne man nur spekulieren und solle besser schweigen.
    Georg Northoff: "Weil in jeder Erfahrung der Welt immer schon der eigene Beitrag des Gehirns, ich sage mal, mitkommt oder mitmischt, ist es für uns wirklich schwierig, zu trennen, was ist unser eigenes Gehirn und was ist wirklich die Welt selber, unabhängig vom Gehirn."
    Eindruck und Welt
    Der Tintenfisch im Meer und der Tintenfisch im Kopf - sie sind nicht einfach Urbild und Abbild. Immer wieder haben Philosophen ihre Beziehung mit den Mitteln des Verstandes analysiert. Heute versuchen Neurowissenschaftler sie im Detail nachzuvollziehen.
    Metzinger: "Ich denke, dass es gerade im Moment eine sehr aufregende Phase ist, in der viele der ursprünglichen Einsichten, gerade von Kant, genauer und auf eine präzisere und auch empirisch fundierte Weise reformuliert werden."
    Denn es ist gewiss kein den Sinnen bekannter Gegenstand der Natur, von dem man sagen könnte, man habe ihn durch Beobachtung oder Vernunft jemals erschöpft, wenn es auch ein Wassertropfen, ein Sandkorn, oder etwas noch Einfacheres wäre.
    [Immanuel Kant: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, 1766]
    "Da draußen sind unendlich viele Dimensionen möglicher Eigenschaften."
    Thomas Metzinger, Philosoph an der Universität Mainz
    "Das heißt, das, was wir erleben, bewusst, ist ein ganz, ganz kleiner Ausschnitt einer viel reichhaltigeren physikalischen Wirklichkeit, die uns umgibt. Keiner von uns erlebt zum Beispiel radioaktive Strahlung oder die kosmische Strahlung, die gerade durch unseren Körper hindurchrast. Es gibt sehr viele Wellenlängen oder andere physikalische Eigenschaften, für die wir völlig blind sind."
    Die moderne Naturwissenschaft liefert die Belege: Das bewusste Erleben ist kein simpler passiver Spiegel, der die ganze Welt reflektiert. Dafür ist einfach zu viel Welt vorhanden. Eine Überfülle, die Sinne und Verstand gar nicht vollständig erfassen können. Sie treffen eine Auswahl - und verarbeiten, was ihnen begegnet
    "Unsere Wahrnehmung ist eine Fantasie, die mit der Realität in Einklang steht."
    Philipp Sterzer, Wahrnehmungspsychologe an der Berliner Charité.
    "Das finde ich eigentlich eine ganz hilfreiche Aussage, denn sie bringt zum Ausdruck, dass unsere Wahrnehmung eben keineswegs eine Projektion der Realität in unseren Kopf hinein ist, sondern eine aktive, konstruktive Leistung unseres Wahrnehmungsapparates, letztlich unseres Gehirns."
    Immanuel Kant ging es bei seinen Betrachtungen nicht um die einzelne Erfahrung, das Bild eines Tintenfischs oder den Klang einer Symphonie. Er wollte wissen, was Erfahrung überhaupt erst möglich macht. Im 18. Jahrhundert konnte er sich dieser Frage nur über die Analyse des Verstandes nähern. Heute setzt Philipp Sterzer in seinem Labor auf Hightech.
    "Die eine Ebene ist sozusagen die der Verhaltensbeobachtung. Man zeigt Probanden bestimmte Reize und lässt sie berichten, was sie sehen. Eine andere Ebene wäre die, das Gehirn bei der Arbeit zu beobachten. Wir verwenden da sehr gerne die funktionelle Kernspintomographie, die uns erlaubt, einen Blick ins Gehirn zu werfen. Und ein weiterer sehr wichtiger Punkt, der gerade in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen hat, sind mathematische Modelle."
    Die Netzhaut. Aus Licht wird Nervenaktivität. Stäbchen registrieren feinste Helligkeitsunterschiede, Zäpfchen drei Grundfarben. Die Netzhaut registriert nicht nur, sie verarbeitet auch, verstärkt zum Beispiel Kontraste.
    Primäre Sehrinde am Hinterkopf. Jeder Punkt des Sehfelds wird analysiert: gibt es senkrechte, waagrechte, schräge Kanten? Wohin laufen Bewegungen. Welche Farbe hat ein Fleck?
    Schläfenlappen. Interpretiert Formen auf immer abstrakteren Ebenen. Bilden die Kanten ein Dreieck? Ist das dann Teil einer Nase, also eines Gesichts? Nein, dann vielleicht die Spitze eines Hammers?
    Scheitellappen. Kümmert sich um die Verortung des Bildes im Raum, um Bewegungen. Der Hammer kommt von rechts oben, zielt auf den Nagel direkt vor dem Gesicht, trifft auf den Daumen daneben.
    Jetzt greifen viele Hirnregionen auf die Informationen zu. Liefern das Wort zum Bild, rufen Erinnerungen wach, aktivieren Bewegungsprogramme. In diesem Fall zuckt der Daumen zur Seite, weicht dem Hammer aus,
    Gehirn filtert Datenstrom
    Rohdaten, Analyse, Ergebnis. Klingt einfach, das Gehirn glättet, verbiegt und interpretiert die Daten aber von Anfang an, denn die Augen liefern kein klares Bild. Nur in der Mitte gibt es eine hohe Zäpfchendichte, daneben sogar einen blinden Fleck.
    Sterzer: "Was wir zu einem Zeitpunkt wirklich scharf sehen können, entspricht ungefähr der Größe unseres Daumennagels bei ausgestrecktem Arm. Das ist ein sehr kleiner Bereich, den wir wirklich scharf sehen können. Unsere Erfahrung der Wahrnehmung ist eine ganz andere. Wenn wir in diesem Raum sitzen und umherblicken, haben wir den Eindruck, wir sehen alles perfekt gestochen scharf."
    Die Augen springen beständig hin und her, liefern kleine Sinnesschnipsel. Das Gehirn baut daraus ein Gesamtbild, ohne Lücken. Die Daten aus den schwindelerregenden Bewegungsphasen der Augen werden dagegen ausgeblendet.
    Sterzer: "Die nehmen wir überhaupt nicht wahr, weil das Gehirn da sehr starke Mechanismen hat, um solche nicht hilfreichen Daten zu unterdrücken, aus unserem Bewusstsein herauszunehmen."
    Sehen, Fühlen, Riechen sind weitgehend unbewusste Vorgänge, weiß Philipp Sterzer heute. Ist die Situation klar, erfolgt eine eingefahrene Reaktion. Nur wenn etwas Unerwartetes passiert, Aufmerksamkeit erforderlich ist, gelangt ein kleiner, hoch verarbeiteter Aspekt der Wahrnehmung ins Bewusstsein, wird erlebt. Dann sind weit über das Gehirn verteilte synchrone Nervennetze aktiv, die wieder zurückwirken auf die frühesten Verarbeitungsebenen. Nur so kann ein einheitliches Erleben entstehen.
    Sterzer: "Die grundsätzliche Idee, wie Wahrnehmung funktioniert, ist eigentlich die, dass Wahrnehmung letztlich ein Produkt aus unseren Erwartungen, unseren Vorannahmen und den sensorischen Eingangssignalen ist. Unsere Erwartungen prägen in ganz bedeutsamer Weise unsere Wahrnehmung."
    Zwei Meter tief musste ich tauchen, um den Tintenfisch zu sehen. Aber dann hat er auch mich entdeckt, hat violett gedroht, sich dann im schwarzen Tintenwölkchen versteckt, bevor er davonschoss. Und ich hinterher, über Sand und Felsen und nochmals Sand, durch den Raum, bis die Zeit abgelaufen war, die Lungen zu platzen schienen, ich den Tintenfisch Tintenfisch sein ließ und auftauchte.
    Es sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben. Allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen.
    [Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, 1783]
    Wie die Dinge erscheinen, so Immanuel Kant, hängt von der Arbeitsweise unseres Verstandes ab, von Strukturen, die das Erleben überhaupt erst möglich machen.
    Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt.
    [Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, 1781]
    Wahrnehmung als Konstrukt
    Der Philosoph spricht von a priori, übersetzt "der frühere". Gemeint ist, dass diese Strukturen schon vor jeder Wahrnehmung bereitstehen. Die entscheidenden a priori waren für Kant Raum und Zeit. Beide Größen seien nicht einfach so in der Wirklichkeit vorhanden, vermutete er. Das Gehirn konstruiere sie. Tatsächlich glaubt Georg Northoff, entsprechende Strukturen im Gehirn sehen zu können. Am Institut für Geist, Bildgebung des Gehirns und Neuroethik im kanadischen Ottawa versucht er zu verstehen, wie Nervennetze Zeit und Raum erzeugen.
    "Es ist nicht der rein physikalische Raum und Zeit, sondern es ist eine virtuelle räumliche und zeitliche Struktur. Wir bringen also ein so genanntes zeitliches räumliches Muster und imprägnieren das auf die Dinge, die wir in der Umwelt wahrnehmen."
    Die erlebte Zeit geht nicht immer mit dem Ticken der Uhr parallel. In einem langweiligen Vortrag ziehen sich die Sekunden wie ein zäher Brei, dagegen verfliegen die Stunden in einem anregenden Gespräch. Nicht nur die intellektuelle Anforderung, auch die Stimmung beeinflusst den Fluss der Zeit. Menschen mit einer bipolaren Störung berichten, dass die Zeit in ihren depressiven Phasen fast stehen bleibt, während sie während der manischen Euphorie geradezu rast. Georg Northoff vermutet, dass diese subjektive Zeit viel mit den inneren Rhythmen des Gehirns zu tun hat. Sie zeigen sich deutlich, wenn das Gehirn nicht von äußeren Reizen beansprucht wird, in der Ruhe, wenn die Gedanken frei umher schweifen.
    "Jede Region im Gehirn, inklusive der sensorischen Areale, weist einen gewissen Ruhe-Aktivitäts-Level auf. Dieser Ruhe-Aktivitäts-Level verändert sich."
    Auch wenn nichts zu sehen, nichts zu hören, nichts zu tun ist, feuern die Nerven, bleibt das Gehirn hochaktiv. Inzwischen weiß man: Diese flexiblen inneren Rhythmen sind ganz eng mit dem Bewusstsein verknüpft. Sie könnten auch die Basis für das Zeitempfinden bilden, vermutet Georg Northoff in seinem Buch "Unlocking the Brain", "Das Gehirn entschlüsseln". Für das bewusste Erleben ist es wichtig, verschiedene Sinneseindrücke zu koordinieren. Eine schwierige Aufgabe, schließlich ist Licht schneller als der Schall. Wenn ein Löwe brüllt, dann registriert die Netzhaut das Aufreißen des Mauls lange bevor das Trommelfell in Schwingung gerät. Trotzdem entsteht im Bewusstsein die Illusion eines einzigen, einheitlichen Moments, des Brüllens.
    "Diese verschiedenen zeitlichen Dimensionen der verschiedenen Sinnesorgane, müssen irgendwie aufeinander abgepasst werden und auf einen, ich sage mal, gemeinsamen Referenzrahmen gestellt werden. Und diese gemeinsame Referenz wird möglicherweise durch die Eigenaktivität des Gehirns zur Verfügung gestellt."
    Etwa eine Drittelsekunde benötigt das Gehirn, um aus den vielen unterschiedlichen Sinnesdaten eine einheitliche Interpretation abzuleiten. Das bewusste Erleben ist deshalb nicht wirklich ein kontinuierlicher Fluss, sondern eine Abfolge von Momenten, die einander ablösen. Ganz im Sinne Immanuel Kants könnte dieser beständige Wechsel das Metronom darstellen, das jedes Erleben immer in die Zeit einbettet. Aber diese innere Zeit entspricht eben nicht der physikalischen Zeit, so wenig wie der Blick durch die Augen die Welt an sich zeigt.
    "Wir haben subjektiv das Gefühl, wir müssen einfach nur hinschauen, und dann sehen wir die Wirklichkeit, so wie sie ist. Sie erscheint einfach in unserem bewussten Geist. Und sehr viele neuere Erkenntnisse aus der Philosophie des Geistes, aber auch aus der Hirnforschung und der Kognitionswissenschaft zeigen jetzt ganz deutlich, dass das, was wir erleben, immer nur der Inhalt eines inneren Modells ist."
    Thomas Metzinger von Universität Mainz war der erste deutsche Philosoph, der die Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften für sein eigenes Fach ernst genommen hat. Hirnforscher können belegen: Wir erleben nicht die Welt, sondern eine virtuelle Realität, ein Modell. Das Verblüffende: sich selbst kann das Gehirn nicht beobachten. Der eigene Beitrag zur Wahrnehmung ist sozusagen sein blinder Fleck.
    "Weil wir aber solche Wesen, sind, die dieses Modell nicht als ein Modell erleben können, haben wir dieses ganz robuste Empfinden, direkt mit der Wirklichkeit in Kontakt zu sein."
    Nur ganz selten erleben wir einen Bruch im Erleben selbst, eine Irritation, die die Künstlichkeit der eigenen Wahrnehmung ahnen lässt. Etwa wenn ein roter Blitz ein grünes Nachbild erzeugt, für das es ganz sicher keinen entsprechenden Gegenstand in der Welt gibt.
    "In seiner Ganzheit ist die Grünheit eine Halluzination, die hat etwas damit zu tun mit Ermüdungsvorgängen im visuellen System, weiter hinten im Gehirn. Und genauso ist natürlich die Röte bei offenen Augen auch ein Konstrukt. Sie ist Teil eines Modells. Trotzdem ist es so, Bewusstsein ist nicht dasselbe wie Wissen."
    Auch optische Illusionen zeigen, dass wir nicht einfach die Welt sehen, sondern eine vom Gehirn erzeugte virtuelle Realität erleben. Berühmt ist etwa das Bild, das in einem Moment in der Mitte eine Vase zeigt und gleich darauf links und rechts zwei Gesichter, die sich ansehen. Eine objektive Interpretation dieses Bildes existiert schlicht und einfach nicht. Der Wahrnehmungspsychologe Philipp Sterzer:
    "Zu dem Zeitpunkt, wo Sie vielleicht gerade die Vase wahrnehmen, nehme ich gerade zwei Gesichter wahr. Und das verdeutlicht, dass es eben tatsächlich eine aktive Leistung unseres Gehirns ist, dem Reiz, dem wir gerade ausgesetzt sind, eine Bedeutung und letztlich eine Wahrnehmung zuzuordnen."
    Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.
    [Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, 1781]
    Philipp Sterzer: "Es ist nicht nur so, dass unsere Wahrnehmung von unserem Gehirn abhängt, sondern es ist noch viel mehr. Es ist ein aktiver Prozess, also ein konstruktiver Prozess. Unser Gehirn konstruiert die Wahrnehmung aus der Kombination unserer Vorannahmen, unserer Erwartungen und den Sinnessignalen. Und ich glaube, dieser konstruktive Prozess ist das, was noch einmal über Kant hinausgeht."
    Ich schwimme über dem Tintenfisch - er ändert die Farbe. Ein dunkler Schatten im Wasser über ihm verheißt nichts Gutes. In diesem Fall war der Schnorchler nur neugierig, aber die meisten Schatten sind hungrig und verursachen Schmerz. Grund genug, sich violett aufzuplustern und dann schnell zu verschwinden.
    Es muss aber doch ein Grund im Subjecte seyn, der es möglich macht, dass die gedachten Vorstellungen so und nicht anders entstehen. Dieser Grund wenigstens ist angeboren.
    [Immanuel Kant: Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll, 1790]
    Evolutionäre Entwicklung
    Rund 100 Jahre nach Kant entdeckte Charles Darwin einen Mechanismus, der die a priori in der Biologie verankerte. Thomas Metzinger:
    "Man muss einfach sehen, dass wir alle mit unseren geistigen und bewussten Eigenschaften aus einer langen evolutionären Geschichte stammen. Das heißt, die Sinneswahrnehmungen die wir heute haben, die Form von Gedächtnis, die wir haben, die Farberlebnisse, bei denen ging es nicht darum, dass sie die Wirklichkeit akkurat darstellen, sondern es ging darum, die inklusive Fitness der Lebewesen zu erhöhen, den Fortpflanzungserfolg."
    Die Evolutionstheorie erklärt, wie die besonderen Formen der Wahrnehmung entstanden sind. Für jedes Lebewesen sind seine Sinne und auch die komplexe Verarbeitung ihrer Daten durch das Gehirn bereits festgelegt, sind a priori im Sinne Immanuel Kants. Aber aus der Perspektive der Evolution haben sie eine lange Geschichte.
    "Im Lauf der Evolution und sogar im Leben jedes Individuums werden die Erfahrungen mit der Umwelt dem Fleisch des Organismus eingeschrieben. Sie bilden dann die a priori für die nächsten Erfahrungen. Sie bilden eine Art Spiegel der Welt, aber der ist nicht gottgegeben und festgelegt, er hat sich in der Evolution entwickelt. Ich glaube, das ist eine Erweiterung der Ideen Kants."
    Der Neurowissenschaftler Giuseppe Pagnoni erforscht die menschliche Wahrnehmung an der Universität im italienischen Modena. Immer wieder entdeckt er dabei Entsprechungen zur Philosophie, besonders zu Immanuel Kant.
    "Die a priori werden im Lauf der Evolution immer komplexer, weil die Struktur der Gehirne komplexer wird. Die Struktur der a priori, mit denen wir die Welt interpretieren, sieht ganz ähnlich aus, wenn wir sie philosophisch und wenn wir sie neurowissenschaftlich untersuchen. Es ist spannend, dass das Gehirn Strukturen enthält, um ein hierarchisches System von a priori zu verwirklichen."
    Eine wichtiger Konsequenz aus dem evolutionären Blickwinkel lautet: Erkenntnis kostet. Jeder neue Sinneskanal, jede komplexe Analyse der Umweltdaten verbraucht Stoffwechselenergie, Energie, die an anderer Stelle fehlt. Einer aktuellen Theorie zufolge ist der sparsamste Weg zur Erkenntnis nicht das Sammeln neuer Informationen, sondern das Fortschreiben alter Erfahrungen.
    Metzinger: "Was wir erleben in unserem Bewusstsein, ist nicht nur einfach so ein Modell der Wirklichkeit, sondern ein Modell, das ständig neue Hypothesen darüber macht, was wird meine nächste Sinneswahrnehmung sein. Und dessen Funktion es ist, Überraschungen zu minimieren, hässliche Überraschung. Und das war natürlich das, was unsere Vorfahren, was Tiere schaffen müssen. Sie müssen die Welt so wahrnehmen und auch ihr Leben so einrichten, dass es möglichst selten zu hässlichen Überraschungen kommt."
    Gehirn als Prognosemaschine
    Das Gehirn ist eine Prognosemaschine. Einige dieser Prognosen hat die Evolution den Genen fest eingeschrieben, andere werden im Lauf des eigenen Lebens erlernt. Sie alle erleichtern dem Gehirn seine Arbeit. Statt ständig sämtliche Sinnesdaten zu analysieren, registriert es nur Abweichungen vom bereits Erwarteten. Die werde dann nicht nur aufmerksam registriert, sondern auch für die Verfeinerung künftiger Prognosen genutzt. Thomas Metzinger.
    "Daraus ergeben sich mit der Zeit sehr komplexe Annahmen, die zum Beispiel sagen, es gibt eine Zeit, die fließt in eine Richtung. Ich habe einen Körper und das ist ein einziger Körper. Dieser Körper ist immer hier, an einem Ort im Raum, und jetzt. Eine andere Annahme, die Gehirne sehr schnell herausbilden, ist: Es gibt Gegenstände in der Welt. Das heißt, genau wie die a priori Vorstellungen bei Kant sozusagen einen Raum möglicher Erfahrungen bedingen, so entwickelt auch das menschliche Gehirn einen ganzen Set von Annahmen darüber, was es gibt und was es nicht gibt."
    Unser Erleben wird von den a priori Annahmen aber nicht nur vorbereitet, sondern auch interpretiert. Je nach eigener Stimmung erscheint ein eigentlich neutraler Gesichtsausdruck freundlich oder ablehnend.
    Philipp Sterzer: "Andere Einflüsse sind Überzeugungen oder kognitive Erwartungen. Typisches Beispiel ist der Placeboeffekt. Das kennt jeder, wenn ich der Meinung bin, dass eine Tablette einen starken schmerzlindernden Effekt hat, dann werde ich tatsächlich auch den Schmerzreiz als weniger stark wahrnehmen."
    Diesen Placeboeffekt gibt es nicht nur in der Schmerzwahrnehmung. Mit geschickten Manipulationen konnte Philipp Sterzer belegen, wie vorgefasste Meinungen auch den Sehsinn in die Irre leiten. Seine Probanden erlebte eine eigentlich zweideutige optische Illusion danach als stabiles Bild. Besonders interessant: Wer zu leicht wahnhaften Gedanken neigte, war anfälliger für diesen optischen Placeboeffekt.
    "Also Menschen, die eher geneigt sind an zum Beispiel Übernatürliches zu glauben, an Verschwörung zu glauben, Zusammenhänge zu sehen zwischen Dingen die sie beobachten, die sind auch eher bereit, Dinge entsprechend ihren Erwartungen und ihren Überzeugungen wahrzunehmen. Was dann, so ist die Theorie, letztlich wiederum auch das wahnhafte Denken verstärken kann. Wenn ich die Welt so sehe, wie ich denke, dann denke ich auch wiederum so, wie ich sehe."
    Wenn das Erleben mehr von den eigenen Erwartungen als von den Sinnesdaten geprägt wird, dann kann im Lauf der Zeit eine schizophrene Störung entstehen. Giuseppe Pagnoni deutet noch weitere medizinische Diagnosen als Konflikt zwischen a priori und Wirklichkeit. Nach einer Amputation etwa klagen viele Patienten über Schmerzen in einem Arm, der gar nicht mehr vorhanden ist. Die Augen sehen nichts, aber die Nervenreste im Stumpf senden noch Signale.
    "Ähnlich wie bei einer optischen Illusion gibt es widersprüchliche Informationen. Das starke a priori des alten Körperschemas versucht sich selbst zu bestätigen und verstärkt deshalb die Schmerzsignale aus dem Armstumpf."
    Interessanterweise lässt der Schmerz nach, wenn man den Patienten über einen Spiegel vorgaukelt, die fehlende Hand sei noch vorhanden. Vielleicht, weil dann der Sehsinn das ursprüngliche Körperschema, das a priori wieder bestätigt.
    Pagnoni: "Ärzte haben mir erzählt, dass Patienten heutzutage seltener über Phantomschmerzen klagen, und zwar seit es sehr realistische Prothesen gibt. Das passt gut zu unserer Theorie."
    Es gibt auch den umgekehrten Effekt. Nach einem Schlaganfall in der rechten Hirnhälfte kommt es gelegentlich zum Hemineglect. Die Patienten nehmen ihre linke Seite nicht mehr wahr. Nutzen den linken Arm nicht, essen nichts von der linken Seite des Tellers, reagieren nicht, wenn ihnen jemand von links zuwinkt.
    "Eine Interpretation dieses Phänomens lautet, dass das System keine Hypothesen mehr aufbaut über die linke Seite der Welt. Es fragt nicht länger, was passiert links, und deshalb bildet sich keine Wahrnehmung aus."
    Kantisch gesprochen: ohne a priori keine Wahrnehmung. Doch solche Fälle sind die Ausnahme. Im Allgemeinen lenken die a priori die Wahrnehmung in Bahnen, die zwar keinen direkten Kontakt zur Wirklichkeit ermöglichen, die aber auch nicht im Widerspruch zu ihr stehen.
    Beige Fläche, kaum Struktur. Dann ein leichtes Verschieben, das Oval des Tintenfischs springt klar ins Auge. Die Farbe wechselt mit einem Schlag ins tief Violette, fesselt den Blick. Die Form verändert sich, bläst sich auf, zieht sich plötzlich wieder zusammen. Der Eindruck von Geschwindigkeit, das Stillleben wird zum Film. Der Tintenfisch entschwindet. Ein diffuses schwarzes Wölkchen verschwebt langsam. Zurück bleibt beige Fläche
    Die Welt als Modell
    Philosophie und Hirnforschung sind sich einig: Die Wahrnehmung zeigt nicht die Welt, sondern ein Modell der Welt. Einen winzigen Ausschnitt, hochverarbeitet, zugerichtet nach den Bedürfnissen des Organismus. Selbst Raum und Zeit und auch Ursache und Wirkung werden aus dem Gehirn heraus erzeugt. Trotzdem gibt es natürlich eine Realität. Sie lässt sich nicht direkt erfahren, aber sie lässt sich einkreisen, argumentiert Thomas Metzinger.
    "Es ist zum Beispiel durchaus möglich, dass unser bewusstes Erleben immer auch auf Halluzinationen auch beruhen könnte und dass es aber trotzdem Wissen über die Welt gibt. Zum Beispiel durch wissenschaftliche Theorien, durch Experimente, dadurch dass viele Menschen zusammen die Wirklichkeit sozusagen triangulieren, ein intersubjektives Modell der Wirklichkeit entwickeln."
    Biologie: Sepia officinalis, gemeiner Tintenfisch. Zehn Arme, Linsenaugen, lebt am Meeresgrund, passt sich mit Farbzellen der Umgebung an.
    Chemie: eine geordnete Ansammlung von Molekülen. Vor allem H2O, dazu Fett, Eiweiß, DNA, Kohlehydrate und natürlich Farbstoffe.
    Klassische Physik: ein Hohlkörper mit Rückstoßantrieb, der wechselnde Lichtwellenlängen absorbiert und reflektiert.
    Quantenphysik: ein wildes Fluktuieren von Wahrscheinlichkeitsverteilungen, ein Mit- und Durcheinander von Elementarteilchen, Wechselwirkungen und Strahlung.
    Auch die Naturwissenschaft kann den Tintenfisch an sich nicht greifen, aber sie kann ihn mit Experimenten sozusagen eingrenzen. Viele Möglichkeiten ausschließen, und ihm so näher kommen. Nicht nur dem Tintenfisch, auch dem Gehirn kommen die Forscher immer näher. Aber bei der immer exakteren Analyse der Nervennetze gerät eines aus dem Blick:
    Thomas Metzinger: "Die Bläue des Himmels oder das wirkliche Widerliche, die aversive Qualität an einem Zahnschmerz, das ist wirklich real. Wir haben vielleicht Theorien oder philosophische Meinungen, aber unser Erleben ist ganz robust und sagt, der Schmerz ist einfach da und mir direkt gegeben, genau wie das Blau des Himmels."
    Legt man Versuchspersonen farbige Plättchen vor, können sie mehr als 150 Farbnuancen zu unterscheiden. Werden ihnen die Farben aber im Abstand von 30 Sekunden präsentiert, lassen sich weniger als 15 verlässlich identifizieren. Ähnlich bei Tönen, Menschen unterscheiden etwa 1400 Tonhöhen, erkennen aber nur etwa 80 wieder. Die feinkörnigen Details der Wahrnehmung lassen sich nicht erinnern.
    Metzinger: "Und das ist auch ganz sinnvoll. Also, wenn der Igel schnüffelnd in der Wiese rum läuft, und nach runter gefallenen Äpfeln sucht, dann muss er in dem Moment, online, sehr genau unterscheiden können zwischen faulen Äpfeln und welchen, die er noch fressen kann. Aber muss nicht dieses ganze reiche Erleben mit in sein Gedächtnis übernehmen und sich damit plagen."
    Wahrnehmung ist für jeden Organismus eine Investition. Sie muss sich lohnen und ganz offenbar kostet die komplette Speicherung viel zu viel Energie. Vieles existiert nur im Jetzt. Was man aber nicht erinnern kann, darüber kann man auch nicht sprechen und das lässt sich auch nicht weiter zergliedern und analysieren. Hirnforschung und Philosophie verstehen immer besser, nach welchen Regeln Wahrnehmung funktioniert, wie diese virtuelle Realität im Zusammenspiel aus Sinnesdaten und neuronalen a priori entsteht. Aber der besondere Zauber des Erlebens wird sich auf Dauer nicht auf diese Erklärungen reduzieren lassen.
    Thomas Metzinger: "Daraus ergibt sich aber eine sehr schöne Konsequenz: es gibt tatsächlich große Teile des menschlichen Bewusstseins, auch was Gefühlsnuancen angeht, Körperwahrnehmung in der Introspektion, die kann man nur im Jetzt erleben in ihrem ganzen Reichtum, aber die sind in dem Sinne auch privat, dass sie nicht zuverlässig kommuniziert werden können."
    Was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht und brauch es nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann.
    [Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, zweite Auflage, 1787 ]