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Sexualstraftäter klagen in Straßburg

Die deutsche Sicherungsverwahrung steht heute noch einmal auf der Tagesordnung der Straßburger Richter am Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. DLF-Chefredakteur Stephan Detjen ist gespannt, wie das Gericht mit der sehr zögerlichen Umsetzung seines Urteils aus dem Jahr 2009 in Deutschland umgeht.

Stephan Detjen im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 13.01.2011
    Tobias Armbrüster: Seit Anfang des Jahres, also seit gerade mal zwei Wochen, gilt in Deutschland ein neues Gesetz zur Sicherungsverwahrung für besonders gefährliche Gewalt- und Sexualstraftäter. Die Neuregelung war nötig geworden, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg entschieden hatte, dass die alte Regelung gegen die europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Heute steht die deutsche Sicherungsverwahrung nun noch einmal auf der Tagesordnung der Straßburger Richter. - Im Studio ist Deutschlandfunk-Chefredakteur Stephan Detjen. Herr Detjen, um welche Fälle wird es dabei heute gehen?

    Stephan Detjen: Das sind, Herr Armbrüster, vier Fälle von allesamt Männern, die wegen schwerer Straftaten, alle im Zusammenhang mit Sexualdelikten, verurteilt worden sind in Deutschland und hier seit vielen, vielen Jahren in Sicherungsverwahrung sitzen, also nach Abbüßung ihrer regulären Strafe weiterhin in Haft oder haftartigen Bedingungen festgehalten werden, weil man davon ausgeht, dass bei diesen Männern eine besonders hohe Rückfallgefahr besteht. Es sind Fälle, die aus drei Bundesländern kommen, aus Bayern, aus Nordrhein-Westfalen und aus Baden-Württemberg, darunter ein 76-jähriger Mann, der in Bayern in Haft sitzt, davon die letzten fast zehn Jahre in Sicherungsverwahrung, inzwischen in psychiatrischer Behandlung ist. Das heißt, das ist ein Fall: Selbst wenn da eine Sicherungsverwahrung heute für rechtswidrig erklärt worden wäre, würde der trotzdem in psychiatrischer Haft bleiben. Das muss man in diesem besonderen Fall sehen.

    Es geht immer wieder wie auch in dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, das vor etwas mehr als einem Jahr ergangen ist und zu einer Reform des deutschen Rechts geführt hat - Sie haben das erwähnt, Herr Armbrüster -, es geht immer wieder dabei auch um die Frage, ob diese Sicherungsverwahrung, so wie das im deutschen Recht bis jetzt gewesen ist, als eine sogenannte Maßnahme der Sicherung und Besserung angesehen werden kann, oder ob es sich nicht doch eigentlich um eine Strafe, um eine aber gerichtlich eben nicht im eigentlichen Urteil festgelegte Strafe handelt, für die dann andere Bedingungen gelten müssen. Und man muss natürlich sehen: Das hat immer wieder auch eine hoch politische Dimension. Wir haben das erlebt, die Diskussion, die es politisch darum gegeben hat, auch das Potenzial der politischen Stimmungsmache, das damit verbunden ist. Wir erinnern uns: es war ein Kanzler Schröder, der gesagt hat, "wegsperren, und zwar für immer". Und wir nehmen natürlich auch wahr die Ängste in der Bevölkerung, die Sorgen, die damit verbunden sind, wenn wir gesehen haben bis in diese Tage hinein, dass aufgrund dieser europäischen Rechtsprechung Männer freigelassen werden, die immer noch als hoch gefährlich gelten und zum Teil im Augenblick mit hohem Polizeiaufwand dann in der Freiheit begleitet und bewacht werden müssen.

    Armbrüster: Jetzt erinnern wir uns auch, dass es im vergangenen Jahr eine Reform der Sicherungsverwahrung in Deutschland gegeben hat. Auch wir hier im Deutschlandfunk haben darüber lange und ausführlich berichtet. Warum gibt es jetzt immer noch Klärungsbedarf vor Gericht in Straßburg?

    Detjen: Diese Fälle, das muss man natürlich sehen, die betreffen nicht das neue Recht in Deutschland, das wie gesagt die Voraussetzungen für die Verhängung dieser Sicherungsverwahrung deutlich besser, bundeseinheitlich strenger geregelt hat. Es wird nun wirklich wie eine Strafe verhängt. Es geht dabei um einen Fall, der nach der neuen Rechtslage in Deutschland ausgeschlossen wäre. Das ist der Fall, der von mir erwähnt wurde, dieses 76-jährigen Mannes, in dem die Sicherungsverwahrung erst angeordnet wurde, nachdem er seine reguläre Strafe verbüßt hatte. Das ist die sogenannte nachträgliche Sicherungsverwahrung, die natürlich in einer ganz besonderen Weise problematisch ist. Nach dem geltenden Recht mussten hierfür während der Haftzeit neue Tatsachen gefunden werden, neue Hinweise auf die Gefährlichkeit des Täters. Das war natürlich sehr schwer nachweisbar, weil in der Regel diese Gefährlichkeit ja schon vor der ersten Verurteilung vorlag. Da sind eine Menge Fragen aufgeworfen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte jetzt mit Blick auf das alte Recht entscheidet. Aber man wird natürlich jetzt sehr genau darauf schauen müssen, inwieweit in diesen Urteilen, die da heute ergehen, Hinweise darauf gegeben werden, die dann möglicherweise auch eine Auswirkung auf das geltende Recht haben können.

    Armbrüster: Angenommen, die Straßburger Richter urteilen heute erneut gegen die Bundesrepublik, was wären die Folgen, die Konsequenzen für die Bundesregierung?

    Detjen: Die Frage, die sich für mich eigentlich stellt, ist, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit der sehr zögerlichen Umsetzung seines Urteils aus dem Jahr 2009 in der Praxis in Deutschland umgeht, nicht was die Reform des deutschen Gesetzes angeht, sondern was die Praxis der Freilassung von Straftätern angeht, für die eigentlich nach dem Urteil von 2009 klar ist, dass sie nach europäischer Rechtsprechung menschenrechtswidrig in dieser Sicherungsverwahrung festgehalten werden. Wir erleben da eine sehr unterschiedliche Praxis in den unterschiedlichen Ländern. Die Freilassungen erfolgen zum Teil auf Grundlage von Gerichtsbeschlüssen, zum Teil auf Anordnung der Justizbehörden. Viele Sicherheitsverwahrte, die, wenn man das Straßburger Urteil streng anlegt, eigentlich längst frei sein müssten, sind immer noch in Haft. Und ich werde besonders darauf achten, ob aus diesem Urteil jetzt Hinweise daraus ablesbar sind, wie damit umzugehen ist.

    Armbrüster: Wir werden davon sicher heute noch mehrfach hören. - Am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wird am Vormittag ein weiteres Urteil zur Sicherungsverwahrung in Deutschland erwartet. Einschätzungen und Informationen waren das von Deutschlandfunk-Chefredakteur Stephan Detjen. Vielen Dank dafür.