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Serbien nach dem Ausnahmezustand

Vierzig Tage hat in Serbien Ausnahmezustand geherrscht. Gestern - wenige Tage vor dem orthodoxen Osterfest, das am kommenden Sonntag begangen wird - wurde das Sonderrecht wieder aufgehoben.

Norbert Mappes-Niediek | 24.04.2003
    Die Bilanz ist niederschmetternd - oder auch erhebend, je nach dem, von welcher Warte aus man es betrachtet. Mehr als 10.000 Serben sind in den Wochen nach dem Mord an Premierminister Zoran Djindjic zu Verhören einbestellt worden, gegen 4.500 wurde Untersuchungshaft verhängt. Die Polizei hob reihenweise Drogenringe aus, ließ Schmuggler hochgehen und verhaftete vor allem die, denen man ihre Zugehörigkeit zum organisierten Verbrechen schon an der Nasenspitze beziehungsweise der Automarke ansieht - nämlich jene schwarz gekleideten, gerade 25-jährigen Männer mit den verspiegelten Sonnenbrillen hinter dem Steuer eines teuren Mercedes oder BMW.

    Das anständige Serbien ist erleichtert, um nicht zu sagen glücklich. Über 70 Prozent haben den Ausnahmezustand begrüßt und der Regierung mit erst ungläubigem, dann zunehmend freudigem Erstaunen bei ihrer großen Säuberungsaktion zugesehen.

    Der Mord an Zoran Djindjic am 12. März gilt als restlos aufgeklärt. Von 18 Männern, die die Tat planten und ausführten, sind elf in Haft, sieben sind noch flüchtig. Dass zwei amtierende und ein pensionierter Offizier der Spezialpolizei unter den Tätern waren, dazu noch zwei Geheimagenten der Sicherheits- und Informationsagentur - Leute also, die den Premier eigentlich hätten schützen sollen -, das konnte die serbische Öffentlichkeit nicht überraschen.

    Überrascht hat die Serben nur, dass die Männer überhaupt gefasst wurden. Es geht, wenn man nur will! Der Rechtsstaat ist nicht tot, er hat nur geschlafen! Das ist die Botschaft, die von der "Operation Säbel" ausgeht, jener großen Verhaftungswelle, die durch den Ausnahmezustand erst möglich wurde.

    Warum erst jetzt? Das ist die einzige Frage, die sich der Mann auf der Straße in diesen Wochen des Ausnahmezustands gestellt hat. Wir haben die Frage an Dragoljub Micunovic gerichtet, heute Parlamentspräsident der neuen Union aus Serbien und Montenegro und als langjähriger Dissident und demokratischer Politiker einer der Männer der ersten Stunde nach dem Sturz von Slobodan Milosevic. Er antwortet auf die neue, ehrliche und bescheidene Art, die sich in serbischen Regierungskreisen gerade ausbreitet:

    Dass es diesen Zemun-Klan gab, der für das Attentat verantwortlich war, war ja kein Geheimnis. Alle waren öffentlich bekannt - einige als Polizeibeamte, andere als angebliche Geschäftsleute, von einigen wusste man mehr. Und wir haben uns diesem Wissen auch an die Polizei gewandt. Dort hat es dann immer geheißen, man habe nicht die nötigen Vollmachten, die Leute zu verhaften, und man sei auch nicht im Stande, genügend Beweise zusammenzubringen. Ich glaube aber, dass auch ein Mangel an Bereitschaft vorlag, sich diesen Leuten physisch zu nähern. Schließlich waren etliche von ihnen ja schwer bewaffnet. Wenn es innerhalb der Polizei nicht plötzlich nach dem Attentat so eine große Solidarität gegeben hätte, wären die Verhaftungen auch nicht leicht auszuführen gewesen.

    Die besonderen Vollmachten der Polizei sind seit gestern wieder aufgehoben. Nur die Solidarität und das wieder erwachte Berufsethos, die neu gewonnene Popularität der Sicherheitskräfte - das alles hält einstweilen noch an. Aber mit diesen Tugenden müssen auch zahlreiche Mängel kompensiert werden.

    Die 4.500 Verhafteten sind nun die Kunden eines schwachen, korrupten, noch aus dem alten Regime stammenden Justizwesens. Richter wurden unter Milosevic nach Parteimitgliedschaft aus-gewählt und an der kurzen Leine geführt, Staatsanwälte erst recht. Nun muss das Justizpersonal der Milosevic-Ära die Speerspitze im Kampf gegen das organisierte Verbrechen sein.

    Wie das gehen soll, weiß in Belgrad noch niemand. Justizminister Vladan Batic hätte sich noch eine Zeitlang das Fortbestehen der Sondergesetze gewünscht, konnte sich damit aber nicht durchsetzen. Denn gegenüber dem Ausnahmezustand gab es durchaus auch vernehmliches Stirnrunzeln - weniger in der Bevölkerung als unter Journalisten, deren Freiheit zur Berichterstattung auch beschnitten war, und vor allem unter europäischen Diplomaten.

    Staat und Gesetz auf der einen und Gerechtigkeit auf der anderen Seite haben im Bewusstsein der meisten Serben wenig miteinander zu tun - kein Wunder bei der langen Geschichte maskierter Diktaturen, die das Land durchleben musste. Was ist gerecht und was ist bloß geschriebenes Recht? Das Grundproblem zeigt sich in diesen Tagen in vielen Facetten. Auch Micunovic war mit den Erscheinungsformen des Ausnahmezustands nicht immer glücklich.

    Mir hat besonders missfallen, dass die Polizei und das Informationsbüro der Regierung ständig auf der Basis einzelner Verhöre Erklärungen herausgegeben hat. Anscheinend hat man bei der Polizei keine Rechtsanwälte! Der Stand der Ermittlungen wurde präsentiert, als handele es sich schon um gesicherte Tatsachen.

    ...was den Angeschuldigten sicher missfiel, aber der Regierung auf der anderen Seite sehr zupass kam. Mit den täglichen Polizei-Bulletins wurde die Öffentlichkeit so reich gefüttert, dass freie und kritische Berichterstattung kaum vermisst wurde. Mit den ständigen Erfolgsmeldungen schaffte man tatsächlich ein Klima des Aufbruchs, aber auch große Erwartungen, die jetzt die Gerichte einlösen müssen.

    Was juristisch als fagwürdig gelten muss, ist politisch unabdingbar. Werden die vielen verhafteten Groß- und Kleinkriminellen wegen Mangels an Beweisen irgendwann wieder freigelassen, sind die Serben um eine enttäuschte Hoffnung reicher. Eine solche Enttäuschung wäre bodenlos und für die weitere Entwicklung fatal. Die Resignation hat auf dem Balkan einen Jahrhunderte alten Atem.

    Aber die Geschichte hat auch Gutes zu bieten. Serbien kann, anders als die meisten der neuen Balkanstaaten, immerhin an eine große Staatstradition anknüpfen. Es entstand als Königreich im 19. Jahrhundert und erlebte gleichzeitig mit Deutschland und Italien eine große nationale Gründerzeit - nach einer Jahrhunderte währenden osmanischen Herrschaft und überhaupt in diesem Teil der Welt eine historische Leistung, die ihresgleichen sucht. Der berühmte serbische Nationalismus, der sich unter Milosevic so hemmungslos austoben konnte und die Nachbarvölker so übel in Mitleidenschaft zog, hat in jener Zeit seine Wurzeln. Jetzt kann sich das starke Nationalgefühl der Serben ausnahmsweise einmal segensreich auswirken - nicht als Feindschaft gegen andere, sondern als Impuls, die eigenen Angelegenheiten in die Hand zu nehmen.

    Der patriotische Schwulst des letzten Jahrzehnts ist auf einmal wie weggeblasen. In diesen Tagen traf in Belgrad die Nachricht ein, dass im Kosovo ein albanischer Mafioso und Freischärlerführer verhaftet wurde, der in Südserbien sein Unwesen getrieben hatte. Noch vor zwei Monaten hätte die Nachricht eine Welle antialbanischer Ressentiments und nationalen Selbstmitleids ausgelöst. Jetzt aber geben die eigenen Verbrecher den Serben genug zu denken, als dass sie sich mit fremden Gangstern abgeben müssten.

    Die Regierung hat die Chance genutzt, die sich nach dem Mord an Zoran Djindjic auftat, und kaum noch wahrnehmbare soziale Energien im Land geweckt. Selbst nach dem Sturz von Slobodan Milosevic am 5. Oktober 2000, der ja auch eine Tat des Volkes war, hat es eine solche Aufbruchstimmung nicht gegeben. Die befürchtete Destabilisierung, die die Mörder von Zoran Djindjic erhofft hatten, ist nicht eingetreten. Stattdessen hat es eine entschlossene Regierung geschafft, das genaue Gegenteil herbeizuführen: Statt sich zu zerstreiten, sind die Parteien und Organisationen der regierenden "Demokratischen Opposition Serbiens" enger zusammengerückt. Noch immer ist die Entscheidungsfindung schwierig, aber immerhin halten sich jetzt alle an erreichte Kompromisse. Was Zoran Djindjic zu Lebzeiten mit seinem Charme, aber auch mit Druck und etlichen Tricks zusammenhalten musste, ist durch seinen Tod jetzt umso enger miteinander verschweißt.

    Die Popularität der Regierung, die im vergangenen Jahr einen Tiefpunkt erreicht hatte, ist deutlich gestiegen. Zum ersten Mal sieht es so aus, als wenn das späte und schwierige Reformprojekt gelingen könnte. Die Entscheidung fällt im Herbst 2004 - noch anderthalb Jahre haben Djindjics Erben Zeit, eine Mehrheit auf ihre Seite zu bringen.

    Das Bündnis, das am 5. Oktober 2000 Slobodan Milosevic stürzte, war bald zerfallen. Vojislav Kostunica, der damals mit Hilfe der Straße seinen Wahlsieg über Milosevic durchsetzen konnte, beharrte streng darauf, die Gesetze der Milosevic-Ära einzuhalten und war dagegen, die Gefolgsleute des gestürzten Diktators einfach zu entlassen. Für ihn war der 5. Oktober im Grunde ein normaler Machtwechsel gewesen, dem man nur etwas hatte nachhelfen müssen. Nicht zuletzt Kostunicas Opposition gegen schärfere Einschnitte verdankten die kriminell verseuchten Polizeieinheiten, die in den Mord an Djindjic verwickelt waren, ihr Fortbestehen - der streng legalistische Kostunica sorgte dafür, dass auch die übelste Halbweltfigur nur nach einem ordentlichen Verfahren aus dem Polizei- oder Staatsdienst entlassen werden konnte.

    Einige besonders enge Gefolgsleute des ermordeten Premiers werfen Kostunica deshalb vor, er sei für den Tod seines Widersachers Djindjic verantwortlich. Ganz so weit will der alte Micunovic nicht gehen.

    Ich würde Kostunica nicht direkt die Schuld zuschreiben, aber in dem Falle trägt er doch eine historische Verantwortung dafür, dass gewisse Dinge eben nicht geschehen sind. Das würde ich schon gelten lassen. Kostunica hat sicher einige Fehler gemacht, politische Fehler, die er als solche, von seiner formalen Sicht der Dinge, nicht erkannt hat. Formal zum Beispiel war er nicht verantwortlich für die Entlassung des Geheimdienstchefs in der Republik Serbien. Aber als Präsident der Föderation und ausgestattet mit einer großen moralischen Autorität hätte er doch seine Verantwortung für die Sicherheit des Landes wahrnehmen und energisch die Ablösung dieses Mannes fordern müssen. Dann hätten wir die Aktivitäten des Milosevictreuen Geheimdienstes viel eher stoppen können. Kostunica präsentiert sich als Legalist und beachtet peinlich genau die offiziellen Zuständigkeiten. Aber er hätte doch erkennen müssen, dass sich hinter Leuten wie Geheimdienstchef Markovic und dem Generalstabschef Pavkovic der alte Apparat wieder stabilisieren konnte.

    Für Zoran Djindjic dagegen war der 5. Oktober 2000 eine Revolution - ein Ereignis, das seine eigenen Gesetze hervorbrachte und sich nicht in die Fesseln einer Verfassung einbinden ließ, die der gestürzte Tyrann noch selbst diktiert hatte. Diese Auffassung vom 5. Oktober als einer Revolution erklärt die Ruppigkeit, mit der sich Djindjic oft über formale Rechtsvorschriften hinwegsetzte - bei der Auslieferung von Milosevic im Juni 2001 sogar über ein Votum des Verfassungsgerichts.

    Für die überlebenden Anhänger des ermordeten Premiers war das legitim. Die Revolution des Jahres 2000 war ja unvollendet geblieben: Wichtige Machthaber und gefährliche Strukturen waren nicht angetastet worden. Der Mord an Djindjic war aus dieser Sicht ein konterrevolutionärer Rückschlag, der sich bei radikalerem Vorgehen hätte verhindern lassen - und nicht einfach ein Verbrechen, wie es überall passieren kann. Die Jagd auf mafiöse und terroristische Strukturen, die nach dem Mord eingesetzt hat, wird von den Djindjic-Anhängern nach dieser Logik auch als "sechster Oktober" bezeichnet - als notwendige Vollendung einer nur halben Revolution. Dragoljub Micunovic, der wohl als einziger serbischer Politiker noch in beiden Lagern Ansehen genießt, distanziert sich formal von dieser revolutionären Sicht, um sie dann doch voll und ganz zu bestätigen:

    Auf eine Art handelt es sich tatsächlich um so etwas wie den 6. Oktober, wenn auch nicht ganz. Was wir jetzt erleben, ist ausschließlich eine Säuberung von Kriminellen. Mit vielen Segmenten haben wir uns noch gar nicht sorgfältig beschäftigt - der Polizei, der Armee, mit denen, die eigentlich schon am 5. Oktober hätten gehen müssen. Auch unsere neuen Finanzmagnaten, die so genannten Tycoons, stehen nicht im Zentrum unserer Ermittlungen. Was die neuen Reichen betrifft, ist der 5. beziehungsweise der 6. Oktober noch nicht vorbei.

    Anders gesagt: Nach diesem 6. Oktober wird es auch einen siebten geben - vorausgesetzt, die Regierung hat tatsächlich die Kraft und den Atem, sich eines Tages auch mit der schrägen Geldelite der Ära Milosevic anzulegen. Der Schwung jedenfalls ist da - und weil Belgrad dringend Steuereinnahmen braucht, stehen auch jede Menge konkrete Anlässe für einen Konflikt mit den Neureichen ins Haus.

    Die Regierung unter dem neuen Premier Zoran Zivkovic kann hoffen, mit einer energischen Politik bei den Wählern Punkte zu machen. Für einen Kompromiss in den politischen Lagern ist der Zug dagegen abgefahren. Die Parteien des alten Regimes sind die natürlichen Gegner der Reform, auch wenn sie in diesen Wochen weitgehend still gehalten haben, um selbst nicht zu sehr ins Visier zu geraten. Die Milosevic-Sozialisten haben sich nach dem erzwungenen Abgang ihres Idols hoffnungslos zerstritten und genießen nicht einmal mehr die Sympathie des Haager Untersuchungshäftlings - der beim letzten Versuch, einen Präsidenten zu wählen, statt des Kandidaten der eigenen Partei die Wahl des Ultranationalisten Vojislav Seselj empfahl.

    Seselj selbst nahm sich kurz vor dem Djindjic-Mord selbst aus dem Rennen und stellte sich dem Haager Kriegsverbrechertribunal. Seine "Radikale Partei" driftet seither führerlos dahin - zu mehr als parlamentarischer Blockade ist sie kaum noch in der Lage. Dritter im Bunde ist die Partei der serbischen Einheit, ein skurriler, halb extremistischer, halb krimineller Verein, der von dem Freischärlerführer und Berufsverbrecher Arkan gegründet worden ist. Die Radikalen und die Arkan-Partei, beide mit der Halbwelt eng verbunden, sehen sich zurzeit einer Verbotsdiskussion ausgesetzt. Micunovic ist übrigens dagegen, sie zu verbieten. Besser wäre es, solche Parteien einfach bloßzustellen damit, dass ihre Anführer in schmutzige Geschäfte vermittelt sind. Dann ergreifen die Anhänger von selbst die Flucht. Verbietet man sie, werden sie zu Opfern und verschwinden in die Illegalität.

    In jedem Falle ist es höchst unwahrscheinlich, dass die alten Regimeparteien nach der nächsten Wahl noch eine ähnlich wichtige Rolle spielen werden wie nach der letzten. Das eigentliche, kaum lösbare Problem ist das Verhältnis zwischen der regierenden Demokratischen Opposition Serbiens, abgekürzt DOS, und ihrer abtrünnigen Galionsfigur Vojislav Kostunica.

    Zwischen den früheren Alliierten hat sich längst eine unmäßige Rhetorik eingeschliffen. Der Tod Djindjics hat Kostunica kein bisschen versöhnt - nicht auf einer einzigen der zahlreichen Gedenkveranstaltungen ließ der Widersacher sich blicken. Alle Hoffnungen, der Ruck in der serbischen Gesellschaft könnte auch die politische Opposition mit erfassen, sind gründlich zerstoben. Den Ausnahmezustand hat Kostunica von Anfang an als unnötig abgelehnt. Die Regierung hat dem gehassten Bremser auch keine Brücken gebaut. Kostunica durfte sich in seiner Ablehnung noch bestätigt fühlen, als die Ermittler der Regierung ihm und seiner Partei in den letzten Wochen immer näher kamen: Ein Belgrader Anwalt, den Kostunica einst als Innenminister vorgeschlagen hatte, geriet ebenso ins Visier der Fahnder wie der von ihm protegierte neue Geheimdienstchef. Ein umstrittener Geschäftsmann aus Bosnien, vor zehn Tagen in Belgrad verhaftet, soll für Kostunicas Partei gespendet haben. Schließlich waren auch Kostunica persönlich aus Regierungskreisen häufige Treffen mit dem obersten Geheimdienstler der Milosevic-Ära vorgeworfen worden - so geriet der politische Gegner immer mehr in den Geruch der Nähe zu Djindjics Mördern.

    Kostunica schlug verbal scharf zurück. Zuletzt nannte er den Ausnahmezustand einen "heimtückischen Staatsstreich" und verglich das Vorgehen der Regierung gegen die organisierte Kriminalität mit den Säuberungen Stalins nach dem Attentat auf den Leningrader Parteisekretär Sergej Kirow 1934. Maßloser geht es kaum noch. Dabei haben Kostunica und das Parteienbündnis DOS eine Menge gemeinsame Ziele: demokratische und marktwirtschaftliche Reformen und nicht zuletzt eine neue Verfassung, die noch in diesem Jahr in Kraft treten soll. Wie das in einem Klima heftigster Anschuldigungen möglich sein soll, ist allen Beteiligten schleierhaft. Micunovic kann nur bedauernd die Geschichte des Missverhältnisses rekapitulieren:

    Das war ein Streit von Anfang an. Objektiv betrachtet hatten wir nach dem Sturz von Milosevic nur eine einzige Machtposition: das Präsidentenamt der Föderation, und die hatte Kostunica inne. Im Bundesparlament hatten wir keine Mehrheit, später mussten wir uns dann mit den montenegrinischen Sozialisten arrangieren. In der Republik Serbien, in der Regierung wie im Parlament, saßen die Milosevic-Leute. In dieser Lage hat Kostunica gemeint, man müsse den streng legalen Weg gehen. Aber politisch gesprochen war die Atmosphäre so, dass die Massen von uns eine energische und sofortige Abrechnung verlangt haben und kein Warten oder Zögern. Das heißt, es gab durchaus revolutionäre Elemente. Deshalb haben wir es damals auch geschafft, wenigstens einige besonders korrumpierte Spitzenfunktionäre, etwa in der Polizei, sofort zu entlassen. Der Druck der Straße hat das möglich gemacht - nach der normalen Prozedur mit Neuwahl und Regierungsbildung hätte es vier Monate gedauert. Ob legalistisch oder revolutionär war immer ein großer Streitpunkt bei der DOS. Es war in der Geschichte unserer Machtübernahme schon so angelegt. Der Regierungswechsel war Ergebnis einer Wahl, die Kostunica gewonnen hat. Aber zugleich war es das Volk, das Milosevic mit Demonstrationen zur Anerkennung des Wahlergebnisses gezwungen hat. Kostunica war danach der einzige von uns, der als Präsident über legale Machtmittel verfügte. Wir anderen waren nur eine Minderheitsfraktion im Parlament.

    Der Streit zwischen Revolutionären und Legalisten hält in voller Schärfe an. Über nichts herrscht Einigkeit - am wenigsten darüber, mit welchen Mitteln der Streit geführt werden darf. Ein normaler Rechtsstaat ist Serbien noch lange nicht - so lange auf jeden Fall nicht, wie es sich nicht auf eine neue Verfassung geeinigt hat, die dann auch von allen politischen Lagern peinlich genau eingehalten werden muss. Misslingt die Einigung, so könnte sich die von Djindjic eingeführte Ruppigkeit im Umgang mit Verfassungsvorschriften zur dauernden Haltung, zu einer fortgesetzten politischen Unkultur entwickeln. Ohne Kostunica und seine Anhänger kann es eine neue Verfassung nicht geben. Auch noch soviel Sympathiegewinne in der Bevölkerung werden der Regierung die Einigung mit Kostunica nicht ersparen.