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Sexomanin auf der Suche nach dem befreiten Sein

Im Mittelpunkt von "Infrarot" steht eine 45-jährige Fotografin. Deren lustvolle Männersucht schildert Nancy Huston in zum Teil urkomischen Anekdoten. Doch ihr Roman ist kein Porno, sondern eine subtil verpuzzelte Familiengeschichte.

Von Christoph Vormweg | 25.07.2012
    "Ich schreibe zwei Versionen von jedem Roman. Mal ist das Original auf englisch, mal auf französisch – und ich übersetze es dann selbst in die andere Sprache. Warum ich auf französisch schreibe? Mit zwanzig bin ich nach Paris gekommen, um hier ein Jahr zu studieren. Und ich bin geblieben. Die Frage ist also: Warum dieses Exil? Ich hatte den Eindruck, dass es sehr wichtig sei, den Umweg über die fremde Sprache zu gehen, um die falsche Eindeutigkeit der Muttersprache zu zerstören – ein wenig wie bei Beckett. Ich hatte meine Kindheit auf Englisch gelebt - und dachte, ich müsste mich von diesen Erfahrungen entfernen, von diesen Gefühlen. Französisch war für mich eine Sprache ohne Emotionen, eine Sprache, die ich kontrollierte. Ich hatte die Illusion, erwachsen geboren zu sein."

    Schriftstellerin wollte Nancy Huston schon vor ihrer Ankunft in Frankreich werden. Ihre zentralen Themen fand die 68erin aber in Paris: in der Erfahrung der Fremde, im Widerstreit der kulturellen Identitäten, in den Langzeitlasten familiärer Prägungen, in den Kämpfen um mehr Freiheit in der Liebe, in der Standortsuche als Frau zwischen Mutterrolle und beruflicher Erfüllung.

    Auch in ihrem Roman "Infrarot" variiert Nancy Huston diese Motive. Ihre Protagonistin, die 45-jährige Rena, trifft sich in Florenz mit ihrem kanadischen Vater und ihrer Stiefmutter zu einer einwöchigen Sightseeingtour. Sie selbst, Mutter zweier Kinder, reist aus Paris an, wo sie als Fotografin arbeitet. Ihre Spezialität sind Infrarotaufnahmen, die das abbilden, was unsere Augen nicht wahrnehmen können: die Wärme der Körper. Gleich am ersten Tag bekommen wir einen Einblick in ihre Arbeitsweise. Während sich ihr gealterter Vater mit seiner Frau ausruht, verführt Rena einen schönen Türken. Und wie immer fotografiert sie den Liebhaber mit ihrer Infrarot-Kamera beim zweiten oder auch dritten Orgasmus.

    "Ich glaube, ich hatte wirklich Lust, ein Buch über eine Sexomanin zu schreiben. Wenn man von Männern spricht, die so ein Verhalten an den Tag legen, ist das immer aufwertend: das sind Don Juans, Frauenhelden, Verführer – das ist chic. Bei Frauen hingegen wird das oft so beschrieben, als wäre das eine Krankheit. Das sind Nymphomaninnen! Ich hatte also Lust, mich in den Kopf von so einer Frau hineinzuversetzen, einer Fotografin, bei der die visuelle Neugierde mit hineinspielt. Das war für mich äußerst fesselnd zu versuchen, mir den Blick einer Frau auf den Körpern der Männer vorzustellen."

    Kurz vor ihrem Bett-Shooting hat Rena noch sehnsüchtig an ihren vierten Ehemann gedacht, den Algerier Aziz, mit dem sie am selben Morgen, kurz vor ihrem Abflug aus Paris, geschlafen hatte. Allein das zeigt schon, dass sie anders tickt, jenseits der gängigen gesellschaftlichen Moralvorstellungen. Rena sucht – wie es heißt - das "befreite Sein". Sie genießt und gibt - ohne ihrem unwissenden Ehemann etwas wegzunehmen. Außerdem ist der Sex mit dem Fremden eine berufliche Herausforderung. Sie muss ihn weich stimmen, damit er auch noch zu ihrer geplanten Foto-Reihe "Die Liebsten der Liebhaber" seinen Beitrag leistet: indem er ihr erlaubt, ein Foto seines Talismanfotos zu machen, das er immer in seiner Brieftasche bei sich trägt – in diesem Fall das Foto seiner Ehefrau. Rena sprengt also für ihre Arbeit die Schutzzonen der Intimität. Sie überschreitet selbst beim Fremdgehen die Grenzen des Üblichen. Bei einer so unkonventionellen Heldin erscheint es umso erstaunlicher, dass der Aufbau von Nancy Hustons Roman "Infrarot" so streng festgelegt ist. Denn er folgt der Chronologie der Urlaubstage, den Etappen der touristischen Route.

    "In allen meinen Romanen lege ich großen Wert auf eine stabile Konstruktion. Das beruhigt mich. Das ist wie eine Art angenehmes Über-Ich, das mich begleitet. Denn so kann ich mir innerhalb jedes Abschnitts alle Freiheiten herausnehmen. Ich war jedenfalls sehr froh, als mir die Idee kam, die Reise nach Italien einzubauen. Denn die italienische Renaissance in Florenz ist eine Feier des menschlichen Körpers, eine Wiederentdeckung vor allem der männlichen Schönheit. Und das schien mir auch ein wunderbarer Motor für die Komik zu sein: diese Familie, die sich im Angesicht des idealen Schönen der Hässlichkeit des Tourismus ausgeliefert sieht, wo nichts funktioniert, wo man immer Verspätung hat, immer gestresst ist. Dieser Kontrast gefiel mir. Das hat mir erlaubt, Schneisen in Renas Vergangenheit zu schlagen, in ihren Kopf einzutreten, wo sie zu Subra spricht, wo man sehr, sehr weit in ihre Phantasmen, ihre Erinnerungen vordringt."

    Viele vergessene oder verdrängte Erinnerungspartikel, die zurück in Renas Bewusstsein treiben, haben es in sich. Ihre lustvolle Männersucht wird in zum Teil urkomischen Anekdoten geschildert: von ihrem Versuch, einen orthodoxen Juden zu verführen, bis hin zum Sex mit dem Kantor.

    Doch ist "Infrarot" kein mit Renaissance-Erotik aufgemotzter Porno für literarisch Gebildete. Vielmehr entpuppt sich dieser Roman als eine tragikomische, subtil verpuzzelte Familiengeschichte. Hinter Renas Gelüsten verbirgt sich letztlich eine Kindheit voller Lügen. Warum ist die Ehe ihrer Eltern gescheitert? Warum das Verhältnis zum Bruder von ihr aus gesehen so liebevoll, von ihm aus aber so gewalttätig? Wer hat Schuld an was? Im Sonnenschein von Florenz sinken wir hinab in die Abgründe einer fortschrittlichen Familie, in der die Eltern alles besser machen wollten. Renas Mutter verteidigte als Anwältin Prostituierte und verdiente das Geld. Ihr jüdischstämmiger Vater, ein komplexbeladener Neuropsychologe ohne Doktortitel, schluckte mit Vorliebe LSD – gerne auch mit seiner Tochter. Nancy Huston lässt die Erinnerungsbilder dabei in ihrer widersprüchlichen Offenheit stehen und macht so die Grenzen allen Psychologisierens deutlich. Und sie erzählt in einer knappen, präzisen, nie verschwätzten Prosa. Ihr Katalysator für den Plot ist Subra, Renas innere Stimme, die ständig dazwischenfunkt – ein Phänomen, das Nancy Huston persönlich übrigens nicht fremd ist.

    "Ich jedenfalls spreche mit anderen in meinem Kopf. Deshalb bin ich Romanschriftstellerin. Seit sehr langem habe ich andere Präsenzen, andere Antipoden, die mich begleiten. Und hätte ich diesen Roman einfach in der Ichform erzählt, wäre er wie eine autobiografische Entleerung rübergekommen, wie eine Autofiktion oder so was. In der dritten Person wiederum wäre es schwierig gewesen, die Phantasmen zu erzählen – so als hätte ich ihnen größeres Gewicht geben wollen, weil ich als Erzählerin meine, Euch Lesern das Düstere, Gewalttätige, manchmal Durchgeknallte in den Geschichten mitteilen zu müssen. Subra aber hat mir erlaubt, aus dem Inneren von Renas Kopf herauszukommen. Man meint ihre Stimme manchmal zu hören. Das ist fast so, als wären wir das - die ein wenig skeptischen Leser: 'Oh, wirklich? Das hast du wahrhaftig gemacht? Bist du sicher, dass sich das so abgespielt hat? Neigst du da nicht zufällig etwas zur Mythomanie, zur Übertreibung?'"

    Rena ist eine abgedrehte, wundersame Persönlichkeit. In Frankreich hat sich sogar Literaturpapst Bernard Pivot von ihr bezirzen lassen. Denn ihre Unberechenbarkeit macht die Lektüre von Nancy Hustons Roman "Infrarot" so anregend, so spannend – auch was die zum Teil tragischen Verläufe ihrer drei ersten Ehen angeht.

    Die vierte ist ebenfalls in Gefahr. Denn Aziz fordert Renas sofortige Rückkehr. Nicht aus Eifersucht, sondern weil während ihrer Reise nach Florenz im Oktober 2005 die heftigen Unruhen in der Pariser Banlieue ausgebrochen sind, genau dort, wo er selbst aufgewachsen ist. Aziz fordert Renas Engagement. Denn soziale Brennpunkte und der staatliche Umgang mit ihnen gehören zu ihren Spezialgebieten als Fotografin. Doch sie zögert - selbst dann noch, als ihr polternder Chefredakteur mit Kündigung droht. Liebe, Karriere, Familie – für die 45-Jährige beginnt eine neue Standortbestimmung. Auch im Finale ihres Romans "Infrarot" reißt Nancy Huston emotionale Abgründe auf und legt verdrängte Sehnsüchte frei. Auch hier erweist sie sich als äußerst lebenskluge Erzählerin.

    Nancy Huston: Infrarot.
    Roman. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
    Rowohlt Verlag, Reinbek Berlin 2012, 332 Seiten, 19,95 Euro