Donnerstag, 18. April 2024

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Serbische Literatur
Ein schönes Leben? So ein Unsinn!

Im Grunde sei die Welt ein fürchterlicher Ort, meint der serbische Bestseller-Autor Goran Petrović. Umso heiterer erzählt er in "Ein Sternenzelt aus Stuck" von den Einwohnern einer serbischen Kleinstadt, die an einem historischen Tag im Jahre 1980 zufällig gemeinsam im Kino sitzen und zu Figuren seines Märchens von der grausamen Geschichte des Balkans im 20. Jahrhundert werden.

Von Insa Wilke | 08.01.2014
    Goran Petrović möchte keine Bücher schreiben, die laut schreien. Er gehe lieber vorsichtig mit der Sprache um, erzählte er, als wir uns im August im Excelsior-Hotel in Belgrad gegenübersaßen. Orte wie das Excelsior-Hotel interessieren den serbischen Bestseller-Autor, weil sie für verlorene Erinnerungen stehen. Kaum einer weiß zum Beispiel noch, dass hier in diesem Hotel, von dem aus man das serbische Parlament sieht, Miloš Crnjanski, einer der klassischen Autoren der serbischen Moderne lebte, nachdem Tito ihn ins Land zurückgeholt hatte. Petrović faszinieren solche verlorenen Erinnerungen. Deswegen sind seine Bücher immer auch Geschichtserzählungen, so fantastisch sie zuweilen auch wirken.
    "Manchmal habe ich eine große Angst, weil wir zu viel verlieren und auch zu viel vergessen. Wenn man ein Wort vergisst, verliert man damit auch eine ganze Welt. Für meine Poetik sind die Details wichtig, die in unserer Zivilisation verloren gehen.
    Vielleicht werden Sie denken, dass diese ganzen Geschichten über die Geschichte sinnlos sind, Druck ausüben oder lästig werden. Aber sie zeigen, wie in der Historie, die Erzählungen von den "kleinen" Menschen verloren gehen. In einem durchschnittlichen Satz in einem Geschichtslehrbuch sind ja zigtausende Schicksale komprimiert."
    Mehr als dreißig solcher Schicksale erzählt Goran Petrović in seinem Roman "Ein Sternenzelt aus Stuck", den Mirjana und Klaus Wittmann jetzt in ein spielerisches Deutsch gebracht haben, das den mündlichen Ton des Originals aufnimmt. Einen Kino-Roman hat Petrović sein Buch genannt und gleich aufgelöst, was er damit in Anlehnung an den Stummfilm meint: Die Fortsetzungsgeschichte der Einwohner von Kraljevo, die sich 1980, an Titos Todestag zufällig unter dem Sternenzelt aus Stuck eines alten Kinos versammelt haben. Dieses Kino hat zwar bessere Tage gesehen, aber immerhin gibt es noch Platzanweiser und Filmvorführer, einen schweren blauen Samtvorhang und auch den Geruch nach Bohnerwachs hängt noch in der Luft. Ein geeigneter Ort für Rückblenden und Zukunftsvisionen.
    Petrović wurde 1961 in der serbischen Kleinstadt Kraljevo geboren. In die Geschichte ging der Ort aber ein, weil die Deutschen hier 1941 ein Massaker an der Zivilbevölkerung verübten. Auch im Roman kommt das vor. Den Überlebenden, so Petrovićs mal schelmenhafter, dann wieder sehr ernster Erzähler, sei es danach unmöglich geworden, je wieder aus vollem Halse zu singen.
    Aber das ist nur einer der Risse, die sich durch die den Ort ziehen. Petrović führt uns durch die serbische Geschichte von den 1930er Jahren bis heute, indem er vom Schicksal des Kinos und dem Leben seiner Besucherinnen und Besucher erzählt. Bemerkenswert ist dabei vor allem, wie Petrovićs Erzähler spricht, nämlich als Conferenciér und mit einem außerordentlichen Sinn für Situationskomik und groteske Figuren. Den Kult um Tito und die Reaktionen auf seinen Tod, kommentiert er im Roman zum Beispiel mit dieser Szene:
    "Auf einem kleinen Balkon neigte sich ein Mann über das Geländer und setzte die jugoslawische Fahne auf Halbmast. Danach verharrte er in Habachtstellung. Er wirkte traurig und stolz zugleich. Er trug Kniestrümpfe, einen Morgenmantel und auf dem Kopf ein Haarnetz."
    Traurig, komisch und stolz zugleich wirken auch Petrovićs serbische Figuren, die sich regelmäßig in Kraljevos Kino einfinden, um Filme aus der "Jugoslawischen Kinemathek" zu sehen. In der ersten Reihe sitzt zum Beispiel Genosse Avramović, dessen rechte Hand sich alle fünfzehn Minuten automatisch und "schwungvoll" zur Abstimmung hebt, eine Gabe, die ihn sehr bequem durchs Leben und die wechselnden Regime bringt. Weiter hinten sitzen einige jugendliche Taugenichtse, die in den Kriegen der 90er Jahre sinnlos ihr Leben lassen werden, wie uns der Erzähler verrät, oder der Säufer Bodo, der sich mit "Mitteln zur Nivellierung der Wirklichkeit" bestens auskennt.
    Fast übermütig folgt man dem Reigen aus Geschichten und Figuren durch die Sesselreihen und stolpert dann plötzlich über Bilder wie das vom Schneider Krasić, der wie eine Figur von Bertolt Brecht noch bei seiner Erschießung voll Bewunderung den eleganten Schnitt deutscher Uniformen studiert. Petrović reicht oft eine Szene, ein Satz, um seine Charaktere zu entwerfen. Zum Beispiel den Gymnasialprofessor, der unter einen Schüler-Aufsatz, der den sozialistischen Realismus allzu sehr verinnerlicht hat, schreibt: "Ein schönes Leben! So ein Unsinn! Ungenügend (5)." Bitter ist die Bilanz der politischen Entwicklung in Serbien, die dieser Roman zieht. Serbisch, heißt es, sei eine wunderbare geschwätzige Sprache, in der man nach "Herzenslust über alles reden" könne. Allerdings nur, "wenn alles schon erledigt, wenn nichts mehr zu ändern ist."
    Auf die Frage, warum Petrović seinen Roman an drei klassischen Literatur-Orten spielen lässt, nämlich in einem Hotel, einem Kino und am Ende im Zirkus, hat er geantwortet:
    "Hinter all dem steht eine Metapher: Das Hotel und das Kino sind Metaphern für ein Land, das es nicht mehr gibt. Der Zirkus ist die Karnevalisierung von allem, was wir heute erleben."
    Die heimliche Hauptfigur dieses Romans ist ein kleiner, mickriger Papagei, der nicht sprechen lernen will und das Weite sucht, sobald es Ärger gibt. Sein Name, den niemand laut auszusprechen wagt: Demokratie. Am Ende spricht der Vogel, aber ob das etwas verbessert?
    Goran Petrović ist ein großer Melancholiker, der heiter gegen seine Lebenserfahrung anerzählt, dass die Welt ein fürchterlicher Ort und kaum zu retten ist. Auch mit "Ein Sternenzelt aus Stuck" gelingt ihm wieder das Kunststück, erst täuschend vergnüglich wie sein Säufer Bodo die Wirklichkeit zu nivellieren, um uns gleich darauf gellend ins Ohr zu pfeifen.