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Sergej Lebedew
Blick in die russische Vergangenheit

Mit seinem Debütroman sorgte Sergej Lebedew vor zwei Jahren für literarisches Aufsehen. Der Autor, Jahrgang 1981, schrieb mutig gegen die Geschichtsvergessenheit in seiner Heimat an und brach damit so manches Tabu. Diese Linie hat er nun in seinem neuen Roman "Menschen im August" fortgesetzt - und das nicht ohne Folgen.

25.02.2016
    "Menschen im August", so der Titel des zweiten übersetzten Romans des jungen russischen Autors, sollte zunächst in Russland nicht erscheinen. Im Klappentext der deutschen Ausgabe teilt der Verlag mit, das Buch dürfe in Russland nicht veröffentlicht werden, die deutsche Übersetzung sei die Weltpremiere. Das stimmt wohl, aber in letzter Minute kam noch eine Wende. Was steckt dahinter? Die Übersetzerin Franziska Zwerg klärt auf.
    "Die Erscheinungsgeschichte ist folgende: als wir das Buch gemacht haben, als ich es übersetzt habe, es lektoriert wurde, war es völlig unklar. Mittlerweile hat sich ein Verlag gefunden, es ist der Alpina Verlag, in Moskau. Es gibt keine direkte Zensur. Es ist nicht so, dass gesagt wird, dieses Buch darf auf keinen Fall erscheinen. Es ist eher so, dass die Verlage in Russland in der derzeitigen Situation eine Selbstkontrolle ausüben. Es gab ja in Russland unlängst diese Gesetze, zum Beispiel das Verbot der Propaganda von Homosexualität oder auch ein Gesetz, dass die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg nicht verunglimpft werden darf. Und sobald Szenen auftauchen, die eventuell gegen derartige Gesetze verstoßen könnten, nehmen die Verlagsleiter selbst gleich Abstand von derartigen Publikationen. Es ist eine Selbstzensur, es fehlt da offensichtlich an Zivilcourage. Aber jetzt hat sich doch ein Verlag gefunden, der das machen will, und so wird das Buch in Russland erscheinen."
    Mutige literarische Aufarbeitung der stalinistischen Sowjetunion
    Wem auch immer sei gedankt, denn dieser Roman ist ein wichtiges Zeugnis und ein mutiges Unternehmen, die finstere Vergangenheit der stalinistischen Sowjetunion dem Vergessen zu entziehen und literarisch das aufzuarbeiten, was die russischen Memorial-Gruppen schon seit über zehn Jahren in praktischer Politik zu verwirklichen versuchen. Bereits seit seinem ersten Roman geht Sergej Lebedew unerschrocken daran, die Geschichte der Menschen aus den Gulags, den Lagern von Verbannten und Deportierten ins Bewusstsein der Gesellschaft zu heben. Er schreibt von so trostlosen, deprimierenden Orten und so verödeten und verkarsteten Landschaften, von so verzweifelten Schicksalen, dass man sich als Leserin fragt, was davon ist noch Realität, wo beginnt die Fiktion. Franziska Zwerg, seine Übersetzerin, hat keine Zweifel:
    "Ich denke, man kann das Meiste für bare Münze nehmen, auch wenn er vielleicht nicht alles selber gesehen hat. Seine Eltern haben als Geologen gearbeitet, und auch er selbst ist Geologe und war schon früh auf Expeditionen nach Zentralasien in den Norden Russlands, also genau diese Orte, die er in seinem Roman beschreibt, das heißt, er hat sehr viel von dem gesehen; aber natürlich gibt es auch immer Fiktion. Natürlich ist einiges zu Ende gedacht, was nur visuell als Anregung wahrgenommen wurde."
    Der Roman setzt ein im August 1991, zwei Ereignisse fallen für Sergej Lebedew zusammen, ein politisches und ein persönliches:
    "Es gibt in dem Roman diese Szene, wo er beschreibt, wie er in der Ljubjanka war als Augenzeuge im August 1991, als das Denkmal für Feliks Dzerzynski gestürzt wurde. Die Fernsehbilder haben wir ja alle noch so ein bisschen in Erinnerung. Das war ein sehr starker symbolischer Akt, den er auch als solchen in seinem Roman wertet. Dzerzynski war der Gründer des KGB, und für ihn war das der Aufbruch in eine neue Zeit. Deshalb 'Menschen im August', das sind die Menschen; die damals dabei waren und ein neues Land aufbauen, aus den Fehlern der Vergangenheit lernen wollten."
    Das Tagebuch der Großmutter als historisches Dokument
    Die junge Generation hoffte, dass die Geschichte einen neuen Weg einschlagen würde, dass die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt würden. Für den Protagonisten in Lebedews Roman kommt noch eine individuelle Erfahrung hinzu. Seine Großmutter Tanja überreicht dem Enkel ihr Tagebuch, das einsetzt in den Tagen des Bürgerkriegs am Ende des Ersten Weltkriegs und bis in die Gegenwart reicht. Der Ich-Erzähler, wie auch der Autor selbst, erfährt daraus, wie sich die Familiengeschichte in einer Kette von Verlusten und Traumata in der Geschichte des letzten Jahrhunderts spiegelt. Eine große Familie von etwa hundert Verwandten verschwindet, übrig bleibt nur der Ich-Erzähler, der Autor. Und der fühlt sich verantwortlich, die Geschichte all der Verfolgten, Verbannten und Ermordeten zu erzählen.
    Zunächst ist der Enkel begeistert, bis er merkt, das Tagebuch verschweigt mehr, als dass es die Familiengeschichte wiedergibt. Auch in diesem Dokument herrscht das große Schweigen vor, von seinem Großvater Michail zum Beispiel erfährt er nichts. Die Großmutter hat ihr Tagebuch "entfiebert", wie die Übersetzerin Franziska Zwerg so trefflich den Ton für diese Reinigung findet. Aber es passiert noch etwas: der Enkel findet ein zweites, ungereinigtes Tagebuch der Großmutter, eingebunden in einen Lyrik-Buchumschlag als Tarnung und nun erfährt er die andere Seite der Wahrheit. Damit ist sein Weg vorgezeichnet. Der Protagonist wird ein "Sucher", wie es im Roman heißt; er begibt sich auf die Spuren der Verschollenen, nicht nur der Opfer, auch die der Täter. Ein Kräuterweiblein auf einem ukrainischen Markt gibt ihm die Richtlinie vor: "Suche keine Lebenden, suche Tote".
    Auf Spurensuche in ehemaligen Lagern
    Der anonyme Ich-Erzähler - der Leser erfährt wenig von ihm, er ist ein junger Mann mit einer zerborstenen Familie – will sich der Vergangenheit der Toten stellen, der aus der eigenen Familie, er arbeitet aber auch im Auftrag von Menschen, die ihn für Geld anheuern. Er reist in die entlegensten Wüsten von Kasachstan, er sucht ein Lager in Karelien auf, er begibt sich ins Kriegsgebiet in Tschetschenien. Mal ist er erfolgreich, mal scheitert er. In einer Stelle im Roman heißt es: "die blinde Vergangenheit herrscht über die blinde Gegenwart". Die Gegenwart, das sind die wüsten 90er-Jahre unter der Präsidentschaft von Boris Jelzin:
    "1991 hatten wir den Putsch, Jelzin auf dem Panzer, der Mann der Stunde, der Macher, der aber zunehmend in den späteren Jahren große Alkoholprobleme hatte und auch auf dem internationalen Parkett immer mehr zur Witzfigur wurde. Wir haben dann 1993 die Verfassungskrise, als das Weiße Haus zusammengeschossen wurde. 1994 ging schon der erste Tschetschenienkrieg los. Es gab die große Privatisierung – aus der Privatisierung folgte, dass sehr viele Menschen in eine bittere Armut gerutscht sind, und andererseits Oligarchen alles an sich gerissen haben. Die Gesellschaft ist in materieller Hinsicht auseinandergebrochen. Es gab unglaublich viel Kriminalität in den 90er-Jahren, Unsicherheit, Rentner, die vergeblich auf ihre Rentenzahlung gewartet haben. Das ist eine Parallele zu den Zeiten des Bürgerkriegs, so wie seine Großmutter das erlebt und auch beschreibt. Diese Zeit der Unsicherheit, diese Angst führt zu dem Bedürfnis nach Sicherheit und Strukturen. Und die letztlich dann den Weg für einen Mann wie Putin ebnet."
    Bedrückende Szenarien mit höchster sprachlicher Intensität beleuchtet
    Der Roman endet mit dem Machtantritt Wladimir Putins, der Geheimdienst übernimmt wieder das volle Kommando. Die Hauptfigur Lebedews gerät nun in die Fänge dieser alten, neuen Gewalt, die am Ende sein Leben zerstört und auch das Glück mit seiner Frau vernichtet. Die Sehnsucht, mit gefälschten Pässen ins Ausland fliehen zu können, zerschlägt sich. Alle Hoffnungen auf eine humane Gesellschaft sind vorerst gescheitert. Jeder lässt sich kaufen und korrumpieren, wenn er politisch unter Druck gesetzt wird, auch der Ich-Erzähler. Der starke Mann, auch Stalin, steht wieder hoch im Kurs. Das ist eine bittere Erkenntnis, mit der Sergej Lebedew die Leser aus seinem Roman entlässt.
    Dennoch ist es ein Roman, der durch seine Sprachgewalt und seine mächtige Phantasie in Atem hält. Der Autor versteht es, bedrückende Szenarien mit höchster sprachlicher Intensität zu beleuchten; Gesichter und Landschaften wie eigene Gemälde zu beschreiben, mal abgründig abstoßend, mal in poetische Farben getaucht. Es ist für die Übersetzerin Franziska Zwerg eine große Herausforderung, auf die wechselnden Tempi der Stimmungen immer den richtigen Ton und Takt zu finden. Wie auch beim ersten Roman des Autors ist es ihr überzeugend gelungen, einen fließenden und kräftigen Text zu entwerfen:
    "Für mich war diese Arbeit absolut faszinierend, ich bin vollkommen in die Arbeit eingetaucht, in seine ganze Sprachwelt, und was ich für mich da persönlich auch herausgenommen habe, ist, dass er einige Gedanken formuliert, die ich vorher noch nirgends so gelesen oder gehört habe. Das war für mich eine wirkliche Bereicherung. Es sind lebensphilosophische Gedanken, die auch absolut erstaunlich sind für so einen jungen Autor. Es sind aber auch politische oder gesellschaftliche Betrachtungen. Da sind Gedanken bei ihm, die ich sehr neu und sehr spannend finde. Er selbst betrachtete sich als Kind einer verlorenen Generatio, einer Generation, die noch in die späte Sowjetunion hineingeboren wurde, die gibt es heute nicht mehr. Dann sind sie in dem neuen Russland groß geworden, dieses Russland gibt es heute auch nicht mehr. Es gibt eine große Emigrationsbewegung, da ist bisher kein Ende abzusehen. Soweit ich ihn verstanden habe, hat er entschieden, zunächst mal in Russland zu bleiben, um mit seinem literarischen Schaffen zu bezeugen, was passiert in der Gesellschaft. Das ist für ihn eine Aufgabe des Schriftstellers. Lebedew ist eine Außenseiterfigur, er fühlt sich oft sehr isoliert und allein. Ich finde, er ist etwas Besonderes."