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Sexualisierte Gewalt im Sport
"Ich bin unschuldig"

Dem spanischen Turntrainer Jesús Carballo wird vorgeworfen, sich an Turnerinnen vergangen zu haben. Er streitet die Vorwürfe ab.

Von Sandra Schmidt | 09.10.2016
    Der spanische Nationaltrainer Jesús Carballo
    Der spanische Nationaltrainer Jesús Carballo (imago sportfotodienst)
    Carballo verlas nach den Vorwürfen eine Stellungnahme: "Ich bin absolut unschuldig und ich verstehe all das überhaupt nicht. Der angerichtete Schaden kann nie wieder gut gemacht werden. Ich bin längst verurteilt worden, ohne Prozess, ohne Beweise."
    "Ich war in einem Schockzustand"
    Jesús Carballo, Olympiateilnehmer 1968, ist der erfolgreichste und höchstdekorierte Turntrainer Spaniens, seit 1971 im Dienste des Verbandes, Cheftrainer der Männer und seit 1978 der Frauen. Er betreute Sportler bei neun Olympischen Spielen sowie dutzenden von Welt- und Europameisterschaften und gewann die ersten Medaillen für das spanische Frauenturnen überhaupt.
    Bis zum 28. Januar 2013. Da teilt ihm der Sportdachverband Consejo Superior de Deportes mit, dass eine Anzeige wegen sexuellen Missbrauchs gegen ihn vorliege.
    "Also, das war als hätten sie mir gesagt, ich hätte mich an meiner eigenen Tochter vergangen - scheußlich! Ich war in einem kompletten Schockzustand, wusste nicht was ich sagen soll und bin aus der Halle."
    Vorwürfe der Turnerin Gloria Videras
    Das Nationale Trainingszentrum in Madrid, das vierzig Jahre lang sein Zuhause war, hat er seit jenem Tag bis zu unserem Gespräch Anfang November 2013 nicht wieder betreten.
    Die Vorwürfe von Gloria Viseras beziehen sich auf den Zeitraum von 1977 bis 1980. Viseras ist 1977 zwölf, Carballo 33 Jahre alt, verheiratet und Vater eines Sohnes.
    Eine rothaarige Frau mit Brille lächelt in die Kamera
    Gloria Viseras bezeichnet sich selbst nicht als Opfer, sondern als "Überlebende von sexuellem Missbrauch" (Deutschlandradio / Andrea Schültke)
    "Gleich am nächsten Tag stand es in den Zeitungen, kurz darauf auch, wer die Anzeige erstattet hatte und alle möglichen Sachen und damit ist dann eine Maschinerie ins Rollen gekommen, die nur das eine Ziel hatte: mich zu zerstören", sagt Carballo
    "Sie hatten mich direkt verurteilt"
    Seine größte Sorgen seien seine Kinder gewesen, erzählt Carballo. Ex-Reckweltmeister Jesús Junior ist seit 2010 Präsident des Turnverbandes, Tochter Marta Trainerin der Rhythmischen Sportgymnastik und auch die ehemaligen Spitzenturner Javier und Manuel sind dem Sport treu geblieben. Vor allem aber Samuel, Sohn aus der zweiten, Mitte der neunziger Jahre geschlossenen Ehe mit Almudena San José.
    Sie ist ebenfalls Nationaltrainerin und ehemalige Turnkameradin von Viseras. Samuel ist gerade erst neun geworden. Carballo erzählt, er habe sich nicht mehr getraut, den Kleinen in die Schule zu bringen, aus Sorge vor eventuellen Beschimpfungen anderer Eltern vor dessen Augen.
    "All das war schrecklich traumatisch für mich. Ich habe überhaupt nicht mehr schlafen können, wie auch? Was konnte ich denn tun? Sie hatten mich ja direkt verurteilt, ich war schon verurteilt, ich konnte überhaupt nichts machen", sagt Carballo.
    Polizei: Darstellung Viseras' "absolut glaubwürdig"
    Die Polizei bezeichnete die Darstellung Viseras laut El País als "absolut glaubwürdig". Ihre ehemalige Teamkollegin Irene Martínez hatte ausgesagt, sie sei bei einem sexuellen Übergriff in einem Hotelzimmer anwesend gewesen. Doch das Verfahren wird erstinstanzlich wegen Verjährung eingestellt.
    Diese sieht das spanische Recht vor, wenn seit dem Erreichen der Volljährigkeit der Klägerin mehr als 20 Jahre vergangen sind. Zwei Monate später bestätigt eine zweite Instanz dieses Urteil. Viseras geht in Berufung - mit dem Argument, es gäbe Hinweise auf weitere Fälle in jüngerer Vergangenheit.
    Jesús Carballo berichtet von viel Solidarität und Unterstützung: "Das Olympische Komitee hat mir den Rücken gestärkt, viele haben mich angerufen, viele Spitzenleute aus dem Sport, befreundete Trainer, Präsidenten - ja, viele Menschen haben sich bei mir gemeldet."
    Solidarität von Turnerinnen
    Viel mehr bedeutet ihm aber die Unterstützung seiner Ex-Turnerinnen: "Vor allem und das ist viel wichtiger: Meine Ex-Turnerinnen! Alle! Wundervoll, ganz wundervoll - sie haben mir Kraft gegeben."
    Sie hätten Abendessen organisiert, die Carballos zu Hause besucht und ihn, der in den Monaten nach den Vorwürfen acht Kilo verloren hatte, immer wieder bekocht. Über 70 Ehemalige aus den letzten drei Dekaden unterzeichnen einen Offenen Brief zu seiner Unterstützung, ein weiterer stammt von den Eltern der zum Zeitpunkt der Anklage aktiven Turnerinnen.
    Eine Petition auf change.org erreicht in kurzer Zeit über 1300 Unterschriften. In verschiedenen Medien ist die Rede von einem Komplott gegen die vermeintlich allzu mächtige Carballo-Familie.
    Berufung letztinstanzlich abgewiesen
    Die Berufung wird vom Landgericht Madrid letztinstanzlich abgelehnt: Keine der von den Ermittlungsbehörden befragten Turnerinnen der Generationen nach Viseras habe, - so das Urteil - "sexuelle Übergriffe seitens des Beschuldigten selbst erlitten, mitangesehen oder von ihnen gehört".
    Auf die Frage, was ihm durch den Kopf gegangen sei, als er davon erfahren hat, sagt Carballo: "Gar nichts, das ging nicht über den Verstand, sondern über die Augen - ich war gerührt. Ich habe an die Menschen gedacht, an meine Freunde, an das Turnen. Es gibt Dinge, die sind nur schwer wieder gerade zu rücken, aber egal. Die Wahrheit ist, ich war gerührt, sehr gerührt."
    Jesús Carballo kehrt nicht zurück, Ende November 2013 wird eine außergerichtliche Einigung über die Beendigung seiner Arbeit als Cheftrainer bekannt. Im vergangenen Herbst verliert er ein angestrebtes Verfahren gegen Viseras und verschiedene Medien wegen übler Nachrede und tendenziöser Berichterstattung. Der zuständige Richter bewertete laut der mitangeklagten Zeitung El País die Presse- und Meinungsfreiheit als das höhere Gut.