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Serie: Das Judentum und Jesus von Nazareth
Einfluss durch die großen Laienbewegungen

Das Judentum in der hellenistisch-römischen Epoche war ein sehr vielfältiges Phänomen. Es gab unterschiedliche Gruppen, die sich in soziologischer und religiöser Hinsicht voneinander teilweise deutlich unterschieden - und viele dieser Strömungen haben auch das Wirken Jesu beeinflusst.

Günther Bernd Ginzel im Gespräch mit Rüdiger Achenbach | 31.03.2015
    Blick auf den Jerusalemer Tempelberg mit Felsendom und Klagemauer
    Blick auf die Jerusalemer Altstadt: In Opposition zur Tempelaristokratie entstanden zur Zeit Jesu viele bedeutende Laienbewegungen. (picture alliance / dpa/ Marius Becker)
    Rüdiger Achenbach: Eine andere wichtige aus der Bibel, vor allem aus dem Neuen Testament bekannte Gruppe, sind die Schriftgelehrten und Pharisäer, wie es dort heißt, die im Gegensatz zur Priesteraristokratie auch eine große Laienbewegung waren sozusagen – mit demokratischen Elementen.
    Günther Ginzel: Und die basiert wiederum auf einer sehr langen Tradition. Die kommen ja nicht aus dem luftleeren Raum. Das beginnt die Zeit der Zaddikim, die Zeit der Gerechten. Und aus dieser Bewegung der Interpretation, des Lernens, des Suchens nach Wahrheit, des Suchens nach Antworten, des Suchens nach dem Willen Gottes gingen die Pharisäer heraus, denn es ist ja eines klar. Indem hier Menschen zusammenkamen, entstand eine Gelehrtentradition, entstand eine Kaste von Gelehrten auf ganz breiter Ebene, die zunehmend neben dem Tempel trat. Daraus erwuchsen die Pharisäer als eine Bewegung – gar nicht so sehr am Anfang gegen den Tempel, aber neben dem Tempel, die davon ausgingen, dass Opfer alleine kann es nicht sein. Buße und Umkehr sind entscheidender als alle Feuer- und Rauchopfer. Das ist die Bewegung, die nun entstand und sozusagen im zunehmenden Maße den Tempelkult relativierte.
    Achenbach: In dem sie zur Heiligung des gesamten Lebens eigentlich fortschreitet. Hier beginnt ein Nachdenken darüber, Essen und Trinken, Arbeit und Ruhe, Geschlechtsleben, Hygiene und alles, was zum Lebensalltag dazu gehört, ist mit in den Dienst Gottes mit hinein zu beziehen.
    Monopol der Interpretation durch Tempelaristokratie kippt
    Ginzel: Ja, das ist das eine. Und gleichzeitig beginnt etwas, was dann einmündete in Bet Knesset, in das Haus der Versammlung, in die Synagoge – in jedem Dorf, in jeder Stadt unabhängig vom Tempelkult, unabhängig vom zentralen Heiligtum in Jerusalem, das nach wie vor blieb – man pilgerte an den Wallfahrtsfesten selbstverständlich zum Jerusalemer Tempel. Nirgendwo werden die – auch von Jesus später wird das Opfer ja nicht abgelehnt. Das bleibt ja erhalten, aber es bleibt es eben nicht, sondern man kommt zusammen. Auf einmal ist das Monopol der Interpretation oder sozusagen der Beherrschung der Thora gebrochen, es wird den Mächtigen weggenommen und plötzlich ist eine Dorfgemeinschaft da, die zusammenkommt und lernt. Und es entstehen ganz neue Formen, was auch mit der Veränderung der sozialen Wirklichkeit zu tun hat. Zunehmend ist Israel nicht mehr nur ein Volk von Viehzüchtern und Umhertreibenden, sondern es gab eine Verstädterung. Was ist in der Verstädterung wichtig? Einmal die Aristokratie, aber noch viel wichtiger sind die Handwerker. Und nunmehr beginnt mit den Pharisäern eine ganz breite neue Tradition einer Handwerkerreligion, einer Religion des kleinen Mannes, der davon ausgeht – genau, wie Sie es richtig gesagt haben – wie lebe ich denn? Ich esse. Wie esse ich, was esse ich, wie gehe ich mit meiner Frau um, wie gehe ich mit den Kindern um, wie gehe ich mit den Mitmenschen um, wie verhalte ich mich gegenüber meinen Tieren? Es sind die Lebensfragen, die Alltagsfragen, die plötzlich in das Judentum, in die Synagoge hineinkommen. Und somit entsteht etwas, was ich einfach nenne eine Handwerker-Theologie. Denn das Entscheidende war das Ideal, dass man eben arbeitete. Keiner von all diesen Gelehrten lebte von seiner Gelehrsamkeit - im Gegensatz zur Tempelaristokratie. Mit anderen Worten: Wir sehen, die Demokratisierung, wie wir heute sagen würden, des gesamten jüdischen Lebens mit vollkommen neuen Fragen – auch nach Recht und Gerechtigkeit, nach sozialer Gerechtigkeit, nach dem Verhalten von Juden und Nicht-Juden.
    Achenbach: Während sich diese Pharisäer in der Politik den Römern gegenüber, den Sachen gegenüber zurückhaltend verhalten haben, weil sie die Wiederherstellung Israels ja eigentlich von Gott her erwarteten, gab es aber auch eine Gruppe, die aus religiöser Motivation auf einen bewaffneten Widerstand setzte.
    Ginzel: Ja, die Zeloten. Sie waren die Revolutionären, sie waren das, was wir zum Teil heute auch sagen würden, sie waren Attentäter. Sie waren eine religiös, fundamentalistisch, messianisch orientierte Bewegung, die davon überzeugt war, sie wissen, was richtig ist. Sie waren Radikale, sie waren Fanatiker. Sie kämpften gegen die Römer, sie verübten Hinterhalte. Sie wollten mit dem Schwert in der Hand die Römer aus dem Land werfen, um die messianische Zeit herbei zu zwinge. Und sie wurden zunehmend unmenschlich, wie es diesen Bewegungen allgemein eben zu eigen ist. Deswegen mordeten sie nicht weniger Juden, die sich als viel zu friedfertig oder als viel zu lahm oder eben als Gegner einstuften. Sie wurden zu einem großen Unglück für Israel.
    Achenbach: Erwähnen sollte man in diesem Zusammenhang auch noch eine Gruppierung, die überhaupt nicht unwichtig ist in dieser Zeit – und zwar sind es die Essener. Obwohl sie innerhalb das Judentums einen ganz besonderen Weg eingeschlagen haben.
    Ginzel: Die haben einen besonderen Weg eingeschlagen. Das Interessante ist, man weiß auch gar nicht so genau, wie viele es so waren. Es waren offensichtlich mehr, es war eine breitere Bewegung. Und natürlich war eines der Zentren allgemein bekannt, in Qumran am Toten Meer. Aber das war natürlich auch nur eine Bewegung. Sie waren mit die radikalsten, die die Tempelaristokratie als korrupt, ja als sündhaft, als blasphemisch ablehnten, die auch mit den Pharisäern nicht viel am Hut hatten, die mit den Zeloten nichts am Hut hatten, die im Grunde genommen sagten, was wir heute als Juden leben ist ein zutiefst sündhaftes Leben. Das ist alles ganz schrecklich. Es gibt nur eins: radikaler Neubeginn. Und das schaffen wir nur, indem wir uns zurückziehen. Und wie machte man das in der damaligen Zeit? Man ging in die Wüste.
    Achenbach: Viele Forscher sind ja heute der Meinung, dass Jesus von Nazareth zumindest eine Zeitlang mit dieser Gruppe der Essener oder der Gruppierung in Qumran, wie man sie auch immer nennen will, in Berührung gekommen ist. Nicht zuletzt scheint es eine enge Verbindung oder Beziehung zwischen Johannes dem Täufer und dieser Bewegung gegeben zu haben. Vor allem durch das rituelle Taufbad, das ja auch bei den Essener eine große Bedeutung spielt.
    Einzelne Gruppierungen hatten viele Berührungspunkte
    Ginzel: Nun muss man vor allen Dingen sehen, alle diese Gruppierungen kannten Zwischenstationen, Zwischenstadien. Man kannte einander, es gab Berührungen, es gab Ränder, die sich wechselseitig beeinflussten. Von daher ist es durchaus denkbar, dass man zwar nicht essenisch lebte, aber trotzdem von den Essenern und ihren Vorstellungen beeinflusst wurde.
    Achenbach: Zum Beispiel bei Jesus von Nazareth mit seiner Verurteilung des materiellen Besitzes, der ja sehr häufig vorkommt.
    Ginzel: Mit seiner Verurteilung des materiellen Besitztums, mit seiner Bereitschaft, sich bei den vergleichsweise milden Pharisäern, sich eher den radikaleren anzuschließen. Auch das ist ja innerjüdisch ganz interessant. Auch innerhalb der Evangelien haben wir ja sehr unterschiedliche Jesus-Darstellungen. Von daher ist es hier ein Einfluss dessen, was wir haben. In der Tat wichtig ist diese Taufbewegung. Taufen ist etwas anderes, das ist eine christliche Uminterpretierung. Die Wirkung dieses Taufbades hing davon ab, wie ehrlich Buße und der Wille zur Umkehr und zur Rückkehr und zum Neubeginn war. Das Symbolische, was bis heute in der Mikwe vorhanden ist. Und es ist eine reine Ironie, dass Mikwe im Deutschen Frauenbad heißt, das ist, als wenn nur Frauen das tun würden, sondern selbstverständlich gerade im rassidischen Judentum gehen jüdische Männer sehr oft in die Mikwe. Genau, weil sie das Gefühl haben, ich bin sündig, ich muss wieder neu anfangen. Dementsprechend spielt sozusagen das Untertauchen im lebendigen Wasser damals wie heute eine wichtige Rolle.
    Achenbach: Also wir erkennen ganz deutlich, auch wenn man sich die christlichen Evangelien anschaut, es gibt Elemente, es gibt Bezugspunkte zu der Bewegung der Essener, die dort deutlich zu Tag treten – vor allem auch durch das, was man nachher die Taufbewegung genannt hat. Auffällig ist andererseits aber auch, dass dieser Jesus von Nazareth in den Evangelien als Rabbi angeredet wird. Nun war Rabbi damals noch kein akademischer Titel, wie das heute der Fall ist. Aber auch schon zurzeit Jesu war es so, dass es eine Ehrenbezeichnung war für jemanden, der sich in der Auslegung und im Umgang mit den religiösen Schriften auskannte.
    Jesus war das pharisäische Ideal
    Ginzel: Ja, wer war denn dieser Jesus? Er war das pharisäische Ideal. Der Sohn eines Handwerkers und selbst ein Handwerker. Er lebte diese pharisäische Tradition von Thora und Aboda, von Lehre und Arbeit, nämlich die Einheit.
    Achenbach: Nun werden ja die Pharisäer in den Evangelien als die eigentlichen Gegner von Jesus dargestellt. Schaut man sich aber die Schriften des Talmud an, also die Schriften der Schriftgelehrten und Pharisäer, dann erkennt man, dass auch dort heftige Selbstkritik in den eigenen Reihen stattfindet. So warnt der Jerusalemische Talmud vor allem vor ganz bestimmten Pharisäern. Also das, was man eigentlich von Jesus auch her kennt.
    Ginzel: Klar. Also der Begriff, dass Pharisäer auch Heuchler sein können, ist ein gut pharisäischer Begriff. Sie warnen sehr vor der Heuchelei, vor den Frömmlern. Herr Achenbach, was nützt Ihnen die schönste Frömmigkeit, wenn die anderen das nicht mitkriegen. Es reicht denen meist nicht. Und das alles ist immer ganz nah an der Heuchelei. Bei Jesus müssen natürlich eins sehen, wir diskutieren über etwas, was im Grunde genommen erst diskutiert wurde in einer überlieferten nachvollziehbaren Form lange nach Jesus. Das heißt, das, was wir über Jesus wissen, entspricht – wie das nicht unüblich war im Jüdischen wie im Antiken auch – einer gewissen mündlichen Tradition, die dann relativ später von irgendwelchen Redaktoren, die dann die Namen der Evangelisten bekamen, zusammengefasst wurden. Es ist nicht zuletzt das überliefert, festgehalten und herausgestellt worden, was in der jeweiligen späteren Epoche für die damaligen Zeitgenossen das Wichtige war. Was für Jesus wirklich das Wichtigste war, können wir nur erahnen, aber wirklich authentisch wissen tun wir es nicht.