Schlachthöfe und Mietskasernen

Die soziale Dimension der Coronakrise

07:40 Minuten
Arbeiter verarbeiten Fleisch in einem Schlachtbetrieb.
In den Schlachthöfen arbeiten Leiharbeiter häufig unter Bedingungen, die nicht den Hygienebestimmungen entsprechen. © Bildagentur-online
Bettina Gaus im Gespräch mit Alexander Moritz  · 20.06.2020
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Die Coronapandemie zeigt soziale Verwerfungen wie unter einem Brennglas, sagt die "taz"-Journalistin Bettina Gaus. Das zeige sich derzeit in Schlachtbetrieben, engen Mietskasernen, aber auch bei den ungleichen Bildungschancen in den Schulen.
Die lokalen Ausbrüche der Coronapandemie ereignen sich derzeit vor allem in Schlachthöfen, aber auch in Mietskasernen. Damit scheint sich die soziale Frage in neuer Schärfe zu stellen. "Es wirft ein Schlaglicht auf skandalöse Zustände, die zum Beispiel in den Schlachthöfen herrschen", sagt unser Studiogast, die "taz"-Journalistin Bettina Gaus. Eigentlich sei bekannt gewesen, dass es solche Werkverträge gebe, dass die Arbeiter auf engstem Raum zusammen lebten und wie schrecklich die Arbeitsbedingungen seien.

Zu lange weggesehen

"Das ist Frühkapitalismus", sagt Gaus. Die Gewerkschaften hätten diese Zustände in einem der reichsten Länder weltweit schon lange angeprangert. "Wir alle haben ein bisschen die Schultern gezuckt und gesagt: Ist nicht schön, wird sich schon jemand drum kümmern." Deshalb geschehe es uns Recht, dass es dieses Problem mit dem Massenausbruch des Virus jetzt gebe, findet die Journalistin. "Wir hätten dieses schon lange nicht mehr zulassen dürfen."
Die taz-Journalistin Bettina Gaus kritisiert soziale Misstände während der Coronapandemie.
Die taz-Journalistin Bettina Gaus © picture-alliance / Geisler-Fotopress / Christoph Hardt
Dass es vor allem Menschen in prekären Verhältnissen trifft, zeigte sich in diesen Wochen auch in Mietskasernen in Berlin-Neulkölln und Magdeburg. Es sei nicht erstaunlich, dass Leute in einem sehr engen Mietsblock ein höheres Gesundheitsriko hätten als jemand, der im Einfamilienhaus mit großem Garten wohne und nur seine unmittelbare Familie sehe.
Das gleiche gelte auch für Menschen, die zu Stoßzeiten im öffentlichen Nahverkehr unterwegs sein müssten. Auch sie seien einem höheren Risiko ausgesetzt als jemand, der mit seiner Limousine zur Arbeit fahre und dort in einem Einzelbüro sitze. "Das wird sich nicht völlig vermeiden lassen." Aber die Leiharbeiter-Bedingungen in der Fleischindustrie ließen sich vermeiden", so Gaus. "Bei den Mietskasernen bin ich nicht so sicher."

Begrenzte Effekte der Mehrwertsteuer-Senkung

Die Maßnahmen der Bundesregierung, um Bürger in der Coronakrise zu entlasten, beurteilt die Journalistin skeptisch. "Man müsste blind und taub sein, um nicht zu erkennen, dass die Pandemie auch eine soziale Dimension hat." Es sei eine kühne Interpretation, zu glauben, dass die niedrigere Mehrwertsteuer ausgerechnet armen Menschen helfe. Beim Autokauf seien es vermutlich eher die wohlhabenderen Schichten. "Ich weiß nicht, wie wahnsinnig es einen nach vorne bringt, wenn der Schokoriegel ein paar Cent billiger ist, aber es gibt Großanschaffungen - da lohnt es sich dann schon."

Ungleichheit in den Schulen

Gaus erinnert an die ungleichen Bildungschancen in den Schulen. Es gebe Kinder, in deren Elternhäuser selbstverständlich Computer vorhanden seien und denen problemlos bei den Hausaufgaben geholfen werden könne. Sie seien in einer ganz anderen Lage als Kinder, bei denen es das nicht gebe und wo die Eltern möglicherweise gar nicht Deutsch sprächen. "Natürlich hat das alles eine soziale Dimension und wir sehen es halt jetzt wie unter einem Brennglas, dass wir keineswegs eine so schöne, gerechte, nivellierte Mittelschichtgesellschaft sind, wie wir uns gerne immer selber einbilden." Daran werde eine Absenkung der Mehrwertsteuer auch wenig ändern.
(gem)

Bettina Gaus ist politische Korrespondentin der "tageszeitung" (taz) in Berlin, von 1996 bis 1999 leitete sie das Parlamentsbüro der Zeitung. Sie absolvierte die Deutsche Journalistenschule in München und war danach 1983 bis 1989 Politikredakteurin beim deutschsprachigen Programm der Deutschen Welle. Von 1989 bis 1996 berichtete sie als Korrespondentin in Nairobi für ARD-Sender und Nachrichtenagenturen über Afrika.

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