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Sexuelle Befreiung
"Es gibt Anzeichen einer neuen Spießigkeit"

Viele Errungenschaften der sexuellen Revolution der 1960er-Jahre seien inzwischen wieder verloren gegangen, sagte die Publizistin Ulrike Heider im Deutschlandfunk. Die Gesellschaft kehre zurück zu einem neuen Konservativismus. Es gebe da einen Zusammenhang mit den ökonomischen und politischen Verhältnissen.

20.04.2014
    Ulrike Heider
    Die Publizistin Ulrike Heider. (George Larkins)
    In ihrer Jugend sei Sexualität etwas gewesen, "wovon man nicht sprach und wovor man sich schämte". Sie komme zwar aus einem liberalen Elternhaus, dennoch habe ihre Mutter erwartet, dass sie bis zu ihrer Eheschließung zu Hause wohne. "Als ich dann 1967 mit 20 Jahren die Unschuld verloren hatte, da hat mich meine Mutter eine Hure geschimpft", berichtete die Publizistin Ulrike Heider im DLF. "Da ist mir klar geworden, wie doppelbödig diese Moral ist."
    Im Zuge des sexuellen Aufbruchs, der in den 1960er-Jahren die Gesellschaft durchdrungen habe, habe sie erstmals öffentlich über Sexualität und sexuelle Bedürfnisse sprechen können. Sexualität wurde nun auch als etwas gesehen, was einem "Lustgewinn" verschaffen konnte.
    Romantisierung war eine Reaktion der vorherigen Verteufelung
    Die spätere "Romantisierung und Idealisierung der Sexualität" sei "vor allem eine Reaktion auf die Verteufelung der körperlichen Lust vor 1968. Und viele, die früher an die Liebe als höchstes Glück im Leben geglaubt hatten, die glaubten nun an die Sexualität als eine Art Heilsbringerin."
    Was aber heute unter dem Begriff der sexuellen Revolution zusammengefasst werde, sei damals nicht nur von den "Sexual-Revolutionären, sondern auch von zwei weiteren Gruppierungen vorangetrieben (worden), die mit Gesellschafts-Veränderungen absolut nichts zu tun hatten". Dies seien einmal "die Sexualreformer gewesen, wie Oswalt Kolle - und Sexualvermarkter: Fotografen, Filmer, Werber, Sexladenbetreiber und Pornografen." Letztere hätten kräftig verdient. Und das habe die sexuelle Revolution korrumpiert. Zu Recht habe sich die Frauenbewegung darüber empört.
    Geschlechterkampf statt Partnerschaft in den 80ern
    "Das optimistische Bild der Sexualität der 1960er- und 70er-Jahre entsprach sowohl dem ökonomischen Wohlstand dieser Zeit als auch der politischen Aufbruchstimmung." Mit der ökonomischen Unsicherheit der 80er-Jahre und der Verschärfung der sozialen Gegensätze "kam es zu einem drastischen Paradigmenwechsel". Geschlechterkampf statt Partnerschaft war nun angesagt. "Und mit dieser neu aufkommenden Sehnsucht nach Verbot, Geheimnis und Bordell-Erotik reproduzierte sich in den 80er-Jahren der Sexualitätsbegriff der 50er-Jahre - zumindest indirekt."
    Diese Entwicklung sieht Heider bis heute weiter fortgeschritten. Das habe mit den politischen und ökonomischen Verhältnissen zu tun. Von den sozialrevolutionären Anteilen der damaligen sexuellen Revolution sei nichts übrig geblieben, wohl aber von dem reformerischen Teil - "vor allem in Bezug auf die Sexualmoral". Auf der anderen Seite gebe es Anzeichen eines "neuen Konservativismus" und einer "neuen Spießigkeit".
    Das Interview können Sie in voller Länge in unserem Audio-on-Demand-Angebot hören.