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Sexueller Missbrauch
Kinder nicht zusätzlich belasten

Insgesamt acht Mal wird ein Kind von staatlichen Stellen befragt, wenn ein Verdacht auf sexuellen Missbrauch vorliegt. Eindeutig zu oft, meinen Juristen und Ärzte. Das Kind würde dadurch im schlimmsten Fall retraumatisiert. Die deutsche Strafjustiz und das Hilfesystem müssen sich ändern, sagen auch Opfer. Eine Fachtagung der World Childhood Foundation wird sich Samstag in Leipzig mit der Thematik befassen.

Von Susanne Arlt | 07.10.2016
    Das Bild zeigt Schattenrisse von drohenden Händen eines Erwachsenen und den Schatten eines Kinderkopfes.
    Bei der Aufarbeitung von Kindesmissbrauch werde zu selten aus der Perspektive des Kindes gedacht, kritisieren Experten. (dpa / picture alliance / Patrick Pleul )
    Sonja Jetter sieht man die Qualen nicht an, die sie in ihrer Kindheit durchlitt. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Schwarze lange Haare umrahmen das hübsche Gesicht, sie lacht gerne, hat einen ausgeprägten Sinn für Humor. Keine Frage, Sonja Jetter ist eine starke Frau. Denkt sie aber zurück an ihre Kindheit, dann gefriert ihr Lächeln.
    Sonja Jetter war gerade mal vier Jahre alt, als ihr Stiefvater in ihr Leben trat. Mehr als zwölf Jahre misshandelte und missbrauchte er sie sexuell. Damals sei für sie die körperliche Gewalt schlimmer als der Missbrauch gewesen, erinnert sich die heute 28-jährige. Dass ihr Stiefvater sich auch sexuell an ihr verging, sei ihr erst viel später bewusst geworden.
    "Er hat mich einfach immer wieder angefasst, hat mich dazu gebracht, ihn anzufassen. Wir wurden immer mit einer Rute gezüchtigt und er hat das dann auch auf eine sexuelle Art einfach für sich gebraucht. Dass er dann ganz sanft eben woanders hin geschlagen hat und dann habe ich auch irgendwann gemerkt, dass er das mag und egal ob man das als Kind verstehen kann oder nicht, man tut alles, damit derjenige, der einem so viel Angst einjagt, einfach sich beruhigt. Und dann macht man tatsächlich dann eben auch mit."
    Keine Hilfe von Erwachsenen
    Kein Erwachsener kam ihr damals zu Hilfe. Ihre Mutter war überfordert, ihre Lehrer bekamen nichts mit. Als Sonja Jetter zehn Jahre alt war, ging sie zur Polizei, erzählte den Beamten von den brutalen Schlägen. Nachdem die Polizisten sie vernommen hatten, schickten sie das Mädchen wieder nach Hause. Die Qualen hörten erst auf als sie mit 16 Jahren von zuhause auszog. Mit 19 offenbarte sie sich zum ersten Mal einem Seelsorger, mit 20 ihrer besten Freundin und mit 21 erstattet sie schließlich Anzeige. Der Gerichtsprozess zwei Jahre später war für Sonja Jetter ein neuer Schock. Vor allem der Richter, ein älterer Mann, von Empathie keine Spur, erinnert sie sich.
    "Es war eine absolute Katastrophe. Ich bin direkt im Gerichtssaal dann erst einmal in Tränen ausgebrochen, und das erste was der Mann zu mir gesagt hat, war, Frau Jetter, das hilft uns jetzt nicht weiter, wenn Sie jetzt schon am Anfang anfangen, zu weinen."
    Nach dem bekanntgewordenen Missbrauch von Schülern am Canisius-Kolleg oder an der Odenwaldschule habe sich innerhalb der Gesellschaft einiges verändert, sagt Johannes-Wilhelm Rörig. Man schaue nicht mehr so schnell weg, so der unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Doch wird ein Missbrauch aufgedeckt, gerät das Kind danach in die Mühlen der Strafverfolgung und der Kindeswohlsicherung. Aktuell gebe es in Deutschland eine Vielzahl von Rechts- und Hilfesysteme, die viel zu wenig aufeinander abgestimmt seien, kritisiert Rörig.
    "Und das führt dazu, dass oft zu Lasten der Kinder agiert wird, und Kinder, die gerade bei sexuellem Missbrauch ja schon so unendliches Leid ertragen haben, dann auch noch zusätzliche Belastungen bis hin zu Retraumatisierung und noch nicht einmal ordnungsgemäßer Behandlung des Traumas, verursacht werden."
    Nicht aus Perspektive des Kindes gedacht
    Zu selten werde aus der Perspektive des Kindes heraus gedacht. Zu selten arbeiteten Polizei, Hilfesystem und Justiz Hand in Hand. Nur so sei zu erklären, dass ein Kind nicht nur einmal, sondern gleich mehrmals über seinen Missbrauch staatlichen Stellen berichten muss, ärgert sich der Jörg Fegert, Ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Ulm.
    "In der Regel werden in einem Jahr ungefähr sieben oder acht verschiedene Stellen angelaufen und dieses Unkoordinierte, eigentlich gut gemeinte, ist nicht gut gemacht. Wir müssen jetzt in allen Bereichen, die damit befasst sind, mehr Professionalität reinbringen. Wir müssen wissenschaftliche Erkenntnisse auch verfügbar machen, dass sie überall in der Praxis angewandt werden."
    Ein wirksamer Kinderschutz hänge zum einen von einer guten interdisziplinären Vernetzung ab sowie von der Qualifikation und Weiterbildung aller professionellen Akteure, betont Familienrechtler Ludwig Salgo. Dazu zähle vor allem die Richterschaft, die keiner Fortbildungspflicht unterliege.
    "Ausbildung hilft der richterlichen Unabhängigkeit, macht die Entscheidungen weniger anfällig und schont Kinder."
    Sonja Jetter geht sogar noch einen Schritt weiter. Wer vom Kind her denkt, der mutet einem sexuell missbrauchten Opfer keinen Richter zu, der es an den Täter erinnert. So wie in ihrem Fall.
    "Es kann nicht sein, dass man als Opfer in der Mitte sitzt, und erhaben vor einem Richter und Schöffen, rechts davon der Täter, und man sitzt da in der Mitte. Klein und hat Angst. Und das war sogar für mich als Erwachsene mit 24 Jahren absolut unerträglich und das dann als Kind, das ist noch 1.000 Mal schlimmer."
    Videovernehmungen verhindern Begegnung von Täter und Opfer
    In solchen Strafverfahren könnten Videovernehmungen eine gute Lösung sein, meint Familienrechtler Salgo. In Großbritannien wird dies längst praktiziert, in Deutschland äußerst selten. Die Gründe dafür laut Salgo: mangelnde Sensibilität, unzureichendes Fachwissen seitens der Richterschaft und fehlende technische Voraussetzungen.