Dienstag, 16. April 2024

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Shakespeare-Festival in Neuss
Politthriller, Variété und Hamlets Seelenqualen

Seit 25 Jahren steht am Rande der Neusser Innenstadt unter hohen Bäumen ein kleiner Nachbau von Shakespeares legendärem Globe-Theater. Dort hat sich aus bescheidenen Anfängen ein Shakespeare-Festival entwickelt, das inzwischen für vier Wochen im Sommer Theaterleute aus aller Welt anzieht.

19.06.2016
    Die Hexenszene aus Shakespeares Macbeth zur Begleitung der singenden Säge. Und gleich danach eine große Dame des deutschen Theaters mit einem Sonett Corinna Kirchhoff war zu Gast, das Signum Saxophon-Quartett und das Asasello Quartett unterlegten die Shakespeare-Verse mit Musik. Und dann kam noch ein Zauberer, ein Jongleur oder ein Comedian, der den Saal aufmischte.
    "Shakespeare goes Variété" hieß der Abend, mit dem das Neusser Festival in diesem Sommer erstmals eine eigene Produktion realisiert hat. Man kann sich keinen anderen Autor vorstellen, der so einen Genremix vertragen würde. Bei Shakespeare klappt das: Man konnte staunen, lachen und tatsächlich noch ein paar dunkle Untertöne spüren – schließlich war es eine Revue zum Todestag. Und dieser ungeniert zupackende Griff nach der Weltliteratur zeichnete auch in diesem Jahr wieder das ganze Festival aus.
    Buntheit ist Programm in Neuss, wo sich inzwischen rund um das Globe eine Art Kultur-Biergarten mit Blumen, Bänken und einem Imbissbüdchen etabliert hat, in dem die Vorstellung oft schon draußen beginnt, wenn geschminkte Schauspieler selbst ihre Programme verkaufen.
    Stammgäste sind die kleinen Ensembles, die in praller Volkstheatertradition meist Komödien spielen, mit vielen Rollenwechseln und sehr körperbetonter Aktion. Die Bremer Shakespeare Company beispielsweise oder die Tobacco Factory aus Bristol. Eine fulminante Aufführung haben auch in diesem Jahr wieder die Studierenden der Ernst-Busch-Hochschule eingebracht, mit einer hinreißend komödiantischen und dabei überraschend tiefsinnigen Version der "Zwei Herren aus Verona".
    Öfter als sonst hat das Festival diesmal ausgetestet, wie viel Ernstes und Nachdenkliches sich mit der Sommerfestatmosphäre und der unmittelbaren Nähe zwischen Akteuren und Publikum im Rundbau des Globe verträgt. Die Bilanz fällt überraschend gut aus. Hamlets Seelenqualen sind natürlich immer faszinierend. In Neuss brachte das Flute Theatre sie packend heraus. Das Ensemble, von einer Schauspielerin der Royal Shakespeare Company gegründet, hat große Anerkennung gefunden für seine Arbeit mit autistischen und traumatisierten Zuschauern und erzählt das Drama aus einer Bewusstseinsspaltung Hamlets heraus, mit sechs Darstellern, einem Sofa und einem Schlagzeug auf der Bühne.
    Auch in dem Politthriller "Julius Cäsar" gibt es nichts zu lachen. Nicht einmal einen komischen Diener, Pförtner oder Totengräber hat Shakespeare hier vorgesehen zur entlastenden Ablenkung von mörderischen Intrigen. Die Mountview Productions aus London, ein Theaterproduktionshaus mit angegliederter Schauspielschule, zeigte eine spannende, absolut heutige Inszenierung, die sich völlig über Gendergrenzen hinwegsetzte. Brutus und einige andere Verschwörer waren Frauen, die das gnadenlose Machtspiel ebenso kalt beherrschten wie ihre männlichen Komplizen. Das 400 Jahre alte Stück war ein geradezu tagesaktueller Kommentar über Populisten, die alle Register der Manipulation ziehen – vom US-Wahlkampf bis zur AfD.
    2016 war ein guter Shakespeare-Jahrgang in Neuss, wo man mit vielen freien Gruppen und Off-Theater-Festivals kooperiert, um interessante Aufführungen zu finden. Das hängt natürlich jede Saison von der Marktlage ab, aber eine Neuerung sollte man auf jeden Fall beibehalten: Ein Shakespeare für Kinder. Das Pilotprojekt in diesem Jahr war "Der Sturm oder die Insel der zauberhaften Wesen" vom Ensemble Seifenblasentheater: zwei Schauspieler, ein halbes Dutzend Marionetten und Handpuppen und ein Paravent – und schon segeln zwei oder drei Schulklassen auf ihren Sitzkissen zur magischen Insel.