Dienstag, 16. April 2024

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Sergei Prokofiev: Sinfonia concertante op. 125 / Nicolai Miaskovsky: Cello Concerto op. 66

Heute geht es in dieser wöchentlichen Schallplatten-Reihe um russische Musik für Cello und Orchester, gespielt vom norwegischen Cellisten Truls Moerk und vom englischen City of Birmingham Symphony Orchestra unter der Leitung des estnischen Dirigenten Paavo Järvi, erschienen beim Label Virgin Classics. Am Mikrofon begrüßt Sie dazu Ludwig Rink. * Musikbeispiel: Nicolai Miaskovsky - aus: Cellokonzert op. 66, 1. Satz Eine melancholische Stimmung haftet dieser Musik an: ist es die Klage über eine unerwiderte Liebe, die Trauer über den Verlust eines Mitmenschen, unergründbare Depression, Widerspiegelung einer düsteren spätherbstlichen Wetterlage oder Weltschmerz angesichts der unendlichen Weite einer Landschaft? Musik erweckt Stimmungen, Gefühle, und einer ihrer Vorteile ist es, mehrdeutig zu sein, Projektionsfläche für die Vorstellungen und momentane Befindlichkeit des einzelnen Zuhörers. Sobald Text hinzukommt, erscheint uns die Tonmalerei eindeutiger: Liebeskummer im alten italienischen Madrigal, religiöse Themen in Kantaten und Passionen, romantische Todessehnsucht in der Vokalmusik des 19. Jahrhunderts sind vertraute Beispiele. Aber auch in der rein instrumentalen Musik wird seit langem, nicht erst seit Franz Liszt, geschildert, gedichtet, werden Eindrücke, "Impressionen" und Gefühle in Töne gesetzt. Im frühen sozialistischen Musikverständnis war dieser außermusikalische Inhalt beliebte Brücke zum jetzt sehr wichtig genommenen unerfahrenen Hörer, dem man rein abstrakte, "formalistische" Experimente nicht zumuten wollte. Auch Musik sollte "gegenständlich" malen, etwas faßliches ausdrücken, und wenn die Themen dann auch noch über Allgemein-Menschliches hinausgingen und konkret wurden, war dies den Kulturbürokraten natürlich besonders recht. Von Nikolai Miaskovsky, dem Schöpfer der soeben gehörten Musik, gibt es da zum Beispiel eine Sinfonie, die die Umwandlung eines Dorfes in eine sozialistische Kollektivwirtschaft widerspiegeln soll oder eine andere, die den Heroismus des ersten Non-Stop-Polarfluges und den "fröhlichen Geist der sowjetischen Jugend" zum Inhalt hat. Sein Cellokonzert entstand in den letzten Monaten des Jahres 1944, und auch ohne die Brille des sozialistisch geschulten Musikkritikers, der bei jedweder Kunstäußerung vor allem den gesellschaftlich-politischen Zusammenhang sucht, läßt sich unschwer heraushören, daß dieses Cellokonzert unter dem Eindruck der Kriegsjahre mit ihren schrecklichen Ereignissen entstanden ist. * Musikbeispiel: Nicolai Miaskovsky - aus: Cellokonzert op. 66, 3. Satz Nikolai Miaskovsky lebte von 1881 bis 1950. Nachdem er zunächst die Offizierslaufbahn eingeschlagen hatte, begann er erst im Alter von 25 Jahren ein Musikstudium am Konservatorium von St. Petersburg, wo Nikolai Rimski-Korsakow einer seiner Lehrer war. Den 1. Weltkrieg machte er als Pionieroffizier mit; nach seiner Rückkehr wurde er 1921 als Kompositionslehrer an das Moskauer Konservatorium berufen. Neben dieser langjährigen Hochschultätigkeit übernahm er eine Vielzahl von Ämtern und Aufgaben: er war Mitglied im Volksbildungskommissariat, in der künstlerischen Sektion des Staatlichen Gelehrtenrates, arbeitete im Staatsverlag für Musik, im Verband Sowjetischer Komponisten und im Redaktionskollegium der Zeitschrift Sowjetskaja Musyka. Seine Verdienste wurden von der Regierung mit einer Fülle von Auszeichnungen und Ehrungen anerkannt: mehrfacher Stalinpreis, Titel eines Volkskünstlers, Verleihung des eher seltenen akademischen Grades eines Doktors der Kunstwissenschaften. Er glaubte an seinen Auftrag, die Musik als schaffender Künstler, als Lehrer, als Verbandsfunktionär und als Autor behutsam von den großen klassischen Traditionen eines Tschaikowski in die neue Zeit führen zu müssen. Allein 27 Sinfonien legen davon Zeugnis ab: Neben aller künstlerischen und handwerklichen Perfektion sind sie eine Art Tagebuch der Epoche, Spiegelbild der ungeheuren Wandlungen im Selbstverständnis der Menschen, im gesellschaftlichen und politischen Umfeld. Dabei tritt uns keine individualistische Betroffenheit mit radikalen Experimenten entgegen, sondern der eher klassische Versuch, den persönlichen Gefühlen universellen Ausdruck zu verleihen oder, anders gesagt, die Empfindungen und Eindrücke der Kontrolle einer einmal gewählten Form zu unterziehen. * Musikbeispiel: Nicolai Miaskovsky - aus: Cellokonzert op. 66 Der norwegische Cellist Truls Moerk und die Musiker des City of Birmingham Symphony Orchestra unter Leitung von Paavo Järvi sind äußerst engagierte Anwälte dieser wenig bekannten Musik von Nikolai Miaskovsky. Sie treffen den richtigen Ton für diese gemäßigt moderne, immer fesselnde Tonsprache voller Ausdruck und dramatischer Kraft und lassen verstehen, daß Miaskovsky neben Alexander Glasunow als bedeutendster Sinfoniker der älteren sowjetischen Komponisten-Generation gilt. Neben diesem Cellokonzert bietet die neue Virgin-CD noch Musik eines etwas jüngeren, hierzulande aber deutlich bekannteren russischen Komponisten: die "Sinfonia concertante" op. 125 von Sergei Prokofiev, auch ein Werk für Cello und Orchester, oder vielleicht besser für Orchester und Cello, denn der Komponist ist immer darauf bedacht, die virtuose Sololinie den beherrschenden Stimmungen des Werkes unterzuordnen und die Virtuosität nicht zum Selbstzweck werden zu lassen. Es entstand 1950 in enger Zusammenarbeit mit dem damals noch jungen Cellisten Rostropowitsch, und vom letzten Satz existiert eine alternative Fassung, die hier erstmals eingespielt wurde und die Virgin in Form einer zusätzlichen zweiten Gratis-CD von gut 12 Minuten Dauer mitliefert. * Musikbeispiel: Sergei Prokofiev - aus: Sinfonia concertante, 3. Satz Die Neue Platte - heute mit Musik für Cello und Orchester von Nicolai Miaskovsky und Sergei Prokofiev, gespielt von Truls Moerk und dem City of Birmingham Symphony Orchestra unter der Leitung von Paavo Järvi.

Ludwig Rink | 20.09.1998
    Einen schönen Sonntag wünscht Ihnen Ludwig Rink.