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Sex im Gipsverband

Heftige Schmerzen in den Lenden plagen den jungen Mann, nun wird er geröntgt. Als Arzt erwartet ihn ein finsterer Zwerg mit hervorquellenden Maulwurfsäuglein, er gleicht einem "Tier, das aus seiner Höhle hervorkommt". Es riecht nach pharmazeutischen Produkten und verbranntem Gummi. Das alles verheißt nichts Gutes.

Von Peter Urban-Halle | 13.09.2006
    Der junge Mann ist Chemiestudent und heißt Emanuel. Er stammt aus Rumänien, lebt in Paris in Untermiete und hat eine kleine demütige Freundin, eine Näherin, mit der er "eine hygienische Liebe macht ohne große Sinnesreizungen". Die Diagnose trifft ihn wie ein Schlag, sein Rückgrat hat eine Lücke, er leidet an der Pottschen Krankheit, Knochentuberkulose an der Wirbelsäule. Nun fühlt er sich "genauso verängstigt und verstört" wie die Maus, die neulich panisch durch seine Küche geirrt ist. Der Doktor schickt ihn an die französische Kanalküste, in das Heilbad Berck.

    Emanuel, immer noch betäubt von dem Licht und der Stille dieses Vormittags, nahm das sanfte Gleiten auf dem gefederten Wagen als eine unterhaltsame, spielerische Spazierfahrt. Als der Aufzug hinabzugleiten begann, umfing ihn eine leichte und angenehme Ohnmacht. Erst unten im Saal erwachte er zum vollen Verständnis der Krankheit. Dort hatte er zum ersten Mal das wahre Gefühl für die schrecklichen Lebensumstände, in die er eingetreten war.

    So wird der Kranke in den Speisesaal gerollt, schon dieses Bild ist nicht ohne Komik. Und es wird noch komischer. Die Kranken im Sanatorium bekommen nämlich eine Gipsrüstung verpaßt, die sie endgültig stillegt. Oder sagen wir lieber: stillegen sollte. Denn manchmal erscheinen sie in ihrer Rüstung wie Ritter von der traurigen Gestalt, die gegen die Wirklichkeit ankämpfen wie gegen Windmühlenflügel.

    Es sind Figuren einer Tragikomödie, wie sie auf ihren Bahren liegen und mondäne Feten auf den Zimmern feiern, eifersüchtig an der Tür einer vornehmen Geliebten horchen oder mit ihren Krankenkutschen hinter die Dünen fahren und Sex im Gipsverband vollziehen. Das Miteinander von augenblicklicher Lebensgier und bevorstehendem Tod verschafft dem Aufenthalt im Sanatorium einen derartig eigentümlichen Reiz, daß eigentlich keiner mehr hier weg will.

    "Nun ja, das ist etwas recht Seltsames ... Berck ist etwas anderes als eine Stadt der Kranken. Es ist ein subtiles Gift. Das sofort ins Blut geht. Wer hier gelebt hat, findet nirgends mehr auf der Welt seinen Platz. Alle Kaufleute, alle Ärzte von hier, die Apotheker, ja selbst die Krankenpfleger, alle sind sie ehemalige Kranke, die anderswo nicht mehr leben konnten."

    Kein Wunder, in dieser Welt scheinen eher die Gesunden anormal und unwirklich zu sein, das Leben der Kranken dagegen zwischen heftiger Gefühlsaufwallung und eiternden Abszessen und dem stinkenden Schmodder, der sich im Laufe der Monate unter dem Gipspanzer ansammelt, wird durch eine vitale Unkonventionalität geadelt. Sie fühlen sich wie die Mitglieder eines exklusiven Klubs. Der Gips ist auch ein Panzer gegen bürgerliche Langeweile.

    Es ist nicht schwer, Emanuel als Alter ego des Autors zu erkennen. Auch Max Blecher litt an Knochentuberkulose und verbrachte die restlichen zehn Jahre seines kurzen Lebens in Sanatorien. Aber im Gegensatz zu seinen Schicksalsgenossen hält Emanuel alias Blecher seine Krankheit "für verachtenswert, für sinnlos" und sieht in ihr alles andere als eine "bewundernswürdige Inspiration für die Kunst".

    "In Ruhe und Überfluß, so glaube ich, wurden unendlich viel mehr bleibende Kunstwerke geschaffen als im Schmerz und unter Zähneknirschen."

    Genau dies, so der Übersetzer Ernest Wichner in seinem Nachwort, unterscheide den Sanatoriumsroman "Vernarbte Herzen" vom "Zauberberg", Thomas Manns berühmter Parodie des Bildungsromans. Tatsächlich ist die Krankheit im "Zauberberg" eher eine Metapher für die Trägheit und Untergangsstimmung des alten Europas am Vorabend des ersten Weltkriegs, während es bei Blecher um eine konkrete Lebensbedrohung geht.

    Seine Verachtung für die Krankheit unterscheidet ihn letztendlich auch von dem Ich-Erzähler in Blechers früherem Roman "Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit". Dieser Erzähler löst sich nämlich sozusagen in den Dingen auf. Emanuel dagegen behält den Blick auf die eigentliche Wirklichkeit. Er entzieht sich der künstlichen Welt des Sanatoriums, indem er in die einsam liegende Villa einer Amerikanerin zieht; dafür verläßt er sogar seine Freundin Solange, mit der er fast idyllische Liebesstunden am Strand verbracht hatte. Und am Ende verläßt er sogar den Ort - nachdem ihm die lächerliche Gipsrüstung abgenommen worden ist.

    "Es ist mir unmöglich, noch länger in Berck zu bleiben, ich bin völlig erschlagen, die Schwermut dieser Stadt hat mich erledigt, hier hat sich alle Melancholie der Welt angesammelt. "

    Max Blecher ist ein Ausnahmetalent, das zeigt sich in diesen nie gesehenen, überwältigenden Bildern und einer dichten, wie elektrisch aufgeladenen Atmosphäre. In Emanuels Innerem, schreibt Blecher, habe sich eine "ruhige, schmerzende Bitterkeit eingenistet", vielleicht weil er sich nicht belügen und im Kranksein nichts Heiliges sehen kann. Ernest Wichner im Nachwort spricht von einem Dasein zwischen Staunen und Ernüchterung, und beides, Staunen und Ernüchterung, erfasst auch den Leser, wenn er noch einmal bedenkt, daß dieses Buch ein Jahr vor dem Tod des Dichters geschrieben wurde - "im Schmerz und unter Zähneknirschen".