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Shakespeare
Das Zeitalter des Theaterheroen in 20 Objekten

"Shakespeares ruhelose Welt" heißt das faszinierende Buch von Neil MacGregor, in dem er uns in die Welt britischer Bürger um 1600 versetzt. Anhand von 20 Objekten illustriert der Direktor des British Museum, was Shakespeares Zeitalter prägte: die Globalisierung, die Glaubenskämpfe, die Pest, der Islam und die Magie.

Von Roland H. Wiegenstein | 15.07.2014
    Ein Denkmal von William Shakespeare im Park an der Ilm in Weimar.
    Ein Denkmal von William Shakespeare im Park an der Ilm in Weimar. (picture alliance / dpa / Michael Reichel)
    Stellen Sie sich vor, sie flanierten am südlichen Themse-Ufer in London und ein Straßenarbeiter, der gerade an einem Aushub, für was auch immer arbeitete, schmisse eine dunkelgrüne, glasierte Tonscherbe aufs Pflaster, und ein zufällig anwesender Archäologe wüsste gleich, dass es sich dabei um das Bruchstück eines "Box-Office" handelte, den Rest eines runden Gefäßes, durch dessen Schlitz er den geschuldeten Penny geworfen hätte, der zum Theaterbesuch auf dem Stehparkett eines der vielen kommerziellen Theater in dieser Gegend berechtigte und das Gefäß selbst sei nicht – wie ein Sparschwein selig, am Ende der Vorstellung zerschlagen worden, um an den Ertrag der Vorstellung zu geraten.
    Lebensumwelt britischer Bürger um 1600
    Dies ist eines der vielen Objekte, die der Direktor des British Museum zunächst seinen Zuhörern und Sehern der BBC vorstellte und nun auch in dem Buch "Shakespeares ruhelose Welt", das den Versuch unternimmt, anhand der Lebensumwelt britischer Bürger um 1600 das zu zeigen, was damals, in der Regierungszeit der langlebigen König Elisabeth I., diese Bürger bewegte, als das Königreich endgültig in den Rang einer europäischen Großmacht aufrückte – und Shakespeare seine Stücke schrieb.
    MacGregor liefert keine neue Theorien über das Werk des großen Dramatikers, schon gar nicht lässt er sich in die Diskussion ein, ob der 1564 in Stratford-on-Avon geborene und 1616 ebendort gestorbene Schauspieler und Theaterunternehmer auch wirklich der Verfasser der vielen Dramen, Tragödien und Komödien gewesen sei, als der er der Mehrheit der Gelehrten bis heute gilt. MacGregor geht es um die Objekte:
    "Vom Charisma der Dinge bewegt, unternimmt dies Buch zwanzig Reisen in eine vergangene Welt – dies aber nicht, um uns irgendeinen Heiligen oder Helden näher zu bringen, schon gar nicht die Gestalt im Zentrum des Geschehens selbst, William Shakespeare. Wir wissen über das, was er tat, recht wenig. Shakespeares innere Welt bleibt, so bitter das ist, im Dunklen. Stattdessen erlauben uns die Objekte in diesem Buch, an den Erfahrungen seines Publikums teilzuhaben."
    Von billigen Snacks, Weltkarten und Abendmahlskelchen
    Diese Objekte sind, wie die Erfahrungen, vielfältig. Und, wo immer tunlich und möglich, weist MacGregor auch auf die jeweiligen Shakespeare-Zitate hin, in denen diese Objekte, offen oder in Anspielungen vorkommen. Wir erfahren angesichts einer 22 Zentimeter langen Gabel mit zwei spitzen Zinken, wie die Besucher des "Rose" oder des "Globe" sich während der jeweils rund zwei Stunden langen Nachmittagsvorstellungen im Theater ihre kleinen Erfrischungen aufpickten – von billigen Snacks im Parkett bis zu Austern auf den mit Sitzen ausgestatteten Rängen – wir erfahren aber auch anhand der neuen Weltkarten und Globen, der Gedächtnismünzen und Porträts, wie Sir Francis Drake und Elisabeths andere Seehelden in die Welt ausgriffen, an Abendmahlskelchen, welche religiösen Spannungen zwischen der Anglikanischen Kirche und Rom herrschten, bis in zur silbernen Reliquienschatulle, die das Auge eines hingerichteten Jesuiten enthält. Überhaupt, die Hinrichtungen: Sie waren Volksfeste einer Menge, die für die Gehängten, Gesottenen, Gevierteilten keinerlei Pardon kannten, gleich ob sie der falschen Religion angehört, oder in jeweils gleich vereitelten Unruhen der jungfräulichen Königin ans Leder gewollt hatten.
    "Alle diese Verschwörungen sind gescheitert. Die Geschichten gleichen einem Horrorfilm: Mit Angstlust, vom sicheren Sessel aus lässt sich die Gefahr verfolgen. (...) Nicht eine der realen Verschwörungen taucht in Shakespeares Stücken auf, glelchwohl: als Fakt und Furcht lebt Verschwörung auch in seinem Werk. (...) Für Shakespeares Zuschauer waren die Nachrichten die prägenden Ereignisse ihrer Lebenszeit."
    Die Nachrichten: Etwa die französische Bartholomeusnacht 1572, in der eine Königin Protestanten schlachten ließ oder die hausgemachte Guy Hawkes Revolte; all diese papistischen oder abenteuerlichen Revolten prägten das Bewusstsein, man verstand jede Anspielung des Dichters. Man wusste aber auch, welche merkwürdigen Gestalten aus fernen Welten an den englischen Hof kamen und was es mit dem Handel auf sich hatte, wenn der marokkanische Botschafter Abd-al-Wahid bei Hofe erschien. Im "Kaufmann von Venedig" taucht ein Prinz von "Marokko" auf, der um Portia wirbt. Aber auch mit Uhren, die damals mit handwerklich ausgefeilten Methoden, und zu hohem Preis auf den Markt kamen, begann man sich auszukennen, überhaupt mit allen Formen von Technik, vom Schiffsbau bis zu Feuerwerken in den Theatern, als diese geschlossene Dächer bekamen und Zauberkunststücke jeder Art das Publikum erfreuten. Einen Koffer mit Zauberrequisiten zeigt das Buch, einen besonderen, mit verdächtigen katholischen Utensilien.
    Entstehung einer Nation und eines Weltreichs
    Das Buch MacGregors enthält nicht nur wunderschöne Bilder und eine Fülle von Informationen – in fast jeden Satz eine neue – sondern es zeigt, wie in "Shakespeares ruheloser Welt" eine Nation und ein Weltreich entstanden, das nach Elisabeths I. Tod 1603 sogar Jakob I., der als Sohn der "Bloody Mary", jener von ihrer Feindin hingerichteten Maria Stuart 1608 den Thron bestieg, diese dynastische Volte ohne größere Schäden überstand.
    Neil MacGregor ist sichtlich stolz auf diese Epoche Englands, aber seine kunstvoll ausgesuchten Objekte und seine nüchternen und klugen Kommentare machen auch auf die Kosten aufmerksam, die nicht nur die großen Pestseuchen der Zeit und die Ruhelosigkeit der Zeit verursachten. Und eben auch, wie der größte Dichter des Empire mit all dem umging.
    "Zerbrich der Bösen Waffe, gnäd'ger Gott,
    Die diese Tage möchten wiederbringen
    Dass England weinen müsst' in Strömen Bluts!
    Der lebe nicht und schmeck' des Landes Frucht,
    Der heim des schönen Landes Frieden sucht!
    Getilgt ist Zwist, gestreut des Friedens Samen:
    Dass er hier lange blühe, Gott, sprich Amen!
    Das war, so der Autor des ungemein schönen und erklärenden Bandes, die Hoffnung aller Engländer, so wie es Richmond, der zu König Heinrich VII wurde, am Ende der Rosenkriege hoffte. Dass diese Hoffnung weiter reiche, bis in unsere Tage, das walte Shakespeare.
    Neil MacGregor: Shakespeares ruhelose Welt.
    C.H. Beck Verlag, München 2014, 347 Seiten, gebunden, 29,95 Euro