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Sex oder Liebe

Der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann geht in seinem Buch anhand von zahllosen Internetrecherchen dem Wandel des Sexualverhaltens und des Liebeslebens nach - und wir werfen zusätzlich einen Blick auf das neue Buch der Jerusalemer Soziologie-Professorin Eva Illouz, "Warum Liebe weh tut".

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 19.12.2011
    Seit etwa 1900 beginnt sich das Liebesleben zu wandeln, und sich den institutionellen Regeln zu entziehen. Der Jazz, das Tanzlokal, der Flirt treiben einen Prozess der individuellen Befreiung an, der – so Jean-Claude Kaufmann – erstaunliche Wendungen nimmt:

    "1974 nahm die WHO zur Kenntnis, dass Sexualität zur Fortpflanzung und das Luststreben zwei verschiedene Dinge sind. Sie erkannte die Legitimität und Bedeutung der Lust als Quelle des Wohlbefindens und sogar der Gesundheit an. Die Forderung nach dem Orgasmus stand nun in den politischen Gleichungen."

    Diesen Prozess beschleunigt das Internet, das völlig neue Umgangsformen mit der Liebe eröffnet, die vor allem von den Jüngeren auch intensiv genutzt werden. Zunächst vervielfältigt es die Möglichkeiten der Kontaktaufnahme, und zwar explosionsartig, in der räumlichen Nähe wie in der Ferne.

    Doch im Internet werden nicht nur Ehen angebahnt. Vielmehr bietet es die Möglichkeit für schnelle kurzlebige Bekanntschaften, die primär auf Sex abzielen. Kaufmann schreibt:

    "Die Online-Begegnungen (. .) haben die Landschaft der Liebe beträchtlich erschüttert, nichts wird mehr so sein, wie es davor war. Unter dem Schutz der Anonymität der 'Nebenwelt' ist ein neuer Raum für Sex entstanden, der als eine Freizeitbeschäftigung gilt: Man plant eine heiße Nacht, wie man ins Kino oder ins Restaurant gehen würde."

    Dabei geht es nicht um Prostitution, auch nicht darum, dass vornehmlich Männer immer schon neben ihren Ehen Liebschaften nachjagten. Denn das wird geheim gehalten, nicht öffentlich als Lebensform diskutiert.
    Doch den Sex um seiner selbst willen mit wenig gefühlsmäßiger Bindung und ständig wechselnden Partnern zu suchen, das wird in Internetforen nicht nur unter der Hand vorbereitet, sondern öffentlich in Chats heiß diskutiert: ob der nächtliche Sex gut war; ob die 'Tussi' über Nacht bleiben wollte oder der Typ ein 'Arschloch' war. Dazu bemerkt Kaufmann:

    "Die Utopie einer freieren und offeneren Neuen Liebeswelt stellt sich heute so dar, als könnte sie das Monopol der Ehe brechen. Die konstant ansteigende Zahl von Singles überall auf der Welt beweist im Übrigen, dass die langfristige Paarbeziehung immer weniger zum Maßstab genommen wird."

    Diese Entwicklung geht auch an den Frauen nicht spurlos vorüber. Viele jüngere haben längst den Sex als Freizeitbeschäftigung entdeckt, über den sie sich im Internet auch öffentlich austauschen. Gelegentliche Beschimpfungen als 'Schlampe' werden zumeist solidarisch abgewehrt und der Angreifer als Schlappschwanz denunziert. Kaufmann:

    "Die Frauen, die auf Männerjagd gehen, die Anhängerinnen des Sexes um des Sexes willen (. .), die ihre Lust befriedigen, befinden sich in der Minderheit. Aber sie sind eine sehr aktive und mitteilsame Minderheit, die im Netz den Ton angibt. Und eine Minderheit, die in rasantem Tempo größer wird."

    Was für Kaufmann eine neue Qualität der Emanzipation der Frau darstellt, hält die israelische Soziologin Eva Illouz in ihrem parallel erscheinenden Buch "Warum Liebe weh tut" nur für eine Kopie männlichen Verhaltens ohne nachhaltige Folgen. Auch Kaufmann räumt ein:

    "Die Raubkatzen des Internets zum Beispiel sind nur selten ihr ganzes Leben lang Raubkatzen. In einer anderen Phase können sie nach einem netten Ehemann suchen. Das unterschiedliche Zusammenspiel von Sex und Liebe wird meistens in sehr scharf voneinander abgegrenzten Sequenzen erlebt."

    Dabei liest sich Kaufmanns Buch in der ersten Hälfte wie ein Ratgeber für Internetkontakte, der im Satz gipfelt:

    "Während früher die Liebe zum Sex führte, erleben wir heute eine wahre historische Umkehrung: Nun kann der Sex zur Liebe führen."

    Erst in der zweiten Hälfte des Buches merkt man langsam, dass Kaufmann von der Internet-Liebeswelt wenig hält. Sie zwingt zur Anpassung und bringt jene in Verlegenheit, die sich nicht auf diese Spiele einlassen wollen:

    "Heutzutage bleiben nicht mehr wie früher in den Tanzlokalen die Hässlichsten sitzen, sondern diejenigen, die ihre Prinzipien haben und ablehnen, dass eine Beziehung mit Sex beginnt."

    Weil Sex unkontrolliert Gefühle hervorruft, hält Kaufmann Internet-Diskussionen über einen Sex mit kontrolliertem Gefühl für eine aussichtslose Utopie. Eine Chatterin …

    "… träumte von einer Art der kurzen Liebe ohne Verpflichtungen. Davon sind wir weit entfernt. Von einem Pakt des Wohlbefindens unter Gleichen. Das höllische Räderwerk vertieft ganz im Gegenteil den Abgrund, der Männer und Frauen bisweilen trennt, noch mehr."

    Auf diese Schattenseiten gründet Kaufmann denn auch seinen Optimismus, dass die Ehe überhaupt nicht gefährdet ist. Denn die Zeitgenossen brauchen angesichts der rauen Wirklichkeit stabile Beziehungen:

    "Viele Frauen suchen, wenn sie die Dreißig überschritten haben, weniger einen Märchenprinzen als vielmehr einen künftigen Vater für die Kinder, die sie haben möchten. Keine Rede mehr davon, dies alles in einem Netzwerk aufzulösen, im Gegenteil, man muss ein leistungsstarkes Team bilden, das wie Pech und Schwefel zusammenhält: das Elternpaar."

    Wenn indes der Bindungswunsch nicht von selbst entsteht, und die Frauen zunehmend Opfer bindungsunwilliger Männer werden, stellt sich für Eva Illouz aus der Perspektive der Frauen die Frage,

    "… wie die Sexualität in einen Verhaltensbereich verwandelt werden könnte, der sowohl vom Gedanken der Freiheit als auch von ethischen Gesichtspunkten bestimmt ist."

    Kaufmann verspricht sich dagegen wenig von einer Ethisierung. Mit seinem naiven Glauben an die Ehe müssen Männer jedenfalls nicht befürchten, zur Bindung oder gar Ehe verpflichtet zu werden.


    Jean-Claude Kaufmann: "Sex@mour - Wie das Internet unser Liebesleben verändert", übersetzt von Anke Beck, UVK Verlag, Konstanz 2011, 193 Seiten

    und

    Eva Illouz: "Warum liebe weh tut – Eine soziologische Erklärung". Suhrkamp, Berlin 2011, Gebunden, 466 Seiten, 24,90 Euro