Freitag, 19. April 2024

Archiv

Sex, Dschinn, Religion
1001 Nacht gegen 114 Suren?

Orgien, Homosexualität, Aphrodisiaka und ein Gott, der alles lächelnd billigt: Durch die Geschichten aus 1001 Nacht weht der radikale Wind der Freiheit. Aber können sie einen Gegenentwurf zum herrschenden Islam darstellen?

Von Dalila Zouaoui-Becker | 22.03.2020
Gesamtausgaben des berühmten Märchenwerkes "1001 Nacht" an einem Verkaufsstand auf der Internationalen Buchmesse Kairo
Gesamtausgaben des berühmten Märchenwerkes "1001 Nacht" an einem Verkaufsstand auf der Internationalen Buchmesse Kairo (dpa / picture alliance / Matthias Tödt)
Die Geschichten aus "Tausendundeiner Nacht" begleiten die Autorin und Übersetzerin Dalila Zouaoui-Becker schon von Kindesbeinen an, und noch heute staunt sie über die freie Welt der Erzählerin Scheherazade. Diese Welt war stets zu liberal für religiöse Fundamentalisten, die nie aufgehört haben, das satanische Werk zu bekämpfen. 1985 wurde es beispielsweise auf Geheiß der Muslimbrüder öffentlich in Kairo verbrannt. Gerade in Zeiten wie den unsrigen, in denen der islamistische Extremismus das Thema Religion wieder in den Vordergrund gerückt hat, wird die Botschaft der Scheherazade umso dringlicher. Deutlicher denn je zeigt sich ihre ungeheure Sprengkraft, aber auch ihre tiefe Weisheit.
Es lohnt sich zuzuhören, wenn die berühmte Erzählerin dabei hilft, manche Fragen zu beantworten: Lässt sich die tolerante und hedonistische Botschaft von "Tausendundeiner Nacht" wirklich als ein Anti-Koran verstehen? Wie löst man den scheinbaren Widerspruch zwischen dem Motto genießen und genießen lassen und der Anbetung Allahs? Wie islamisch überhaupt sind die arabischen Erzählungen? Kann man Gott selbst gegen Gotteskämpfer in Stellung bringen, also die Religion selbst als Waffe gegen die Religion und ihre Exzesse benutzen? Schafft das die Literatur oder letzten Endes doch nur ein religiöser Schlüsseltext?
Fragen, die sich auch das Abendland stellen muss. In der westlichen Welt haben geschönte und gekürzte Versionen des Werks dafür gesorgt, dass es seiner Sprengkraft beraubt wurde und völlig zu Unrecht als bloße Märchensammlung galt. Damit halten die Erzählungen aus "Tausendundeiner Nacht" dem Orient wie dem Okzident einen Spiegel vor und zeigen, wie Gesellschaften die eigene Geschichte und fremde Kulturen über zentrale Texte wahrnehmen.
Dalila Zouaoui-Becker ist Übersetzerin und freie Autorin. Sie lebt in Köln und schreibt über Sprachen, Literatur und Religion(en), unter anderem: "Homère l’Oriental" im französischen Onlinemagazin "Orient XXI" (2017). Außerdem Vorträge über Sprache, Literatur und Religion am Romanischen Seminar der Universität Köln.

Wir erleben gerade eine historische Epoche, in der sich die Religion mit Gewalt zurückmeldet. Der Islamismus bringt eine ganze Region und ihre Religion in Misskredit. Vom Zusammenprall der Kulturen ist die Rede. Sogar in Talkshows im Westen streitet man darüber, wie man einzelne Suren des Korans auslegen könnte und sollte. Wie ein liberaler Islam aussehen könnte und ob es ihn geben kann. Stillschweigend wird geradezu davon ausgegangen, dass der Koran das einzige wirkmächtige Werk der arabischen Welt ist, das uns etwas zu sagen hat.
Dabei gibt es ein Buch aus der arabischen Erzähltradition, das viel Liberales zu sagen hat zum Kampf der Kulturen, zur Religion und zur Toleranz. Ein Buch, das die Fundamentalisten und Islamisten immer wieder verbieten und verbrennen wollten, weil der Wind der Freiheit durch seine Seiten weht. Ein Buch voller selbstbestimmter Frauen, voller Alkohol- und Drogengenuss, voll mit Sex vor der Ehe oder gar Ehebruch, aber auch voller Weisheit und Liebe zu Gott.
Ein Buch, in dessen Vorwort es heißt:
"Dieses köstliche und sehnlich erwartete Buch wurde mit der Absicht geschrieben, einem jeden nützlich zu sein, der darin liest."
Gerade heute!
Es handelt sich um das Buch "1001 Nacht", "Alf Layla wa Layla" in seiner Originalsprache Arabisch. Genauer übersetzt: Tausend Nächte und eine Nacht – ein Werk der Weltliteratur.
Die Rahmengeschichte ist bekannt: Der Monarch Schahriyâr, wie sein Bruder vor ihm, war von seiner Frau betrogen worden. Alle Frauen sollten von nun an für sein Unglück büßen, und so schlief er jede Nacht mit einer Jungfrau, die er dann am Morgen ermorden ließ. So war er sich sicher, ihr erster und letzter Liebhaber gewesen zu sein. Die Wesirstochter Schahrasad schafft es jedoch, den rachsüchtigen König von seinem grausamen Projekt abzubringen, indem sie ihm jede Nacht eine Geschichte erzählt, die in der folgenden Nacht ihre Fortsetzung findet. Literatur als Überlebensmaßnahme einzusetzen, das halte ich persönlich für eine der wichtigsten Leistungen von Schahrasad.
Gegen den Fundamentalismus soll eine Märchensammlung helfen?
Eine Welt mit fliegenden Teppichen und Pferden? Mit Affen, die zu Feder und Tinte greifen? Mit singenden Bäumen, Felsen in menschlicher Gestalt und mit in Steine verwandelten Menschen? Mit Feen und Monstern?
Ja. Es gibt allerlei Gründe, weshalb es sich lohnt, auf die Stimme der Schahrasad, der Erzählerin, zu hören. Es handelt sich um ein reiches Meisterwerk, dessen Karriere im 9. Jahrhundert begann, dessen Geschichten die Menschen aus dem arabischen Kulturraum oft ein Leben lang begleiten und sie in besonderen Momenten zur erneuten Lektüre aufrufen.
Ein Buch, das durch das Miteinander lebt und dazu aufruft
So ist es auch mir ergangen. Dabei habe auch ich 1001 Nacht in der Kindheit zunächst nur, wie so viele in Okzident und Orient, in Unkenntnis und zu Unrecht als bloße Märchensammlung angesehen. Zuerst war ich der Sprachzauberin Schahrasad dankbar für die magische Welt, die sie mir eröffnete, und deren Pforten sich danach nie wieder geschlossen haben. Wie der Koran ist 1001 Nacht ein Buch, das in der direkten Rede lebt. Ein Buch, das durch das Miteinander lebt und dazu aufruft. Ich habe es zuerst gehört, nicht gelesen. Am Anfang sprach Schahrasad zu mir durch meine Mutter.
Wie bei Schahrasad wurde auch bei uns nur nach Sonnenuntergang erzählt, denn Geschichten am helllichten Tag zu erzählen oder zu hören, würde Unglück bringen. Das war die Regel, und man hielt sich strikt daran, zu Hause, in der kleinen algerischen Stadt, in der ich geboren bin und Kindheit und Jugend verbrachte. Noch heute verschmelzen für mich die Stimmen meiner Mutter und Schahrasads – der beiden begnadeten Erzählerinnen. Die Worte, mit denen Schahrasad ihre Geschichten begann, haben sich in mein, sowie in das kollektive Gedächtnis von Generationen in der arabischen Welt eingebrannt.
"Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König und Herr des rechten Urteils…"
Es ist eine schier unversiegbare Quelle, aus der sich schöpfen lässt. Schon die traditionelle Erzählpraxis von 1001 Nacht ist ein Lehrbeispiel für das friedliche Nebeneinander von Erzähltraditionen. Das bewies schon meine Mutter, die gerne improvisierte, genau wie Schahrasad. Im Repertoire meiner Mutter mischten sich Stücke eigener Fantasie mit Passagen aus 1001 Nacht und mit Erzählungen, die sie dem lokalen berberisch-arabischen Fundus entnahm.
Erst viele Jahre danach habe ich entdeckt, dass einige Geschichten meiner Kindheit mit der Geschichtensammlung verwandt waren, die den Titel 101 Nacht, Mi’at Layla wa Layla trägt. 2005 hat der algerische Literaturwissenschaftler Schuraybit Ahmad Schuraybit eine Fassung davon, ergänzt mit anderen Erzählungen, veröffentlicht. Dieses, mit dem östlichen 1001 Nacht engverwandte und trotzdem eigenständige Werk, entstammt dem andalusisch-maghrebinischen Raum. Seit 2012 liegt es in einer deutschen Übersetzung vor, von Claudia Ott, der deutschen Übersetzerin von 1001 Nacht.
Das war die Schahrasad meiner Kindheit und das war nur die "jugendfreie" Seite der Schahrasad. Ihre andere Seite habe ich erst später entdeckt, und je mehr ich mit 1001 Nacht vertraut war, desto mehr vertieften sich meine Liebe, Dankbarkeit und Bewunderung.
1001 ist eine Ode an die Macht von Erzählungen
Denn 1001 ist zuallererst eine Ode an die Macht von Erzählungen, angestimmt von einer Frau. Schahrasad bietet dem grausamen König die Stirn. Und sie erzählt von weiteren starken Frauen. Frauen, die die sexuelle Initiative ergreifen und sogar selbst um die Hand des Mannes anhalten. Frauen, die in den Augen der späteren Fundamentalisten die von Gott gewollte Unterordnung des weiblichen Geschlechts übertreten und verletzen. Schahrasad lässt sich nicht länger von den Erzählungen der anderen dominieren, sie setzt ihre eigenen Geschichten dagegen. 1001 Nacht ist in dieser Hinsicht ein feministisches, emanzipatorisches Werk. So heißt es an einer Stelle:
"Eine Frau fragte ihre Nachbarin: Wie kommt es eigentlich, dass wir Frauen nur einen einzigen Mann heiraten dürfen, während die Männer vier von uns heiraten und noch dazu so viele Konkubinen und Freudenmädchen nehmen können, wie sie wollen? – Das kommt, weil alle Propheten, Heiligen, Kalifen und Kadis Männer waren."
1001 Nacht ist aber auch ein multikulturelles Werk par excellence. Vielschichtig vereint es in sich alle möglichen Genres und Formen: arabischer Ritter-Roman, Novelle, Märchen, Lyrik, Krimis und Horrorstorys, Tierfabeln, Witze, Burleske und Satire, Weisheitsliteratur, Herrscher-Anekdoten, Legenden von frommen Menschen, dargeboten in Prosa und Gedichten. Es wendet sich an Menschen aller Schichten, bietet Hocharabisch ebenso wie Dialektsprache. Seine Rahmengeschichte geht auf mittelpersische Quellen zurück, einige Elemente haben Vorläufer in der altindischen Literatur, es finden sich Bezüge zum Talmud. All das zeigt, wie Kulturen sich gegenseitig befruchten.
Aber 1001 Nacht hat viele skandalträchtige und aufrührerische Seiten – was viele im Orient und Okzident nicht wissen, weil sie, wie ich, nur beschönigte und bereinigte, jugendfreie Versionen kannten. Das vollständige Buch von 1001 Nacht fiel mir relativ spät in die Hände; ich war um die Dreißig. Während der Studienzeit, in Straßburg, hatte mir eine palästinensische Mitstudentin ein künstlich gebundenes Exemplar geliehen, das sie von ihrem Vater als Geburtstagsgeschenk bekam. Das war eine der Neuauflagen der arabischen Bulak-Version, die 1835 erstmals in Kairo herausgebracht wurde.
1001 Nacht ist über weite Strecken ein Manifest der Lust. Das Buch schildert äußerst freizügig Orgien, zum Beispiel diese:
"Jetzt fielen die zehn Männer über die zehn Mädchen her. Die Herrin trieb es mit einem schwarzen Sklaven, Masud. Der, nachdem sie ihn rief, aus dem Wipfel eines Baums zur Erde sprang, mit einem Satz bei ihr war, ihre Waden hob, sich zwischen ihre Oberschenkel warf und sie beschlief. Und so sah es nun aus: Die zehn lagen auf den zehn, Masud auf der Herrin, und bis zum Mittag hörten sie nicht auf damit."
Das ist auch ein Angriff auf die soziale Hierarchie – die Königin vergnügte sich mit einem Sklaven. Von solchen Übertretungen wimmelt es geradezu in den Nächten. Zur Erinnerung: Die Geschichtensammlung beginnt mit einem Ehebruch. Hier weht ein Freiheitswind, der die Schleier der Frauen oft schon beim ersten Rendezvous wegfegt. Die Liste der betrogenen Ehemänner wächst ständig; sogar den Dschinn, den übernatürlichen Wesen, werden die Hörner aufgesetzt. Hier hat man Sex außerhalb und vor der Ehe, hier variiert man Liebesspiele und Liebespartner, hier haben, last but not least, Frauen Verkehr mit Tieren. Hier diktiert der Eros die Gesetze. Hier verlieben sich Männer in Männer und Frauen in Frauen.
1001 Nacht ist auch eine Ode an den Humor. Oft und laut und herzlich lachen die Figuren und bringen uns zum Lachen. 1001 Nacht bietet Stoff genug für eine schöne Witzesammlung.
Ein Fest der Musik
Die Welt von 1001 Nacht ist ein Fest der Musik. Ständig wird hier musiziert und gesungen, denn, so lehrt es uns Schahrasad:
"Wo getrunken wird, ohne zu singen, soll der Wein besser im Krug bleiben."
Der islamisch geprägte Raum, vor allem der arabische, kann auf eine reiche Musikkultur zurückblicken. Für die islamistischen Fundamentalisten allerdings ist Musik "haram", verboten: Sie würde von Gott ablenken.
1001 Nacht ist auch ein einziges Gelage: Der Wein, der verbotene Wein fließt hier in Strömen, bei den Würdenträgern wie beim einfachen Volk. Zu seiner Wirkung erfahren wir:
"Zu beiden Seiten gestützt von seinen Sklaven Masrur und Wasif, ging, schwankend von Trunkenheit und Rausch, ar-Raschid."
Der Sturzbetrunkene, von dem hier die Rede ist, ist kein geringerer als der Kalif Harun ar-Raschid. Der höchste islamische Würdenträger, der Nachfolger des Propheten Mohammed, der "Beherrscher der Gläubigen" selbst ignoriert das göttliche Weinverbot.
Man hat immer getrunken in der islamischen Welt. Nun, in 1001 Nacht, übertreiben es die Figuren schon einmal und trinken den Wein sogar schon zum Frühstück.
In 1001 Nacht kreist jedoch nicht nur der Weinkelch, auch Haschisch, Opium und ähnliche Substanzen machen die Runde. Es ist ein Manifest des Freude, sein Motto lautet: Genießen und genießen lassen – jenseits fundamentalistischer Verbote. Denn, wie Schahrasad es sagt:
"Das Leben rennt wie die Gazell‘/ Mit den schwarz-weißen Äugelein."
Leben und lieben, das ist das Gebot der Stunde – genießen in vollen Zügen, bis zum Tod. Damit ist 1001 Nacht ein Werk, welches das Diesseits feiert. Das Jenseits und seine versprochenen Wonnen kümmerten das Volk hier wenig. Fundamentalisten, welche angeblich die Schlüssel zum jenseitigen Paradies haben, finden hier kein Gehör. Und als ob das nicht schon zu viel des Guten wäre – in 1001 Nacht erteilen die Frauen den Männern gerade in der Theologie eine Lektion.
Stellen wir Schahrasad die "Gretchenfrage" aus Goethes Faust I:
"Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?"
Nach allem, was wir von ihrer Welt bis jetzt wissen, würden wir auch versucht sein, wie Gretchen fortzufahren:
"Allein wir glauben, du hältst nicht viel davon."
Ist das ein gottloses Werk? Nein, es ist voll…Gott. Mit einem Gotteslob beginnen die Erzählungen der Schahrasad und mit einem Gotteslob schließen sie. Der Name Gottes wird dort angerufen. Gott, den die Araber, auch die Christen unter ihnen, Allah nennen. "Bei Gott!" gehört zu den meistzitierten Formulierungen aus 1001 Nacht, ebenso wie
"Es gibt keine Kraft und keine Stärke außer bei Gott, dem Erhabenen und Mächtigen!"
Gott ist ständig präsent
Gott ist ständig präsent. Ist er aber der Gott des Islam? Die Figuren in 1001 Nacht sprechen die Schahada aus, das islamische Glaubensbekenntnis:
"Es gibt keinen Gott außer Gott und Mohammed ist sein Gesandter."
Die Figuren verrichten die täglichen Gebete, vollziehen die rituellen Waschungen, feiern die religiösen Feste, unternehmen die Pilgerfahrten nach Mekka. Sie zitieren und rezitieren den Koran:
"Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen"
Das ist die so genannte Basmala. Damit öffnet der Koran. Damit beginnt auch 1001 Nacht.
"Gottes zu gedenken ist das Größte"
Sprecherin:
Das kann man lesen in 1001 Nacht und das liest man auch im Koran:
"Und verrichte das Gebet […]. Aber Gottes zu gedenken bedeutet noch mehr" (Sure 29, Vers 45).
"Gottesgedenken", Dhikr auf Arabisch, verweist auf eine Sufi-Tradition und eine der wichtigsten Übungen der Mystiker. Das Gottesgedenken sei besser als das Gebet, propagierten etwa große Mystiker wie Ibn Arabi, der im 13. Jahrhundert wirkte und offenbar seine Spuren in den Erzählungen hinterlassen hat, die in ihrer langen Geschichte die verschiedensten Einflüsse aufnahmen. Damit ist das Buch durchaus islamisch, aber Schahrasad und das Volk ihrer Nächte vertreten ein eigenes Verständnis von der Religion – und sie deuten den Koran großzügiger. Der Glaube ist immer das, was die Gläubigen daraus machen. Ibn Arabi sagt, dass
"Gott dem Bild entspricht, das man sich von ihm macht."
Er stützt sich dabei auf ein Hadith Qudsi, eine der Überlieferungen, in der Gott selbst aus dem Munde des Propheten spricht:
"Ich bin so, wie mein Diener von mir denkt."
In 1001 Nacht ist das ein Gott, bei dem sich Sinnlichkeit und Frömmigkeit nicht widersprechen. Es ist ein Gott, der mit dem Eros Hand in Hand geht:
"Gott hat auf der ganzen Welt nichts Schöneres erschaffen / Als zwei Liebende, die in demselben Bett liegen..."
Viele solche Stellen findet man in 1001 Nacht. Es ist ein Gott, der sich durch die Schönheit der Schöpfung offenbart. Die Feinde der Schönheit sind die Feinde Gottes, denn nach einem Hadith des Propheten ist Gott schön, arabisch "jamil" und liebt die Schönheit, "Jamal".
Friedliches Miteinander der Religionen
Mehr noch: Die Geschichten von 1001 Nacht führen vor, wie Menschen unterschiedlicher Religionen friedlich zusammenleben. So zum Beispiel in der Geschichte vom "Buckligen, dem Freund des Kaisers", in der neben Muslimen auch Juden und Christen in ein komisches Abenteuer verstrickt sind, in dem alle den Galgen riskieren und alle dem Galgen entkommen, nicht zuletzt weil sie sich solidarisch zeigen. Außerdem treten Christen und Juden auch als fromme Gläubige auf, die von Gott belohnt werden.
Dementsprechend schreibt die deutsche Übersetzerin Claudia Ott:
"Der Islam erhebt sich [dort] an keiner Stelle über die anderen monotheistischen Religionen […] Vielmehr spricht aus den Passagen, in denen Religion thematisiert wird, ein allgemein monotheistisches Glaubensprinzip."
Die Übersetzerin befindet sich damit im Einklang mit dem marokkanischen Schriftsteller Driss Chraibi, der von einer einfachen "monotheistischen Färbung des Nahen Ostens" der Erzählungen spricht.
Das folgende Gedicht kann das Hauptcredo von 1001 Nacht zusammenfassen:
Sei wie du willst, denn Gott ist aller Gnaden Herr;
Begingst du eine Sünde, nimm sie nicht zu schwer!
Allein zwei Dinge gibt’s – die meide jederzeit:
Treib nie Vielgötterei, tu Menschen nie ein Leid!
Sicher wird man mir entgegenhalten, all das sei "nur" Fiktion, literaturgewordenes Wunschdenken. Doch es ist schon beeindruckend genug, dass solch eine "Fiktion" überhaupt zustande kommen konnte. Schließlich ruft diese Fiktion einen extremen Widerstand hervor.
Diese Lust, diese Liebe, diese Freiheit sind den religiösen Extremisten unserer Zeiten ein Dorn im Auge. Sie wollen Schahrasad zum Schweigen bringen.
Ein besonders sprechendes Beispiel hierfür ist die Stadt Kairo. Hier spielen viele der Geschichten von 1001 Nacht. Hier trat noch vor wenigen Jahrzehnten die berühmte und verehrte Sängerin Oum Kalthum, genannt "Stern des Orients" auf und sang in gerappelt vollen Sälen "Alf Layla wa Layla". Doch 1985 wurde 1001 Nacht von Islamisten und ihren Verbündeten buchstäblich vor den Richter gezerrt.
Die offizielle Hauptanklage lautete: "Verstoß gegen den Anstand". Das Werk beinhalte Formulierungen, die gegen die Sitten der Gesellschaft und die Lehren des Islam verstoßen würden. Das Buch wurde beschlagnahmt, einige Fanatiker haben es verbrannt – die Staatsanwaltschaft hatte seine öffentliche Verbrennung verlangt.
Eine heftige Protestwelle in der Kulturwelt, an deren Spitze der Literaturnobelpreisträger Naguib Mahfouz stand, führte Anfang 1986 zu der Aufhebung des Urteils. 1994 wurde dann Naguib Mahfouz selbst Ziel eines terroristischen Anschlags, den er aber überlebte.
2010 dann hat eine Gruppe von Anwälten, darunter einige erklärte Muslimbrüder, gefordert: Man solle 1001 Nacht beschlagnahmen und die unanständigen Stellen bereinigen – wegen Beleidigung der Religion. Das alles geschah wieder in Kairo, glücklicherweise wieder erfolglos. Das war zwei Jahre, bevor die Islamisten kurz an die Macht in Ägypten kamen. Man mag sich nicht ausdenken, was Schahrasad passiert wäre, wenn sie länger an der Macht geblieben wären – und was ihr passieren könnte, wenn die Islamisten erneut bei demokratischen Wahlen an die Macht kommen.
Dabei ist die rein islamische, höchst sittliche Vergangenheit, zu der manche Islamisten und Salafisten zurückkehren möchten, eine Fiktion. Eher herrschten über Jahrhunderte hinweg in der arabisch-islamischen Zivilisation eine Toleranz und Entspanntheit, die auch in 1001 Nacht zu finden sind.
1001 Nacht war zur Entstehungszeit kein subversives Werk
Denn die Erzählungen waren in ihrer Entstehungszeit mitnichten ein subversives Werk aus dem Untergrund, sondern ein Kind ihrer Zeit. Damals, im achten und neunten Jahrhundert, trugen die größten Poeten Liebesgedichte in den Moscheen vor und besangen die gleichgeschlechtliche Liebe. Einer der berühmtesten unter ihnen, Abu Nuwas, ist 815 in Bagdad gestorben. Er tritt auch in ein paar Geschichten der Schahrasad als Zechgenosse und Begleiter von Harun ar-Raschid bei seinen nächtlichen Eskapaden auf. Derselbe Abu Nuwas hat sich als Trunkenbold und als Verfasser von Weingedichten verewigt, die zu den schönsten der arabischen Literatur gehören.
In jener Zeit meldeten sich Atheisten und Agnostiker, Ungläubige und Ketzer zu Wort. Die satirischen Werke damals würden manche Karikaturen unserer Zeit alt aussehen lassen. Der Arzt und Philosoph Abu Bakr ar-Razi, der Theologe ar‑Rawandi, der Dichter al-Ma’arri griffen den Islam und andere monotheistische Religionen an. Al-Ma’arri schrieb sogar eine burleske Jenseitsreise und nahm die eschatologischen Erwartungen seiner Zeitgenossen aufs Korn. Al-Ma’arri und seine gleichgesinnten Kollegen mussten keine Fatwa fürchten, sie durften in ihrem Bett sterben.
Damals war Bagdad die Hauptstadt der Dynastie der Abbasiden und alles Andere als eine rein islamische Metropole. Das Zentrum der damaligen zivilisierten Welt war ein Paradebeispiel des Multikulturalismus, ein Schmelztiegel der Kulturen, Sprachen und Religionen mit einer Million Einwohnern in ihrer Blütezeit. Natürlich muss man sich davor hüten, diese Epoche zu mystifizieren. Aber es geht darum, diese Epoche zu rehabilitieren – auch mit der Lektüre von 1001 Nacht. Diese Epoche, welche die Fundamentalisten aus dem kollektiven Gedächtnis ausradieren wollen genauso wie 1001 Nacht. Dieses geschichtliche Bewusstsein aufrecht zu erhalten, das gehöre zum Kampf gegen den islamistischen Extremismus, der gerne einen Islam propagiert, der für alle Zeiten und Orte gleichermaßen gelten soll. So sah es der 2016 verstorbene algerische Islamexperte und intime Kenner von 1001 Nacht Malek Chebel, der das Werk als ein "libertäres Manifest" bezeichnet.
Eine radikal-religiöse und verbissene Kritik an 1001 Nacht gab es nämlich damals gar nicht. Die früheren Gelehrten störten sich nicht an all den Unanständigkeiten, auch wenn mancher es "frivol" fand. Meist gaben sie sich hochnäsig und ignorierten das Werk einfach. Der berühmte Bagdader Buchhändler Ibn an-Nadim, dessen "Buchkatalog" mit dem arabischen Titel "al-Fihrist" aus dem Jahr 987 stammt, fand 1001 Nacht einfach … "langweilig". Die Gelehrten nahmen 1001 Nacht nicht in den klassischen arabischen Kanon auf, womit es nicht zur Bildungsliteratur gehörte. Das war weniger ein Akt der Zensur als schlicht die Verachtung einer Elite gegenüber der volkstümlichen Kultur. Das Werk war und ist außerdem anonym, der Verfasser oder die Verfasserin waren unbekannt, deshalb hegte man ein gewisses Misstrauen. Aber so hochnäsig, misstrauisch und gelangweilt die Intellektuellen früherer Zeiten auch waren – nie haben sie die moralische oder religiöse Dimension des Werkes so radikal in Frage gestellt wie heute die Islamisten.
Und auch das ist skandalös, denn die Erzählungen aus 1001 Nacht haben eine lange Liste von Bewunderern von Weltrang, auch im Westen:
Johann Wolfgang von Goethe zum Beispiel liebte Schahrasad. Er ließ sich zugleich faszinieren und inspirieren von dem Buch, von dem er sagte, es sollte
"wohl schwerlich ein bedeutenderes Werk aufzufinden sein."
Wie wichtig dieser Einfluss auf sein eigenes Werk, inhaltlich wie formal war, zeigt eine Studie von Katharina Mommsen "Goethe und 1001 Nacht". Sie zitiert, was der Kaiser zu Mephistopheles, in Faust II, sagt.
Welch gut Geschick hat dich hierher gebracht,
Unmittelbar aus Tausend Einer Nacht?
Gleichst du an Fruchtbarkeit Scheherazaden
Versichere ich dich der höchsten aller Gnaden …
In Goethes Notizen war der Vers "Gleichst du an Fruchtbarkeit Scheherazaden" zuerst so gedacht: "Als Meisterin erkennst du Scheherazaden."
Westliche Literatur zeigte sich fasziniert
Besonders die westliche Literatur zeigte sich fasziniert von den meisterhaft verflochtenen und verquickten Erzählungen. Viele ahmten das nach, zum Beispiel Ludovico Ariosto in seinem "Orlando furioso". Und viele waren voll des Lobes. Voltaire soll behauptet haben, 1001 Nacht vierzehnmal gelesen zu haben. Marcel Proust erwähnte 1001 Nacht als ausschlaggebend für sein literarisches Schaffen. Neben den Memoiren des Vorvaters der Soziologie, Henri de Saint-Simon. Als eine "Bibel der Freude" bezeichnete es Maurice Maeterlinck. André Gide gestand:
"Ich habe die Bibel und 1001 Nacht geliebt."
Der beispiellose Erfolg von 1001 Nacht im Westen macht das Buch bei Religiösen und Konservativen im islamisch-arabischen Raum allerdings eher unbeliebt.
In ihrer Heimat war Schahrasad weniger erfolgreich als im Westen. Erst 1929 legte die ägyptische Frauenrechtlerin Suheir al-Qalamawi die erste Dissertation über 1001 Nacht im arabischsprechenden Raum vor und erst 1984 erschien die erste textkritische arabische Ausgabe des Werkes.
Ausruhen darf sich der Westen auf dem korrekten literarischen Urteil einiger seiner Geistesgrößen freilich nicht. Eher zeigt die Rezeptionsgeschichte im Westen auch einige blinde Flecken auf.
So hat ein nicht unwesentlicher Teil des westlichen Orientalismus in Schahrasads Welt nur Harem, Hammam und Bauchtanz gesehen; Klischees, die sich hartnäckig in den Köpfen halten.
Auch redet man statt von Orgien, Drogen und Weingelagen lieber von Ali Baba, Aladin und Sindbad, die ursprünglich gar nicht Teil der Geschichtensammlung waren.
Nicht wenige westliche Islamexperten, die sehr präsent in den Medien sind, tendieren dazu, Traditionslinien wie die von 1001 Nacht aus der islamisch-arabischen Geschichte zu relativieren oder gleich ganz zu streichen.
Und schließlich war auch im Westen lange eine geschönte und harmlose französische Version die Vorlage für alle weiteren Übertragungen in andere europäische Sprachen: Die Fassung des Orientalisten und Übersetzers Antoine Galland, die zwischen 1704 und 1717 erschien. Absurderweise wurde sie sogar später ins Arabische zurückübersetzt und ließ das Orientbild des Westens Teil der Überlieferungsgeschichte von 1001 Nacht werden. Auch ich habe zunächst nur diese Version gekannt. Gallands Übersetzung ist ein Paradebeispiel dafür, wie sich der Okzident den Orient zurechtgestutzt hat und dabei übersieht, wie prüde und verklemmt er selbst ist. So hält 1001 Nacht auch dem Westen den Spiegel vor.
Galland hatte viele Stellen geändert, die angeblich "anständige" Franzosen schockieren konnten. Die Passage von der Orgie etwa, bei der zehn Sklaven und Sklavinnen samt der Herrin beteiligt sind, liest sich bei Galland so:
"Massud rannte zu ihr mit aller Bereitwilligkeit. Die Scham erlaubt mir nicht, alles zu erzählen, was dann geschah …"
Diese Scham wird Monsieur Galland des Öfteren empfinden, insbesondere bei den Themen Homosexualität und Homoerotik. Er entschärfte diese Passagen oder strich sie gleich ganz.
Die Geschlechtsorgane existieren in Antoine Gallands Übertragung nicht. Er schämte sich, die "Dinge" beim Namen zu nennen. Damit hat Galland die europäische Leserschaft um viel Vergnügen gebracht. Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges wird sich später gegen das empören, was er einen "skandalösen Anstand" nannte. Es ist nämlich oft dann besonders witzig bei Schahrasad, wenn es unter die Gürtellinie geht – eben wie im richtigen Leben.
So zum Beispiel in dem amüsanten Austausch über die Organe der sexuellen Lust, zwischen dem Träger und den drei Damen, in der gleichnamigen Geschichte. Oder in der Geschichte von dem Haschischesser, der seine Erektion so gerne noch ein bisschen länger gehalten hätte.
Gedichte kommen in der Übersetzung nicht vor
Galland strich insbesondere die Gedichte, die einen wichtigen Bestandteil von 1001 Nacht bilden. Man wird die Bedeutung der Dichtung in der arabischen Welt nie genug betonen können. In der Literatur wie im Alltag, damals wie heute. In diesem Freiheitsfeld namens Poesie fallen natürlich Tabus wie Dogmen.
Der Übersetzer Galland hat kein einziges Gedicht in seine Übertragung aufgenommen. Damit ging auch ein wesentliches Teil der Schönheit von 1001 Nacht verloren. Die deutsche Übersetzerin Claudia Ott konnte in den Gedichten, wie sie schreibt, "in ihren Reimen und Rhythmen so etwas wie den Herzschlag von Tausendundeiner Nacht vernehmen."
Erst 1984 erschien eine unzensierte textkritische arabische Ausgabe der Ur‑Handschrift durch den irakischen Islamwissenschaftler und Arabisten Muhsin Mahdi. Auf ihr beruht die 2004 publizierte deutsche Übersetzung von Claudia Ott.
Somit bietet 1001 Nacht Vielem Paroli: dem westlichen Orientalismus, der Darstellung der arabisch-islamischen Kultur als Karikatur westlicher Vorstellungen; der Prüderei im Okzident wie Orient. Und am Wichtigsten: Mit der Religionsphilosophie, so wie sie in 1001 Nacht zu finden ist, lassen sich die Exzesse der Religion bekämpfen. Die entspannte, tolerante, lustvolle, liebestrunkene Religion der Schahrasad liefert die besten Argumente gegen die Religionsvorstellungen des Wahhabismus und Salafismus. Mit Schahrasad kann man zu dem immer notwendiger gewordenen Dialog der Kulturen beitragen, dem Extremismus jeglicher Couleur Paroli bieten.
1001 Nacht sollte verpflichtend in die Schulprogramme der arabischen Welt aufgenommen werden. Und mit ihr die verwandte Erzählsammlung "101 Nacht" und ähnliche Werke aus dem reichen Literaturfundus der Region. Denn die Entfremdung von der eigenen Geschichte muss enden und darf nicht wieder aufleben.
Das wird nicht leicht sein, denn das Gedankengut der Vertreter der reinen Religion ist bereits bei breiten Schichten der Gesellschaft angekommen. Man braucht sich heute nur auf einer arabischen Straße umzuschauen oder durch die Internetforen zu surfen, um die verheerenden Schäden festzustellen, die die religiösen Puritaner schon angerichtet haben.
Nein, das wird nicht leicht sein in Gegenden, in denen Krieg, Armut, Chaos und Autoritarismus herrschen, diesen Plagen, für die der Westen auch einen Teil der Verantwortung trägt, und die dem religiösen Extremismus noch lange einen fruchtbaren Boden liefern werden.
In Zeiten von Gewalt, Terror, Rassismus und Hass ist die zentrale Botschaft von 1001 Nacht aktueller denn je. Spitzen wir die Ohren, wenn Schahrasad ihr revolutionäres Lied über die Liebe singt. Liebe für alle. Im Osten. Im Westen. Überall.
Auf dass nämlich, wie es so schön heißt…
"dieses köstliche und sehnlich erwartete Buch einem jeden nützlich sei, der darin liest!"
Also: Lesen wir 1001 Nacht. Erzählen wir uns diese Geschichten. Immer wieder. Schahrasad hat uns viel zu sagen.