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Sexueller Missbrauch in der Evangelischen Kirche
Der Preis des Leids

Anerkennungszahlung, Schadenersatz, Schmerzensgeld: Ob und wie Missbrauchsopfer finanziell entschädigt werden sollen, ist umstritten. Preisschilder an Untaten zu heften, sei zynisch, heißt es in der EKD. Betroffenenvertreter kritisieren das Verfahren als intransparent und ungerecht.

Von Thomas Klatt | 11.02.2020
Ein Junge steht weit entfernt in einer Gasse zwischen einem großen Schatten und einer Backsteinmauer.
Sexueller Missbrauch führt oft zu lebenslangem Leid (imago images / YAY Images /p0temkin 1054480)
"Also die 785 Fälle, das sind die bekannten Fälle aus allen evangelischen Landeskirchen. Was an materiellen Leistungen an diese Betroffenen geflossen ist, das wird man nicht so einfach hochrechnen können."
Sagt der Leiter des bayerischen Landeskirchenamtes, Nikolaus Blum, der auch Leitender Jurist des Beauftragtenrates der EKD ist. 5000 Euro Zahlung pro Fall sexuellen Missbrauchs sei bisher in der katholischen Kirche üblich. Die EKD aber rechne anders:
"Diese Zahl 5000 ist auch keine maßgebliche Zahl für uns. Es gibt einige Landeskirchen, die sich daran orientieren. Aber viel mehr Landeskirchen gehen ganz unabhängig von dieser Zahl davon aus, dass den Betroffenen materielle und immaterielle Hilfe zukommen muss. Dafür sind sogenannte Unabhängige Kommissionen eingerichtet. Und die Zahlen haben eine sehr große Bandbreite."
"In keiner Relation zu dem, was Betroffene erlebt haben"
In der bayerischen Landeskirche wurden in 40 Fällen gut 600.000 Euro an Opfer gezahlt. Soviel kann der bayerische Kirchenjurist sagen. Welche Summen seit 2012 in der ganzen EKD geflossen sind, bleibt unbekannt.
"Ich weiß von genügend Fällen, wo Leistungen nicht oder sehr lange nicht gezahlt werden, weil man zum Beispiel versucht zu unterscheiden zwischen: Wo beginnt sexualisierte Gewalt und wo gibt es Überschneidungen zu psychischer Gewalt. Psychische Gewalt, auch wenn sie sexualisiert ist, wird von vielen Landeskirchen nicht anerkannt. Mein Hauptkritikpunkt an diesen Anerkennungszahlungen ist: Sie nehmen nur den momentanen und den zeitnahen Bedarf in den Blick."
Sagt dagegen Kerstin Claus, Mitglied im Betroffenenrat beim Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung. Sie selbst wurde als Jugendliche Opfer sexuellen Missbrauchs in ihrer evangelischen Kirche.
"Es wird davon ausgegangen, jemand meldet sich, jemand hat im Moment einen Bedarf an Therapie, an Unterstützung, in welcher Form auch immer. Und dann sagt man, für diesen akuten Bedarf leisten wir Unterstützung. Das steht aber in keiner Relation zu dem, was Betroffene tatsächlich erlebt haben, es steht in keiner Relation zu den lebenslangen Lasten, die mit den Taten einhergegangen sind, mit versäumten Ausbildungsabschlüssen, mit versäumten beruflichen Möglichkeiten, mit einem Familienleben, das nicht so funktioniert, wie es funktionieren würde, wäre man nicht durch diese Erfahrungen gegangen, oder, oder, oder. Das heißt, es ist ein akutes Pflaster auf eine akut blutende Wunde und alles, was darunter liegt, wird nicht angeschaut."
Die Terminologie ist umstritten
Die Landeskirchen sprechen meist nicht von Entschädigung, sondern – wie die katholische Kirche - von "Zahlungen in Anerkennung des Leids".
11.06.2019, Niedersachsen, Hannover: Nikolaus Blum, Oberkirchenrat in der EKD, spricht während einer Pressekonferenz. Nach Bekanntwerden von inzwischen 600 Missbrauchsfällen hat sich die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) zu Maßnahmen gegen sexuellen Missbrauch geäußert.
Nikolaus Blum ist Leitender Jurist des Beauftragtenrates der EKD (Picture Alliance / dpa / Hauke-Christian Dittrich)
Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau sieht zum Beispiel keine pauschalen Entschädigungen vor. Die Verfahren seien zu langwierig und juristisch kompliziert. Die Nachweispflicht liege allein bei den Betroffenen. Ein Übergriff nach Jahrzehnten lasse sich oft nicht nachweisen. Die Betroffenen gingen also leer aus. Die Nordkirche hingegen kann sich durchaus vorstellen, dass eine Anerkennungssumme gezahlt wird, deren Höhe sich an entsprechenden Schmerzensgeldtabellen orientiert. Es gehe dabei um bis zu mittlere fünfstellige Summen plus immaterielle Leistungen. Was also gilt jetzt wo genau? Nikolaus Blum vom Beauftragtenrat der EKD:
"Es ist völlig richtig. Es gibt Unterschiede zwischen den verschiedenen Landeskirchen und vor allem gibt es große Unterschiede in der Terminologie, die verwendet wird. Im Zusammenhang der EKD-Synode in Dresden letzten November ist uns als Landeskirchen dieses Problem bewusst geworden. Wir haben gesagt, wir müssen unbedingt hier zu einer vereinheitlichten Terminologie und zu einer vereinheitlichten Praxis kommen."
"Schadenersatz" oder "Schmerzensgeld"?
Wer wie viel genau bekommt, wollen die Kirchen aber nicht sagen. Aus Schutz für die Opfer, wie es heißt. Für das kirchliche Opfer Kerstin Claus ist das nicht nachvollziehbar.
"Transparenz verpflichtet zur Rechenschaft. Rechenschaft stärkt Betroffene, weil sie erfahren, nach was sie überhaupt fragen können. An solch einer Transparenz ist in meinen Augen Kirche nicht interessiert. Es ist viel besser, wenn Kirche sagen kann: Nein, das machen wir nie oder mehr als so und so viel Therapiestunden bezahlen wir nicht. Oder, oder, oder. Das was ich massiv kritisiere, dass gerade die Betroffenen, die es am dringendsten bräuchten, häufig am wenigsten bekommen, weil sie nämlich gar keine Kraft haben, für sich einzustehen und schon froh sind, überhaupt etwas zu bekommen."
Die Täter würden meist ungeschoren davonkommen. Ein Schadenersatz wäre aber auch für die Opfer heikel, räumt Kerstin Claus ein.
"Der Begriff Schadenersatz klingt erst mal gut, hat aber rechtliche Anteile, die schwierig sind, weil jede Form von Schadenersatz wird beispielsweise auf Sozialleistungen angerechnet. Das heißt, Betroffene versuchen, in der Kategorie Schmerzensgeld zu denken."
Man wirft sich gegenseitig Zynismus vor
Das bedeute dann aber nicht, dass sich die Opfer wie bisher mit relativ niedrigen Summen zufrieden geben müssten.
Kerstin Claus: "Ich glaube, es geht eher, wenn man ein Bild haben möchte, in Bereiche, wie wir sie im Medizinrecht haben. Da sind wir bei Schmerzensgeld-Zahlungen, die sind in Teilen recht hoch. Kirche verweigert das immer und sagt immer, dass wir das nicht wieder gut machen können, dass eine Aufrechnung in Geld nicht möglich ist. Das klingt in meinen Ohren zynisch und das wird der Lebenslast Betroffener nicht gerecht."
"Es verbietet sich, Preisschilder an bestimmte Untaten zu heften, das finde ich selber zynisch", sagt EKD-Jurist Nikolaus Blum. Er lehnt Zahlungen nach Tabellen ab.
Die Taten verjähren hinsichtlich der Entschädigung nicht
Dabei müsste die Kirche im Grunde heute schon sechsstellige Summen zahlen, sagt Kerstin Claus.
"Eine Entschädigungsmöglichkeit gibt es theoretisch schon, das hat sich keiner angeschaut bisher. Für die wenigen Betroffenen, die Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz bekommen, weil sie einen Nachweis der Tat führen konnten, ergibt sich für das jeweilige Bundesland eine Möglichkeit, zivilrechtlich den Anspruch gegenüber Täter oder auch Institutionen geltend zu machen."
Kerstin Claus spricht im November 2019 als Opfer kirchlichen Missbrauchs vor der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland
Kerstin Claus wurde selbst Opfer sexuellen Missbrauchs (imago images / epd / Heike Lyding)
Kerstin Claus selbst wurde die Anerkennung nach dem Opferentschädigungsgesetz zugestanden. Das Versorgungsamt Bayern habe daraufhin einen zivilrechtlichen Prozess gegen die bayerische Landeskirche und den Täterpfarrer geführt und habe sich so einen hohen Geldbetrag von den lutherischen Christen rückerstatten lassen. Es gebe dabei keine Verjährungsfrist hinsichtlich der Tat, sondern erst ab dem Tag der Kenntnisnahme des Falls. Ab dann könne der Täter - beziehungsweise die evangelische Kirche als Täterorganisation - noch drei Jahre lang seitens des Versorgungsamtes zur Rechenschaft gezogen werden. Das sei vielen Opfern nicht bewusst und werde von den Kirchen tunlichst verschwiegen, sagt Kerstin Claus. Solchen Verfahren müsse man sich auch stellen, bejaht Kirchenjurist Blum.
Hohe Summen nur bei Tatnachweis
Auch in der katholischen Kirche sorgt das Thema Entschädigung für Streit. Die Bischofskonferenz will, so Stephan Ackermann in der ZDF-Sendung "Berlin Direkt", in den nächsten Monaten zu einer Einigung kommen. Noch ist weder klar, wie viel gezahlt werden soll, noch steht fest, ob Kirchensteuermittel herangezogen werden. Eine Arbeitsgruppe hatte im Herbst vergangenen Jahres Entschädigungen in sechsstelliger Höhe empfohlen.
Für die evangelische Kirche aber seien solche Summen als freiwillige Zahlungen ohne Gerichtsverfahren ausgeschlossen, sagt Kirchenjurist Nikolaus Blum.
"Das geht nicht, dass wir auf Plausibilität und auf erste Anforderung Beträge in diesen Größenordnungen ausschütten können. Und die Frage, wie soll es denn nachgewiesen werden, die ist auch offen, die ist nicht beantwortet."
Ein Kraftakt für die Kirchen
Wer wann, wie viel, wie lange, von wem, was erhält? Auch zehn Jahre nach Bekanntwerden der ersten Fälle sexuellen Missbrauchs bleibt das ein großes Rätselraten für die Betroffenen. Eine große Studie über das Ausmaß sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche gibt es nicht. Die genannten 785 Fälle passierten in den 1950er- Jahren und in den dann folgenden Jahrzehnten, heißt es aus der EKD-Pressestelle. Kerstin Claus:
"Das was man ja sehen kann an den Zahlen ist, dass schrittweise sehr allmählich die Zahl der aus dem gemeindlichen Kontext Betroffenen steigt. Bis vor einer Weile war für die EKD und Landeskirchen ganz klar: ,Eigentlich geht es nur um die Diakonie und Heimkinder. Und abgesehen davon haben wir im gemeindlichen Kontext kein Problem, weil unsere Pfarrer dürfen ja heiraten.'"
Für Kerstin Claus ist ein Ende der Aufklärung nicht abzusehen. Auch wenn die Kirche nun Opfer aufgerufen hat, sich im neu zu bildenden EKD-Betroffenenrat zu engagieren, sei noch viel Kraftanstrengung nötig, damit Betroffene auch Vertrauen zur Täterorganisation Kirche haben könnten.
"Für mich geht es damit los, dass im Rahmen der evangelischen Kirche viel mehr Anstrengungen unternommen werden müssen, damit Betroffene sich auf guten Boden melden können und sagen können: Auch ich habe sexuelle Gewalt im Kontext Kirche erlebt. In meinen Augen spiegeln die Zahlen in keinerlei Hinsicht das tatsächliche Ausmaß sexueller Gewalt in der evangelischen Kirche."