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Sibylle Berg
Der Tag, als meine Frau einen Mann fand

"Liebe ist möglich, wenn man sie von Raserei und Leiden trennt." Sätze wie dieser, plakativ auf dem Cover ihres neuen Buchs, sind typische Sibylle-Berg-Formulierungen - provokant und einprägsam. Ihr neuer Roman "Der Tag, als meine Frau einen Mann fand" bietet viele solcher Sätze. Es ist ein Buch, in dem sich allem um Liebe und Sex dreht, vor allem aber um die Frage, ob sich beides einigermaßen dauerhaft miteinander verbinden lässt.

Von Holger Heimann | 25.05.2015
    Die deutsch-schweizerische Schriftstellerin Sibylle Berg
    Die deutsch-schweizerische Schriftstellerin Sibylle Berg (picture alliance / dpa / Britta Pedersen)
    Der kühle Blick auf das Leben ist ein Markenzeichen der Schriftstellerin Sibylle Berg. Sie hat eine Vorliebe dafür, genüsslich urbane Mittelstandsbiografien zu sezieren. Aus der Diskrepanz zwischen hochfliegenden Wünschen und einer allzu oft ganz anderen Lebenswirklichkeit schlägt sie immer wieder literarisches Kapital. Ein lohnenderes Feld als die Liebe gibt es dafür nicht. Denn nirgends sind unsere Träume grandioser. Kaum irgendwo nutzt sich der romantische Überschwang indes so ab wie in einer langjährigen Beziehung. Das ist eine Grundüberzeugung von Sibylle Berg.
    "Es wird Ausnahmen geben. Ich habe sie nicht getroffen. Ich glaube, dass Sex in der verfilmten Form, die wir im Kopf haben, mit Leidenschaft und aufgerissenen Hemden eher nur am Anfang einer Beziehung stattfindet und von Hormonen begleitet ist. Dass Liebe sich ändert, das wissen wir auch alle, das habe ich nicht erfunden. Es hat nicht mehr diesen todesnahen Moment von Auflösung und völligem Wahnsinn wie in einer jungen Geschichte."
    Ein Zugewinn an Lebensklugheit
    Für Rasmus und Chloe, die beiden Hauptfiguren in Bergs neuem Roman, hat es solche gemeinsame Ekstase nie gegeben, auch nicht zu Beginn ihrer mittlerweile zwanzigjährigen Beziehung. Die beiden Mittvierziger haben sich damit längst abgefunden, sie mögen und respektieren einander. Rasmus' Triebleben ist von Natur aus unterentwickelt, sexuelle Gelüste überkommen ihn nach eigener Auskunft allenfalls, wenn er morgens hart ist, weil die Blase auf seine Prostata drückt. Chloe dagegen hat sich angewöhnt, jeden Tag in der Badewanne oder unter der Dusche zu masturbieren. Die Grundbefindlichkeiten der beiden Ehepartner werden in greller Offenheit ausgebreitet. Die Erzählstimme gehört in kurzen Kapiteln wechselweise Mann und Frau. Ob das Paar je ernsthaft unter einem Zuwenig gelitten hat, bleibt dabei offen. Fest steht: Beide haben sich einträchtig arrangiert. Für die Autorin spricht daraus ein entscheidender Zugewinn an Lebensklugheit.
    "Was ich für mich rausfand, war der Satz, du kannst nicht alles haben. Wir, die wir über 35 sind, hatten ja so komische Ideen, dass uns alles zustehen könnte, alles scheint erreichbar. Das ist aber nicht so. Es gibt Entweder-oder-Situationen, und man muss da nicht jammern, wenn einem nicht alles zur Verfügung steht. Ganz pastoral gesagt: Sei froh, wenn du eine Liebe hast, jemanden hast, der mit der gegen die Welt steht und überlege, ob du das gefährden möchtest. Das eine ist schon ein großes Glück. Warum willst du zwei große Glücke?"
    Chloe denkt anders. Denn ihre vermeintliche Zufriedenheit wird unterhöhlt von einer abgründigen Trauer darüber, dass Rasmus im Bett eine Niete ist. "Liebe ist möglich, wenn man sie von Raserei und Leiden trennt", sinniert Chloe zwar, aber die Sehnsucht nach ein bisschen Rausch wird dadurch nicht kleiner und der Sex mit sich selbst im feuchtwarmen Baderaum ist irgendwie doch nur schaler Ersatz.
    "Natürlich kann man sich sagen, ich kompensiere, ich gehe über das Bedürfnis nach Sex weg und schreibe zum Beispiel Bücher oder engagiere mich wahnsinnig in der Arbeit oder der Entwicklungshilfe. Aber das Bedürfnis ist vermutlich da, auch wenn es vielleicht gar nicht Sex meint, sondern nur Lebendigkeit meint. Das kann man schwer wegdiskutieren oder aushalten. Auf jeden Fall muss man sich der Frage stellen: Was macht man mit dem Bedürfnis?"
    Solche Kompensationsmöglichkeiten stehen Chloe nicht zur Verfügung. Eher zaghafte berufliche Ambitionen hat sie früh aufgegeben und stattdessen ihren Ehrgeiz ganz auf Rasmus' Vorankommen übertragen. Tatsächlich schien der einmal zu Großem berufen und wurde gefeiert als neuer Star am Theaterhimmel. Doch die Zeiten sind Vergangenheit, mittlerweile ist Rasmus froh, wenn er zuweilen an einem Provinztheater Regie führen darf. Umso feuriger stürzt er sich auf das Angebot, ein Theater im Dschungel zu etablieren. Aber der Versuch, mit einem Ensemble aus Eingeborenen klassische Stücke auf die Bühne zu bringen, misslingt grandios. Den Laiendarstellern ist die Kunst herzlich egal. Sie kommen nur zu den Proben, weil sie sich währenddessen umsonst besaufen können. Berg karikiert hier nebenher mit der ihr eigenen Lust an der Polemik reale Kunstprojekte, wie etwa Christoph Schlingensiefs "Operndorf":
    "Das war ein bisschen ein persönlicher Genugtuungsspaziergang, weil sehr viele vornehmlich männliche Künstler, die ich kenne, irgendwann das Gefühl von so einer Großmannssucht haben. Jetzt müssen wir unsere kulturellen Werte ins ferne, arme Ausland transportieren und die Menschen mit Kultur retten. Es hat sehr oft gar nichts mit den Menschen zu tun, die sie retten wollen, sondern häufig mit den Leuten selber, dass sie noch einmal eine Flagge in den Mond stoßen wollen."
    Trennungsfälle häufen sich
    Das Scheitern der letzten Hoffnung, doch noch auf die Erfolgsbahn zurückzufinden und erneut zum gefeierten Regisseur zu werden, zieht Rasmus in eine vom Alkohol nur unzureichend gedämpfte Depression. Chloe aber will nicht länger nur die Stütze eines womöglich verkannten Genies sein. In der mehr verstörenden als betörenden Ferne setzt sie schließlich die alte Verbundenheit aufs Spiel und stürzt sich in eine feurige Affäre mit dem jungen, liebeserfahrenen Benny, der als Masseur in den Tropen arbeitet. Eine klassische Dreieckskonstellation also - Sibylle Bergs erzählerisches Interesse daran kommt nicht von ungefähr.
    "Der Auslöser, um diese Geschichte zu schreiben, war eine gehäufte Anzahl von Trennungsfällen in meinem Bekanntenkreis. Ich möchte das gar nicht werten. Vielleicht ist manchmal auch ein Neuanfang gut. Ich habe das Buch geschrieben, um die Frage zu untersuchen. Es ist schon so, dass mir schien, als ob es eine Entscheidung zu treffen gilt nach einer gewissen Anzahl von gemeinsam verbrachten Jahren. Und zwar ist die Entscheidung: Möchte ich so weitermachen in einer guten, freundlichen, warmen Beziehung oder möchte ich noch mal wild sein, noch mal Leidenschaft haben, noch mal neu anfangen? Oder geht nicht beides vielleicht zusammen? Die Seitensprungstatistik ist ja relativ hoch. Das versuchen halt viele mit einer kleinen Affäre zu erledigen, und dann geht es halt doch schief oft, indem man sich verliebt oder die Gefühle zu stark sind. Es ist schwierig."
    Im Verborgenen geschieht im Roman wenig. Chloe ist die eheliche Zweisamkeit schlicht nicht mehr viel wert - vorübergehend zumindest. Die Hormone haben das Regiment übernommen. Die rauschhaft Verliebte rekapituliert das zwar klar und ganz unromantisch, aber ausgeliefert fühlt sie sich trotzdem:
    "Es hilft doch nichts, mir zu sagen, dass chemische Prozesse in meinem Körper stattfinden, wenn ich nicht einmal in der Lage bin, die euphorischen und verzweifelten Wellen, die mich im Minutentakt erreichen, besonnen zu überleben. Früher, vor über zwanzig Jahren, habe ich mich so gefühlt. Es ging nie gut aus. Diese vollkommene Verblödung geht nicht gut aus, es endet immer in einem Desaster, einer Enttäuschung, einer Trauer. Es endet damit, dass man die Fensterscheibe küsst, Namen flüstert und auf den Frühling wartet."
    Die Selbstermahnung fruchtet nicht. Schon kurz nach der verstörenden Heimreise lässt Chloe ihren Liebhaber eilig nachkommen. Während das ekstatische Paar sich alsbald auf dem Sofa im Wohnzimmer vergnügt, leidet Rasmus allein und still im Ehebett nebenan. Ausziehen mag er vorläufig nicht. Der Gedemütigte ist vielmehr fest entschlossen, die Situation auszusitzen.
    "Ich will das nicht. Ich will nicht neu anfangen, mit bald fünfzig in Bars sitzen und Prostituierte ansprechen, in Bordelle gehen und auf eine Erektion warten, die sich auch durch den Reiz des Fremden nicht einstellen wird."
    Es ist ein typisches Sibylle-Berg-Setting, das sich an Drastik kaum überbieten lässt. In dieser Poetik der Übertreibung gibt es eine Menge einprägsamer Formulierungen, aber keine Nuancierungen und Zwischentöne. Der vermeintlich geistig eher schlichte Benny feiert bald mit einer Gruppe von Osteuropäern, die er vom Supermarkt kennt, Saufgelage in der einst so aufgeräumten Mittelstandswohnung. Schließlich trifft auch noch die finnische Mutter von Rasmus ein, eine Feministin alten Schlags, um mit nutzlosen Ratschlägen aufzuwarten.
    In einem furiosen Finale geht es dann buchstäblich um Leben und Tod. Und das ist nur konsequent. Denn Berg erweist sich in ihrem neuen Roman einmal mehr als Artistin der Extreme. Abwägend war sie nie. Sex oder Liebe heißt das Gegensatzpaar in "Der Tag, als meine Frau einen Mann fand", ein verbindendes "Und" existiert nicht. Aus der Zuspitzung gewinnt der Roman seine Kraft, aber in seinem ausgestellten Dualismus liegt auch seine Beschränkung.
    Sibylle Berg: "Der Tag, als meine Frau einen Mann fand"
    Hanser Verlag, 256 Seiten, 19,90 Euro