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Sexy Berlin, liebevolles München

Noch nie haben so viele Menschen in Städten gelebt wie im 21. Jahrhundert, und eine globale Architektur scheint dafür zu sorgen, dass sich Metropolen immer ähnlicher werden. Gleichzeitig arbeiten Politiker, Stadtplaner und Kulturschaffende daran, ihrer Stadt ein unverwechselbares Gesicht zu geben - im medial geführten Konkurrenzkampf um Einwohner, Investoren und Fördermittel. Die Soziologin Martina Löw hat sich in ihrem Buch "Soziologie der Städte" dem, was wir "urban" nennen, auf ungewöhnliche Weise genähert. Sie betrachtet Städte als lebendige Organismen, in denen wertvolle Erkenntnisse für zukünftige Städteplanungen und Standortentscheidungen schlummern.

Von Annette Brüggemann | 06.01.2009
    "Solange es nur sozialwissenschaftliche Typenbildungen gibt, die nach wissenschaftlich gesetzten Kriterien Städte miteinander in Beziehungen setzen, so lange bleibt verdeckt, wie Städte sich aneinander orientieren und in der gelebten Konkurrenzbeziehung alte Routinen pflegen, statt neue Wege zu finden."

    So lautet die zentrale These Martina Löws, die in ihrem Buch mit den Stereotypen der Stadtsoziologie aufräumt. Für sie gibt es nicht einfach nur "Megacitys" und "schrumpfende Städte". Sie macht auch nicht mit im Lamentieren über eine sogenannte "McDonaldization". Ein Begriff, der metaphorisch für eine kommerzielle Gleichmachung von Städten in Zeiten der Globalisierung steht.

    Martina Löw besinnt sich in ihrem Buch "Soziologie der Städte" auf das Wesentliche: Was ist das Eigene einer Stadt wie München? Inwiefern stimmen Fremdbild, Selbstbild und Realität überein - auf emotional-gefühlte und auf wissenschaftlich-rationale Weise?

    Martina Löw durchleuchtet eine Stadt wie einen menschlichen Körper, den die unterschiedlichsten Merkmale prägen. Ebenso wie nicht jeder Körper dieselbe Erbsubstanz besitzt, so haben auch Städte unterschiedliche Logiken und Gesetze, die es in ihren Augen genau zu beobachten gilt. Denn was nützen globale, mit Statistiken bestückte Vergleiche, wenn wir nicht einmal wissen, was eine Stadt ausmacht?

    Martina Löw plädiert dafür, die sich selbst prägenden Muster von Städten zu analysieren und damit alte Routinen, wie sie es nennt, zu durchbrechen. Nur so ist in ihren Augen eine echte Veränderung möglich.

    "Warum richtet sich kein Erkenntnisinteresse auf die Stadt als spezifischen Gegenstand? Warum wird so wenig Aufmerksamkeit auf das Phänomen gerichtet, dass manche Städte trotz vergleichbarer sozialstruktureller Ausgangsbedingungen den Herausforderungen des sozialen Wandels leichter und erfolgreicher begegnen als andere? Warum systematisiert niemand das Wissen, das Planer und Planerinnen über die Art und Weise, wie Städte unterschiedlich ‚ticken', haben und längst anwenden? Warum bemühen sich Wissenschaftlerinnen kaum darum, zunächst einmal Thesen darüber zu formulieren, aus welchen Strukturelementen sich jenes ‚Ticken' zusammensetzt und wie sich diese Elemente begrifflich fassen lassen?"

    Was das sogenannte "Ticken" einer Stadt ausmacht, darüber möchte Martina Löw in ihrem Buch Aufklärung leisten. Man könne in den wirtschaftlichen Sektor investieren, Kultur ausbauen, Politiker austauschen, neue Planungskonzepte realisieren, aber welche Ideen eine Stadt generieren würden, sei Ausdruck eines praktischen Eigensinns.

    Um diesen herauszufiltern vernetzt Martina Löw theoretische Ansätze geschickt miteinander. Da wird der französische Soziologe Pierre Bourdieu ebenso zitiert, wie der niederländische Architekt Rem Koolhaas. Leider müssen sich die Leser dafür durch ein seitenlanges, wissenschaftliches Aufarbeiten des aktuellen Forschungsstands quälen.

    Auch arbeitet Martina Löw streng universitär die theoretischen Begriffe auf, die sie anschließend im eigenen Kontext verwendet. Martina Löws Analyse wäre unglaubwürdig geworden, hätte sie nicht die Ikonografie von Städten in unserem Medienzeitalter ins Visier genommen. So zeigt sie deutlich, dass es ihr nicht darum geht, sich auf eine Spurensuche nach dem angeblich "Authentischen" einer Stadt zu begeben.

    Der slowenische Philosoph Slavoj Zizek war es, der den Begriff "Pest der Fantasmen" geprägt hat. In seinem Sinne sind Fantasmen Bilder, die wir über uns produzieren und die uns deshalb so sehr in ihre Macht nehmen. Für Zizek sind wir selbst Produzenten der verführerischen Matrix, in der wir leben.

    Wenn Martina Löw Stadtbilder untersucht, hat sie diesen Gedanken im Hinterkopf mit dem Wunsch, das Image einer Stadt konstruktiv zu durchbrechen.

    Wirklich spannend wird es darum auf den letzten 50 Seiten, wenn es um die praktische Anwendung ihrer Stadtanalyse geht. Da setzt sie die Imagekampagnen von Berlin und München in einen überaus interessanten Vergleich und entlarvt die gängigen Klischees.

    "'Sind Sie reif für Berlin?', fragt die Zeitschrift Maxi die Leserin bereits auf der Titelseite. Reif, so schlage ich nach, bedeutet 'gefestigt im Leben stehend', 'hohen Ansprüchen genügend', aber auch 'voll entwickelt'. 'Reif' hat einen intellektuellen und einen körperlich/erotischen Anklang. Mit roten Lettern und durch die Schlagzeile 'Lust auf Berlin' wird 'reif' von den Zeitungsmachern in einen Zusammenhang mit Erotik gesetzt. Wer in Berlin sein will, sollte gefestigt sein - und erwachsen genug für das erotische Leben."

    Den Slogan "Berlin ist arm, aber sexy" hat Berlins Bürgermeister, Klaus Wowereit, geprägt. Was bedeutet Sexiness im innerstädtischen Vergleich? Warum gibt sich Berlin dieses Image? Mit welchen Konsequenzen?
    Erotik, so Martina Löw, symbolisiere das Neue, Fremde, Überraschende und im Bezug auf die Stadt eine soziale und räumliche Unerschöpflichkeit. Berlin gibt sich damit als großstädtisch, widersprüchlich, nicht festlegbar, in ständiger Bewegung begriffen, attraktiv und kreativ. Das verschafft Berlin internationale Anerkennung in den Bereichen der Kunst und Kultur, sowie den Ruf, Weltstadt ohne Provinz zu sein. Ökonomisch erfolgreich ist Berlin nicht.

    Dafür ist es Berlin gelungen, als etwas Besonderes angesehen zu werden. Seit Einführung der deutschen Single-Charts wurde keine Stadt so oft besungen wie Berlin. Und selbst Leonhard Cohen sang mit Jennifer Warnes: "First we take Manhattan, then we take Berlin." Mit Berlin muss man sich beschäftigen - und sei es musikalisch.

    Ganz anders München. Während Berlin für Sex steht, steht München für Liebe. Die Slogans von München lauten: "Munich loves you" und "Weltstadt mit Herz". München will nicht Herausforderung, pulsierendes Zentrum, Sex und Abenteuer sein, sondern liebenswert und liebesfähig. Martina Löw beschreibt, wie die Werbekampagnen für München suggerieren: Hier kommst du zur Ruhe, umgeben von Bergen und Natur.

    Für München werben Jungs in Lederhosen. Traditionspflege und die Versöhnung von Stadt und Provinz stehen im Vordergrund. München wirbt damit als Qualitätsstandort - mit großem wirtschaftlichem Erfolg.

    Überraschend sind die realen Fakten: Berlin hat eindeutig mehr städtische Erholungsflächen als München, das für seinen großen Freizeitwert wirbt. In München hingegen wandern jährlich weitaus mehr Menschen an und wieder ab als in Berlin, das sich als großstädtisch und im stetigen Wandel begriffen vermarktet. Auch gibt es eindeutig mehr Erwerbstätige in München.

    Welche Bilder einer Stadt sind also schon so sehr in Leib und Seele übergegangen, dass sie nicht mehr hinterfragt werden? Das ist es, was Martina Löw meint, wenn sie von gelebter Routine spricht. Die Bilder eine Stadt erzeugen in ihren Augen eine Materialität, die in unseren Alltag eingreift. Wir leben das Image einer Stadt und wer sich Veränderung wünscht, muss sich die Inszenierungen genauer ansehen.

    Bereichernd wäre aus diesem Grund die Analyse literarischer und künstlerischer Auseinandersetzungen mit Städten wie München und Berlin gewesen. Und auch die Betrachtung einer architektonischen Entwicklung, die auf das soziale Leben zurückwirkt. Nach dem Abriss des Palastes der Republik, hat sich Berlin jüngst für einen ganz klassischen architektonischen Entwurf des Italieners Francesco Stella entschieden. Sein Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses ist stilecht, sexy sicher nicht.

    Martina Löw: "Soziologie der Städte". Mit zahlreichen Abbildungen. Suhrkamp Verlag. 250 Seiten, Hardcover. 22,80 Euro. ISBN 978-3-518-58503-0.