Freitag, 19. April 2024

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September Song

Die Eingangsworte von Goethes unvergleichlichem Wahlverwandtschaften-Roman sind zu Recht berühmt geworden: "Eduard - so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter - Eduard hatte ..." Was das beste Mannesalter ist, verrät Goethes auktorialer Erzähler nicht direkt. Doch läßt sich Eduards Alter aus den verrätselten Motivgeflechten und Konstruktionsprinzipien des Romans erschließen, der von achtzehn Monaten zwischen Frühling und Herbst erzählt: die Zahl seiner Jahre ist so hoch wie die der je achtzehn Kapitel des zwei Teile umfassenden Romans - sechsunddreißig. Eduard ist somit genau doppelt so alt wie seine geliebte Ottilie. Der Held von Klaus Modicks neustem Roman mit dem sprechenden Nachsommer-Titel September Song hat das beste Mannesalter hinter sich und lebt dennoch oder eben deshalb recht behaglich. Er ist so alt wie sein Autor: nämlich, um nochmals auf bedeutende Prosa Goethes anzuspielen, "ein Mann von fünfzig Jahren", glücklich mit der Studienrätin Trudi verheiratet, Vater einer hübschen Tochter namens Marie und hinlänglich zufrieden mit seinem Beruf als Schulbuchlektor.

Jochen Hörisch | 18.09.2002
    Gebildet und belesen ist der promovierte Lektor auch. Als er seine aus einem Ferienclub zurückkehrende Tochter am Bahnhof abholt und erfährt, daß der Name ihres Lovers fast mit dem seinen identisch ist (Curd "mit CD" heißt der Freund/ Kurt "mit KT" heißt der Vater) und daß sie als Mitglied im Jugendorchester noch ihren Part aus Kurt Weills September Song üben muß, assoziiert er flugs - Die Wahlverwandtschaften. "Noch ein Kurt. Das war ja fast schon so wie in den Wahlverwandtschaften, wo die Männer, wenn ich mich recht erinnerte, fast alle Otto hießen." Wer eine so große und im ansonsten chaotischen Zimmer eine so wohl geordnete CD-Sammlung hat wie Marie, muß, so die Befürchtung des eifersüchtigen Vaters, auf einen Kurt mit CD fliegen. Aber eben dies: daß seine Tochter sich auf den jungen Namensvetter ernsthaft einläßt, muß der Vater verhindern. Denn der junge Mann ist, darauf weisen immer mehr Indizien hin, sein Sohn - Produkt eines verheimlichten Seitensprunges.

    Wie sag ichs meinem Kinde, wie sag ichs meiner Frau? Der Lektor berät sich an einem denkwürdigen und weinseligen Abend mit seinem alten Freund Feuerstein, dem er schon damals seine Affaire anvertraut hat. Und der hat - in kühner Wittgenstein-Variation - einen schlagenden Ratschlag bereit: worüber man nicht reden kann, darüber muß man schreiben, um Tochter und Mutter schonend vor der drohenden Inzest-Gefahr zu warnen. Eine tolle Geschichte, findet der Freund nicht zu unrecht. Die Story sei so gut, die könne und müsse man verkaufen - an Bodo Kirchhoff zum Beispiel. "Kommt nicht in Frage! Trudi hat mal was von dem auf dem Nachttisch gehabt. Furchtbares Zeug. Incola glaub' ich, so was in der Art." Auch Thomas Bernhard kann den Job nicht übernehmen, denn leben muß man schon, um ihm gewachsen zu sein. Und auch Handke kommt nicht in Frage - "der kann keine Beziehungen." Käme bloß noch Lukas Domcik in Frage. "Der könnte das. Der würd' das vielleicht kaufen. Hat allerdings nie Geld."

    Klaus Modick - und also ein Anagramm von Lukas Domcik - hat mit September Song den idealen Ferienroman geschrieben: geistreich und stilsicher wird - nicht ohne kolportagehafte, den Detektivroman verulkende Züge - eine bündige Geschichte erzählt, die geradezu provozierend gut ausgeht. Der im Geheimfach des Schreibtisches sorgsam verwahrte Brief der Geliebten mit dem wahrheitsträchtigen Namen Vera, in dem Kurt von seiner Vaterschaft erfährt, erweist sich als fake der Ehepartnerin. Sie hatte damals ihrerseits eine Affaire mit Feuerstein, von dem sie alles erfuhr, und sie wollte ihren Mann zum Geständnis animieren - auch hier schon nach der Maxime "worüber man nicht reden kann, darüber muß man schreiben". Nun vergibt man sich gegenseitig; die pater-semper-incertus-Zweifel im Hinblick auf die geliebte Tochter werden ausgeräumt; und man lebt und erlebt eine heitere Kontrafaktur zu Goethes Wahlverwandtschaften.

    Natürlich ist Klaus Modick tollkühn, wenn er nicht nur als Konkurrent von Bernhard und Handke, sondern gar als Konkurrent zum Verfasser der Wahlverwandtschaften auftritt. Es wäre nicht besonders fair, Gegenwartsprosa mit Goethes bestem Buch und also mit dem besten deutschsprachigen Roman überhaupt zu vergleichen - wenn Modicks Roman, der auch auf Willkommen und Abschied und auf das Goethe-Motiv des "Überschreitens von Schwellen" anspielt, das nicht selbst täte. Und also stellen wir fest: Goethes Roman ist konkurrenzlos. Zu ihm verhält sich Modicks kecke und kokette Prosa wie Tucholskys Schloß Gripsholm zum Wilhelm Meister. So souverän komponiert wie Modicks Winterroman Vierundzwanzig Türen ist sein Nachsommerbuch nicht. Aber eines ist es immerhin: eine geistreiche, mit klugen Verweisen unprätenstiös spielende Feier der Daseinslust auch und gerade in den Jahren, die nach den besten kommen.

    Dem Roman ist ein (für seine Verhältnisse rätselhaftes) Motto von Oscar Wilde vorangestellt: "Zu einer glücklichen Ehe gehören meistens mehr als zwei Personen." Zu einem guten Roman gehört meistens mehr als nur ein Autor.