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Sexbeat

Nicht ohne Kalkül hat der Kiepenheuer & Witsch -Verlag jüngst zwei Bücher von Mitte der 80er Jahre wiederveröffentlicht, die im Laufe der Jahre zu Standardwerken der Pop-Literatur und Pop-Theorie avanciert sind: Joachim Lottmanns Roman "Mai, Juni, Juli" und Diederich Diederichsens Sexbeat. Beide Bücher sind seit Jahren vergriffen und werden antiquarisch zu hohen Preisen gehandelt. Dass diese Werke heute wieder auf ein interessiertes Lesepublikum stoßen, liegt nicht zuletzt auch am Erfolg von Jürgen Teipels Doku-Roman Verschwende deine Jugend. Die Kulturgeschichte von Punk und New Wave im Deutschland der späten 70er und frühen 80er wird darin anhand von Erzählungen und Biographien seiner Protagonisten so lebendig, dass sich prompt ein Revival ereignete. Aber nicht nur Punk und New Wave werden zur Zeit revitalisiert, auch das gesamte Jahrzehnt der 80er Jahre ist heute in Popmusik und Mode wieder gegenwärtig – freilich bloß als Stilzitat oder Soundfetisch. Aber worum ging es damals? Wofür und wogegen konstituierten sich Underground und Subkulturen? Wie lebte es sich darin? Autoren wie Joachim Lottmann und Diedrich Diederichsen haben den damals durch Bohèmia wehenden Zeitgeist auf den Begriff gebracht - Diederichsen eher kritisch, analytisch, historisierend; Lottmann eher affirmativ, erzählerisch, protokolliered.

Olaf Karnik | 23.05.2003
    Mitte der 80er Jahre, es ist die Zeit des postmodernen Aufwachens. Lottmann und Diederichsen beschreiben ein Leben nach Punk und gegen das Sinndiktat der 68er. Beide befinden sich in Umbruchsituationen, beide ziehen von Hamburg nach Köln, wo sie auf eine flourierende Kunst- und Musikszene stoßen. Diederichsen arbeitet zwischendurch für eine Düsseldorfer Werbeagentur, Lottmann für sogenannte Schweine-Blätter wie die BILD-Zeitung. Aber das sind nur Jobs. In Szenekneipen, auf Konzerten oder in den Redaktionsräumen des damaligen Avantgarde-Pop-Magazins SPEX spielt das eigentliche Leben: wilde Debatten und wahllose Entwürfe, Selbstermächtigungen und jeden Tag einen neue ästhetische Strategie. Gegen den gerade aufkommenden Yuppie-Karrierismus steht Selbstausbeutung im Sinne der Berufung: Lottmann will zwanghaft Schriftsteller sein, Diederichsen wird Redakteur von SPEX. Lottmann schreibt schließlich einen Roman in Anführungsstrichen, Diederichsen den ersten Teil seiner mehrteiligen, therotisch abgefederten Chronik der laufenden Ereignisse zwischen Pop und Politik. Beide kritisieren die Postmoderne und ihre Lebensformen, tatsächlich entpuppen sich ihre Bücher aber als Symptome derselben. Das ist kein Buch, das ist das Leben. Das Leben auf der Suche nach dem Buch. Nach dem guten Buch, dem neuen Buch, dem noch nie geschriebenen. Es ist ein Buch zwischen 23 Romananfängen, ein Roman der Romanverwerfungen, der Neuentdeckungen, der Verhinderung. Ein Buch gegen die Wiederholung, gegen die Langeweile, gegen das Schreiben als Lebensablenkung, gegen das Lesen als Lebensersatz. So lobte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Joachim Lottmanns "Mai, Juni, Juli" im Feuilleton vom 17. März 2002. Lottmanns Roman war noch nicht in Neuauflauge erschienen, doch galt er dem neuen FAZ-Literatur-Kanon als eines der wirkunsgvollsten deutschen Bücher der letzten 20 Jahre. Stichwort Popliteratur – erst durch Lottmanns Vorarbeit: sein umherschweifendes Schreiben, seine unverfrorene Aufzeichnung banaler Alltagsbeobachtungen, motiviert von kecker Selbstermächtigung – erst dadurch seien zeitgenössische Pop-Autoren wie Christian Kracht oder Benjamin von Stuckrad-Barre zu ihren Schriften ermutigt worden. So sieht es die Literatur-Kritik heute. Aber wurde Mai, Juni, Juli von Zeitzeugen – wie der damaligen Spex-Redakteurin Clara Drechsler – auch als Blaupause der Popliteratur empfunden?

    Das würde ich eigentlich so nicht sagen. Damals war ich mir dessen nicht so bewusst, ich habe eigentlich gedacht, dass ‚Mai, Juni, Juli’ aus so was rauskommt – also eben aus einer bereits vorhandenen oder sich anbahnenden Popliteratur. Also, als revolutionär habe ich das damals eigentlich nicht empfunden. Neu war an diesem Roman eigentlich nur – Lottmann war das Neue. Und dass man Lottmann noch ertragen konnte. So gesehen hatte er da eine gewisse Rückendeckung von uns aus, natürlich auch gegen die Leute, denen dann plötzlich aufgefallen ist, dass es überhaupt keine richtige Literatur ist und so weiter. Das heißt, er hat sich kurzzeitig die richtigen Feinde gemacht, gegen die man ihn dann verteidigen musste – an und für sich hätte sich sonst wahrscheinlich nie jemand die Mühe gemacht.

    "Man"- das waren Clara Drechsler und die Spex -Redaktion, die Mitte der 80er Jahre in der Kölner Szene das Sagen hatte. Und die Feinde, gegen die man Lottmann verteidigen musste, waren die Institutionen des Buchmarkts und die Hohepriester der Literatur, die nicht erkennen wollten, dass sich mit Lottmanns Affirmation massenmedialer Oberflächen und seiner Technik der Verschränkung von Wirklichkeitsaufzeichnung mit planer Fabuliererei eine ebensolche Umwertung der Werte ankündigte, wie sie sich in Punk und Pop bereits ereignet hatte. Umwertungen, vor allem aber spätpubertäre Provokationen sind denn auch in "Mai, Juni, Juli" an der Tagesordnung – alles, was in den 70er und später wieder in den 90er Jahren als politisch korrekt gilt, wird mit Genuss denunziert. So werden Schwarze absichtlich als "Neger" bezeichnet, die Zackigkeit von Alt-Nazis gelobt oder über "Lieblingfaschisten" diskutiert, die DDR verehrt und gleichermaßen die BILD-Zeitung zu Kunst erklärt – anything goes. In dieser Geisteshaltung bleiben alle Widersprüche unaufgelöst bestehen, da sie nur noch durch ästhetische Filter geschleust werden.

    Die 70er Jahre neigten sich dem Ende zu, in London rebellierten die Punks, in Hamburg die Popper. Das Jahrzehnt der Sozialdemokratie entartete in öffentlichen Gesamtschuleinrichtungen, Millionen Pädagogik-Studenten und –innen, J.J.-Cale-Musik, Schlaffheit. Jeder aufrechte Bürger wünschte den Sozialdemokraten den Tod, die das Land skandinavisiert hatten, verholländert, verdämmert. Der Schwung der frühen Jahre war dahin, geblieben war eine Haschisch-Mentalität: Alles nich’ so verbissen sehn. Als ich eines Tages miterlebte, wie zwei Polizisten sich an einem Sit-In beteiligten, für irgendwas, gegen irgendwas, Größenordnung vierte Novellierung der Rentenansprüche im Zweiten Hochschulrahmengesetz, und sich dabei Strohhalme in die über den Uniformkragen wuchernden Haare steckten, trat ich spontan in die CDU ein. So resümiert es der Ich-Erzähler in Mai, Juni, Juli . Freilich trat dieser auch schnell wieder aus der CDU aus – oder war es Lottmann selbst? Immerhin eine Erfahrung, über die man schreiben kann. Nichts anderes macht Lottmann in seinem Roman. Das Buch liest sich wie eine Aufzeichnung von Erfahrungen, Reflexionen, Selbstbeobachtungen, Erinnerungen, Begegnungen – und thematisiert dabei den quälenden Schreibprozess selbst. Wenn der Ich-Erzähler am Ende aus Köln nach Hamburg zurückkehrt, um schließlich auf ein Schiff nach Madagaskar anzuheuern, hat sein Autor nichts anderes hinterlassen als lauter unfertige Romanfragmente, halbwahre Anekdoten und kesse Behauptungen. Aber Literatur ist ja nur ausgedacht, "deswegen mochte ich es nicht lesen", heißt es im Roman, dessen Credo stattdessen lautet: "Wozu war ein Buch da, wenn man nicht nach der ersten halben Seite Lust bekam, nach draußen zu rennen und es dem Buch gleich zu tun?" So begab sich Lottmann denn auch unter die Leute in den Szenekneipen und schrieb angeblich alles auf, was geredet wurde. Von Anfang an habe der Trick darin bestanden, sich so hyperreal an die Wirklichkeit zu halten, dass jeder dachte, es sei einfach nicht wahr. Er habe sogar Dialoge mit einem versteckten Tonband aufgenommen, und dies sei die größte je gewagte Indiskretion gewesen, bekannte Lottmann kürzlich in der taz anlässlich der Wiederveröffentlichung von "Mai, Juni, Juli".

    Aber auch dieses offene Bekenntnis zum Skandalösen entpuppt sich schnell als Lottmannsche Verschleierungstaktik. "Man durfte nicht über lebende Menschen schreiben, noch dazu welche, die man gern hatte", hatte es im Roman noch geheißen, während sein Autor ganz offensichtlich das Gegenteil verfolgte. Es scheint, als habe Lottmann damals wie heute das Konstruktionsprizip der BILD-Zeitung zur künstlerischen Methode erhoben: Fakten und Fiktion werden vermischt, Tatsachen überspitzt und Sachverhalte auf den Kopf gestellt. Dazu Clara Drechsler:

    Na ja, sagen wir mal so: wo er geschrieben hat, dass es Hans Hermann Klarczyk nie gegeben hat, obwohl wir den alle kennen und er weidlich auf dem rumgetrampelt ist, das fand ich schon ein bisschen dick. Also, bei uns ist dann natürlich alles totale Fiktion, was er über Spex schreibt... / Also, man kann sich weniger über das aufregen, was LoJo schreibt, als einfach darüber, wie er ist. Also, was er schreibt, ist im Grunde genommen egal... man wundert sich ja aber immer, wenn man sowas liest, wie, ein wunderbarer Mann, der in So-und-So-Kreisen verkehrt hat, hat einen launigen, kleinen Roman geschrieben – komischerweise konnte ihn damals niemand leiden... so jemand ist halt Lottmann. Man kann dieses weiche Graubrotgesicht irgendwann nicht mehr ertragen, und dann muss Lottmann die Stadt verlassen. So kam es auch nach Erstveröffentlichung des Romans 1987 nicht mehr zum geplanten Skandalroman über die Kölner Kunstszene. Wie sein Erzähler verließ auch Lottmann bald die Dom-Stadt. Heute ist "Mai, Juni, Juli", wenn auch bisweilen unterhaltsam, nur noch aus historischen Gründen interessant. Der damalige Zeitgeist hat sich längst im medialen Mainstream aufgelöst, zudem in viel krasserer Form. Und die einst als subversiv gedachte Bewaffnung mit konservativer Rhetorik und Symbolik stößt heute mehr als unangenehm auf – werden doch damit täglich politische Kämpfe und militärische Schlachten ausgefochten.

    Dass die Subversion in Folge von Punk und New Wave nur für eine gewisse Zeitspanne als revolutionäre Taktik taugte, um danach ins Reaktionäre umzuschlagen, hatte Diedrich Diedrichsen schon in "Sexbeat" thematisiert – 2 Jahre vor Lottmanns Roman. Denn schon Anfang der 80er Jahre hatten Teile der popkultur-affinen Jugend die strategischen Äußerungen der Pop-Avantgarde als Eigentliches missverstanden und mutierten nun zu CDU-Yuppies oder gar zu Nazis. Dazu schreibt Diederichsen:

    Das liegt an der Unfähigkeit, den dialektischen Uhrzeiger richtig zu lesen. Wer sich an kulturelle Prozesse ankoppelt, muss stets wissen, ob das, was gerade läuft, These, Antithese oder Synthese ist, und er muss dies bis in die Mikroprozesse hinein, aus dem sich die großen Prozesse zusammen setzen, untersuchen.

    Der Buchtitel Sexbeat ist ein Verweis auf ein Stück der amerikanischen Rockband Gun Club , die Mitte der 80er Jahre die Musik zur Zeit spielten. Wie in fast allen Büchern Diederichsens ist eine bestimmte Popmusik in Sexbeat nicht nur Erkenntnismedium, sondern Leitmedium gegenkultureller Formation und links-oppositioneller Strategien – sie propagiert Lebensentwürfe, Haltungen und schafft Verbindlichkeit. Denn die Aussageweise des Pop, so Diederichsen, bringe Evidenzen hervor, die jeden pluralistischen Relativismus entkräften. Dieser galt, neben Nazis, Konservativen oder Yuppies nach wie vor als Feind. Die Rhetorik des Relativismus basiert auf der Meinung – jeder hat irgendeine – und dagegen brachte der Autor einen ebenso apodiktischen wie begrifflich flexiblen, quasi-akademischen Verbindlichkeits-Diskurs in Stellung. Krude Typologisierungen und schlaue Klassifizierungen wechseln sich ab – dabei zählt die Analyse des Soziotops Bohemia samt Unterscheidung von Hipstern und Hip-Intellektuellen oder von bohèmistischen Orten wie Manhatten und post-bohèmistischen Städten wie London nach wie vor zu den Höhepunkten von "Sexbeat". Allerdings werden Ton und Stil beherrscht von Pathos, Behautpungsprosa und Kollektivsingularen. Kritiker, die Diederichsen immer eine gewisse intellektuelle Arroganz vorgeworfen haben, mögen sich bestätigt fühlen, wenn hier bemerkt wird, dass Bohemia aus Personen bestehe, die sich gegenseitig für höhere Wesen halten. Der Autor zählte sich natürlich dazu.

    Was Diederichsen aber leistet, ist eine Untersuchung der Möglichkeiten, auch unter veränderten Bedingungen Dissidenz wirksam zu praktizieren – "nicht denen ihr Spiel zu spielen", wie es in "Sexbeat" immer wieder heißt. Dazu schreibt der Autor in einem aktuellen Vorwort zur Neuauflage:

    'Sexbeat' hatte eine dreifache Aufgabe. Erstens die Darstellung meiner Erfahrung mit der Kultur der alten linken Bohème, der ‚Weiter’-Kultur; zweitens die Antithese meiner Generation auszuführen: nicht mehr weglaufen, nicht mehr weiterlaufen, Künstlichkeit anerkennen und kulturelle Konditionierungen als Material verstehen; und drittens begreifen, warum auch dagegen eine Gegenthese möglich wurde – oder anders, den Rest benennen, der sich nicht fügte: das Reale, das Politische, die Basis, das Material.

    Diederichsen war schon immer ein Meistererklärer kultureller Codes und Styles, jemand, der die politischen und gesellschaftlichen Implikationen ästhetischer Praktiken und Diskurse zu analysieren und die feinen, aber entscheidenden Unterscheide von Zeichenpolitik zu benennen wusste – freilich im Sinne einer linken Popvision. Von der Bezeichnung als "Poplinker" mag er sich dann auch heute weniger distanzieren, als von Sexbeat . So entschuldigt er sich im Vorwort nicht nur für Passagen, die man sexistisch oder essentialistisch nennen könnte, sondern auch für seine Großmäulerei. Was das ausführliche Vorwort aber interessant macht, ist die Spiegelung vieler Sexbeat -Thesen mit den gegenwärtigen politisch-kulturellen und medialen Rahmenbedingungen. Demnach sind heute die endlos variierbaren Texte des Computers an die Stelle der elegant apodiktisch gehackten Schreibmaschine getreten. Mit der glücklichen Immanenz der Techno-Raver scheint auch das Prinzip Gegenkultur an sein Ende gelangt zu sein. Und das Pop einst zum Speien sein würde, habe sich Diederichsen damals nicht träumen lassen. Solche Einsichten werden ihn und andere Ernüchterte aber nicht davon abhalten, in der Popkultur weiterhin das Wort zu ergreifen. Wer dann wissen möchte, was wie gemeint ist und wie es dazu gekommen ist, sollte "Sexbeat" gelesen haben.