Dienstag, 23. April 2024

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Sex II

Auf den fast 200 Seiten von Sybille Bergs Roman "SEX II" kommen allerhand Menschen zusammen; da ist "Bert, 46, Oberarzt. Veheiratet. Kein Sex, dann Malte, 37. Therapeut. Lebt alleine aber onaniert regelmäßig zu Bildern von Hamilton, Anna, 14, ausgerissen, kein Spaß an gar nichts, keine Zukunft. Zukunft nein danke, da ist Johanna, 50, ohne Freunde", und so geht es weiter, bis über 60 Leute da sind, die dem Ich das Leben schwer machen. "Ich, 33, normal schlechte Kindheit, normal aussehend, normal allein, normal übersättigt. Ein ganz normales Arschloch". Dieses Ich wacht eines Morgens mit der Fähigkeit auf, Wände und Gedanken durschauen zu können, und was sich da auftut, ist gar nicht lustig. Ein Röntgenblick, dem nichts entgeht, der aber auch die intimsten Peinlichkeiten festhält, solche, die man lieber gar nicht so genau wissen will. Der Nachbar pinkelt neben die Toilette, ein anderer onaniert zu Tierpornos, und alle haben sie den Sinn und die Freude des Lebens aus den Augen verloren. Ein comichaftes Horror-Szenario beginnt. "Das Buch ist einfach ein Versuch gewesen, eine Realität, die es gibt, sehr überspitzt darzustellen, auch so, daß sie fast absurd wird", so Sibylle Berg. "Ich wollte versuchen, ein Buch zu schreiben, das langweilig ist, ohne zu langweilen. Ich weiß nicht, ob es mir geglückt ist, aber es sollte ein Überdruß entstehen, an Dingen, die einfach überspitzt dargestellt sind, woraus dann irgendwie eine Komik erwächst und man sich sagt, ja, das ist wirklich krank, was wir hier machen, so daß man es nicht mehr so ernst nimmt. Aber das ist, glaube ich, nicht so gelungen."

Bettina Schoeller | 02.07.1998
    Das finden auf jeden Fall ihre Kritiker. Während das erste Buch "Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot" Sibylle Berg über Nacht zu einer Kultautorin machte, wurde sie mit "SEX II" genauso schnell als psychiatriebedürftiger Extremfall wieder in die nächste Ecke gestellt. Ob gelungen oder nicht, Sybille Berg ist die Reaktion auf ihre Texte unverständlich: "Die Hälfte der Briefe, die ich kriege, sind richtig Haß und Morddrohungen: ‘Hören Sie auf, Sie können nicht schreiben, und ‘Richtig so, man müßte Sie erschießen’. Die andere Hälfte ist totale Liebe. Dann schaue ich mir meinen Text an und denke, was macht das, weil so toll ist er ja nun auch nicht. Es passiert was mit den Menschen, was ich überhaupt nicht verstehen kann, aber es ist ja schön, daß überhaupt noch was passiert."

    Was im wahren Leben, sowohl der Sibylle Berg als auch ihrer Leser, eher selten passiert, das findet in ihrem Roman dafür um so mehr statt: nämlich ausgelebte Wut, Haß, Zerstörung, Rache, Blutrausch. Da werden Kinderleichen portioniert, Menschen in Hinterzimmern aufgehängt, Frauen werden vor laufenden Kameras die Eingeweide rausgeholt. Dann landen sie neben erschlagenen Obdachlosen auf Müllkippen, wo Müllmänner darin heumstochern. Wer nicht von alleine stirbt, für den erledigen das andere. Mord und Totschlag passiert, wenn so viele Menschen in einem Roman von Sybille Berg zusammenkommen - keiner will alleine sein, und am Ende hat keiner überlebt. Dabei hat sich die Autorin bloß einen kleinen Spaß erlauben wollen, denn beim Schreiben ist ja wohl alles erlaubt: "Fast so'n bißchen, daß ich mich jetzt frage, müssen die denn alle sterben, oder bin ich da zu sehr dem Spaß gefolgt. Aber ich denke, gut, sind halt mal alle gestorben, es war schon schön."

    Ihre Tode stellen die Höhepunkte dar, sowohl in dem Leben der Romanfiguren als auch für die Handlung des Romans. Sibylle Berg hat eine scheinbar kindliche Freude am Blinde-Wut-Spielen, am Kopfschlagen und Blutspucken. Ihre Kritiker, und von denen gibt es genug, sagen, daß eine Frau so etwas nicht schreiben dürfe, daß sie neurotisch, frigide, magersüchtig und fatalistisch sei - schlimm genug. Daß sie das Leben beschmutzt mit ihren dreckigen Phantasien, ein Leben, das schön sein kann, wenn man nicht gerade Sibylle Berg heißt - noch schlimmer. Aber dann auch noch in angeblich falschem Deutsch, unliterarisch, das finden viele unverzeihlich. Sibylle Berg dazu: "Solche Menschen sagen ja dann auch: ‘Aber das gibt’s doch gar nicht.’ Aber natürlich gibt’s das. Und das ist vielleicht so ein Part im Leben, den Menschen gerne ausblenden, wo sie dann die Augen verschließen und sagen, aber es ist doch alles super. Ich meine, wir sind alle arbeitslos, uns geht’s dreckig, aber es gibt ja Parks. Und dann regen sie sich auf, wenn dann jemand ihre Illusion zerstören will. Dann sollen sie es nicht lesen, meine Güte."

    Das ist endlich mal die viel vermißte neue deutsche junge Literatur, sagen die anderen. Die etwas wagt, Musikclip-artige Sätze, die Vermischung und Verhackung von Textsorten zu einem neuen Brei, in dem eine etwas zufällige Satzordnung entsteht. Haben wir es hier mit einem "German Psycho" zu tun, tritt Sibylle Berg in die noch frischen Fußstapfen einer gnadenlosen feministischen Gesellschaftsktitik à la Jelinek? Der Titel "Sex II" hat genauso wenig mit Sex zu tun wie Jelineks Roman "Lust" mit Lust. Aber Sibylle Berg will nicht in die Literaturgeschichte eingeordnet werden. Horror gab es auf dieser Welt schon immer, sagt sie, und Elfriede Jelinek hat sie nie gelesen, will das jetzt aber nachholen: "Erstmal möchte ich ein Buch schreiben, was mir gerade entspricht. Ich will es so schreiben, daß es so gut ist, wie ich gerade kann, und wenn es fertig ist, dann wünschte ich mir, daß Menschen sich unterhalten schon dadurch, daß sie es gerne lesen, und wenn es ganz gut raus kommt, dann macht man sich ein, zwei Gedanken."

    Wenn die Figuren in ihren Romanen sich auch so ein, zwei Gedanken machen, reicht das bereits, damit das Leben vollkommen aus der geregelten Bahn gerät. Sie haben ihre Sehnsüchte zurückgestellt, in der Illusion, daß sie sich später einmal erfüllen. Aber das Ich, das aufwacht und durch die Figuren hindurch, in sie hineinsehen kann, weiß, daß das nicht der Fall sein wird, daß das Leben und die Sehnsüchte nicht zusammenkommen. Und in dem Moment, wo die Figuren anfangen, über ihr schreckliches Dasein nachzudenken, nimmt die Sehnsucht überhand, und das Leben findet zwangsläufig ein Ende. Das Grundgerüst von Sibylle Bergs Romanfiguren entsteht aus stiller, aber teilnehmender Beobachtung. Für ihre fiktiven Charaktere nimmt sie Anleihen aus dem 'wahren Leben'."Es gibt die so nicht, eins zu eins", erläutert Sibylle Berg, "es sind aber zum großen Teil schon Menschen und Typen, die ich getroffen habe, die es gibt, die sind dann mitunter überspitzt dargestellt. Das sind schon reale Menschen."

    Dieser dokumentarische Blick von Sibylle Berg ist es wohl auch, der bei vielen Lesern Antipathien auslöst, velleicht fühlen sie sich selbst beschrieben und müssen dann mit ansehen, wie sie im Fleischwolf ordentlich kleingedreht werden. Wären die Figuren rein fiktional, würde wohl kaum jemand Anstoß daran nehmen. So unterschiedlich Romanfiguren auch in ihrer Alters- und Sozialklasse sein mögen, sie haben doch alle eines gemeinsam: Sie sind mit einem solchen Konfliktpotential angelegt, daß sie wie Zeitbomben durch die Molochs der Großstädte stolpern, und hübsch der Reihe nach explodieren. Zurück bleibt nur die Frage: "Warum kann man nicht einfach zufrieden sein, jemanden zu haben, zum Anfassen, und seine Stimme hören." Warum können sie nichts für sich behalten, müssen sich ständig auskotzen, ihren Haß, ihre Ängste, ihre Selbstzweifel? Ein nicht gerade freundliches Bild einer therapiebedürftigen Gesellschaft stellt uns Sibylle Berg vor, ein Bild, mit dem sich freilich nicht jeder identifizieren möchte. Spielt sie nur verrückt oder ist sie es wirklich, wird da gefragt, und die krankhaften Züge, die die Autorin an unserer Gesellschaft entdeckt, meinen ihre Kritiker, Sibylle Berg persönlich anlasten zu können. Und siehe da, bei ihr ist der Horror perfekt, fast sieht es so aus, als hätte ein Designer die Biographie für eine Kultautorin entworfen: 1962 in der DDR geboren, Mutter Alkoholikerin, vergewaltigt worden, 1984 Ausreiseantrag bewilligt, Mutter dann in der DDR bei der Explosion eines Gasofens gestorben, Autounfall, danach in 17 Operationen wieder zusammengebaut. Sybille Berg läßt sich von der Kritik zwar runterziehen, frustrieren, fühlt sich ungeliebt, mißverstanden und unfair behandelt. Aber sie macht weiter: "Das nächste Buch, da weiß ich, wie es gehen soll, und fange die ersten Zeilen an. Und falls ich das jemals hinkriege, das fertig zu machen, soll es im nächsten Jahr im Herbst rauskommen."

    Aber was kann jetzt noch kommen? Schrieb sie doch selbst zuletzt: "Sex II zeigt brilliant die Reste der Welt, die Reste, was bleibt im Untergang sind Fotzen, Schwänze, Ficken und Sex II." Was bleibt für diese Literatur, wenn die Reste aufgezehrt sind? "Sagen wir mal so, was ich nur weiß, ist, daß ich keine Lust mehr habe an diesem so ganz tiefschwarzen Zeug. Das es einfach bißchen subtiler abgehen soll, vielleicht ist auch die Phase, mit diesen letzten beiden Büchern und den Kolumnen, ein bißchen zu Ende. Es fängt an mich ein bißchen zu langweilen, und dann muß man was anderes machen. Wie das richtig aussehen soll, das weiß ich noch nicht."

    Krise oder erste Anzeichen der Besserung? Wer weiß das schon, in einem Leben, in dem der Sinn futsch, die Gefühle auf Urlaub, und jeder einen potentiellen Selbst- oder ein Massenmörder spielt, um aus dem Leben noch was rauszuholen. Auf jeden Fall wird ihr nächstes Buch nicht mehr bei Reclam Leipzig erscheinen, sondern beim Hamburger Verlag Hoffmann und Campe. "Ich mochte Reclam sehr gern, mit der ganzen Belegschaft, die war immens niedlich, aber eben auch den Lektor, mit dem hat man wirklich viel zu zun. Und als er jetzt wegging, war ich wirklich am Rudern, was mach ich jetzt. Ohne ihn ist Reclam für mich nicht mehr das, was es war. Der neue Verlag, ich weiß nicht, wie nett die sind oder gut oder professionell, keine Ahnung. Ich bin ihm da einfach mal gefolgt, hoffe, daß es gut rauskommt. Was ich schon schade finde, was ich bei Reclam mag, ist einfach diese Überschaubarkeit, daß alle rührend waren.

    Von Sybille Bergs Texten wird man das sicher nicht sagen können. Und das ist auch gut so.