Freitag, 19. April 2024

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Denkfabrik: Gott im Grundgesetz, Teil 2
Sind die Kirchen ein Staat im Staate?

AArtikel 140 des Grundgesetzes übernimmt die Regelungen der Weimarer Reichsverfassung von 1919 zum Staatskirchenverhältnis, demnach dürfen die Kirchen ihre Angelegenheiten selbst regeln. Das heiße jedoch nicht, dass staatliches Recht hier nicht gelte, sagt die Juristin Antje Ungern-Sternberg.

Antje von Ungern-Sternberg im Gespräch mit Christiane Florin | 24.04.2019
Philipp Scheidemann steht an einem Fenster und richtet sich an eine im Bild nicht sichtbare Masse.
Viele Artikel des Staatskirchenrechts im Grundgesetz stammen direkt aus der Weimarer Verfassung (picture-alliance / akg)
Christiane Florin: Das Grundgesetz hebt sich in vielen Punkten von der Weimarer Reichsverfassung ab. Man wollte die Fehler aus Weimar nicht wiederholen. Antje von Ungern-Sternberg lehrt deutsches und ausländisches öffentliches Recht, Staatskirchenrecht und Völkerrecht an der Universität Trier. Frau von Ungern-Sternberg: Warum gilt das für das Staatskirchenverhältnis nicht? Da werden die Artikel einfach übernommen.
Art. 140
Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.
Antje von Ungern-Sternberg: Ja, genau. Das ist deswegen auch eine ganz besonders spannende Vorschrift, der Artikel 140 Grundgesetz, wo das angeordnet wird. Die Abkehr von der Weimarer Verfassung, die bezieht sich vor allem auf Staatsorganisationsrecht. Man wollte vermeiden, dass ein starker Präsident dem Parlament Knüppel zwischen die Beine wirft, dass es da Kompetenzstreitigkeiten gibt, die Möglichkeit einer Präsidialregierung oder ein destruktives Misstrauensvotum.
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Antje von Ungern-Sternberg lehrt deutsches und ausländisches öffentliches Recht, Staatskirchenrecht und Völkerrecht . (Antje von Ungern-Sternberg)
All das ist beim Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht nicht der Fall. Man hat sich zwar nicht einig gesehen bei der Erarbeitung des Grundgesetzes, aber man hat den Kompromiss, den es damals 1919 in Weimar gab, einfach so übernommen, weil es auch weiterhin keine andere Möglichkeit gab, sich da zu einigen. Und das war ein sehr tragfähiger Kompromiss, der Kompromiss von 1919. Deswegen hat man den weiterhin übernommen, weil sich weder die Kräfte, die für eine stärkere Trennung von Staat und Kirche waren, noch die Kräfte, die vielleicht eine etwas stärkere Betonung der Privilegien der Kirchen wollten, durchsetzen konnten.
In Weimar wurde kontrovers diskutiert
Florin: Heißt das, es gab keine ernsthafte Diskussion zum Beispiel über ein laizistisches Modell - wie in Frankreich -, über diese strikte Trennung zwischen Kirche und Staat, Religion und Staat?
Ungern-Sternberg: Ich meine, man muss wahrscheinlich erst mal in die Diskussion 1919 schauen. Grundsätzlich ist zu sagen, dass in beiden Verfassungsprozessen ursprünglich mal vorgesehen war, diesen ganzen Komplex vollständig auszublenden, also das schwierige oder sehr umstrittene Verhältnis zwischen Staat und Kirche, Staat und Religion. Dann kam es aber in einer weiteren Runde der Verfassungsgebung tatsächlich zu dem Wunsch, jeweils der konservativen Seite, beziehungsweise der Kirchen, dass man das doch regeln möge. In Weimar waren das insbesondere die Parteien des Zentrums, aber auch Deutschnationale und Nationalliberale, die sich dafür starkmachen wollten, dass die Sonderstellungen der Kirchen in einem gewissen Umfang jedenfalls bewahrt werden.
Der Zweite Rat der Volksbeauftragten, die provisorische Reichsregierung nach dem Sturz des Deutschen Kaiserreiches posiert im Januar 1919 in Weimar, Deutschland. V.l.n.r.: Otto Landsberg, Reichsjustizminister, Philipp Scheidemann, Ministerpräsident, Gustav Noske, Reichswehrminister, Friedrich Ebert, Reichspräsident, Reichskanzler und Vorsitzender der SPD und Rudolf Wissel, Reichsarbeitsminister und Reichswirtschaftsminister, alle SPD. (KEYSTONE/IBA-ARCHIV/Str) |
Während in Berlin Unruhen herrschten, wurde 1919 in Weimar an der Verfassung gefeilt (IBA-ARCHIV)
Demgegenüber standen Sozialdemokraten und Liberale, die das kritischer sahen. Man hat darüber tatsächlich diskutiert in der Weimarer Nationalversammlung. Aber es zeigten sich beide Seiten kompromissbereit. Es lief letztlich darauf hinaus, dass man gewisse Dinge fortführt, so etwas wie den Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft für Kirchen, was ja beinhaltet das Recht zur Kirchensteuer, so was wie eine Eigentumsgarantie für die Kirchen, die Garantie des Fortbestands der Staatsleistungen. Und andererseits wurde aber eben dann auch festgeschrieben: Die Staatskirche ist abgeschafft, die Staatsleistungen sind abzulösen und alle Religionsgemeinschaften sind gleichberechtigt und bekommen eben auch Zugang zu diesem Körperschaftsstatus.
"Auch der Beamte muss sich loyal verhalten"
Florin: Es sind mehrere Artikel, die da übernommen wurden.
Ungern-Sternberg: Ja.
Florin: Genau genommen fünf. Auf die Staatsleistung sind wir in dieser Sendung schon häufig eingegangen. Ich möchte deshalb einen anderen Aspekt rausgreifen, nämlich den aus Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung, der zu Artikel 140 des Grundgesetzes dazugehört.
Art. 137
(3) Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde.
Florin: Stichwort Selbstverwaltung. Im Namen dieser Selbstverwaltung haben die Kirchen zum Beispiel ein eigenes Arbeitsrecht. Das allerdings steht ja unter Druck. Nicht nur unter dem Druck der Öffentlichkeit, der öffentlichen Kritik daran, sondern auch unter dem Druck der europäischen Rechtsprechung vor allem. Was bedeutet das?
Ungern-Sternberg: Ich möchte in einem ersten Schritt um Verständnis werben für den Sinn einer solchen kirchlichen Autonomie. Dass man also einen gewissen Bereich arbeitsrechtlich besonders ausgestaltet, das ist jetzt wahrlich keine Besonderheit nur der Kirchen oder der übrigen Religionsgemeinschaften, sondern das gibt es auch andernorts. Also, auch der Beamte muss sich loyal verhalten. Sie können einen Soldaten, der rechtsextremistische Musik mit in die Kaserne bringt, disziplinarisch belangen oder einen Staatsanwalt, der in seiner privaten Freizeit auf Facebook gegen Flüchtlinge sich äußert, auch die verstoßen gegen gewisse Loyalitätspflichten.
Was die Kirchen haben, geht darüber noch hinaus, beinhaltet zunächst einmal die Anerkennung durch das Recht, dass die Kirchen einen bestimmten Verkündigungsauftrag wahrnehmen wollen, also ihre religiösen Lehren verbreiten wollen, dass sie das nach außen und nach innen glaubwürdig tun wollen und deswegen auch von ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eben eine gewisse Loyalität mit Blick auf diesen Verkündigungsauftrag einnehmen. Das geht eben bis hin zur persönlichen Lebensführung.
Das würde jetzt keiner als besonders bemerkenswert empfinden, wenn es da nur um Positionen in einem bischöflichen Verwaltungsposten geht. Aber die Kirchen sind große Arbeitgeber – über die Caritas und die Diakonie. Das ist ein Bereich, wo viele Leute auch arbeiten. Zugleich hat sich in der Lebenswirklichkeit vieles auseinanderentwickelt, was einerseits die Vorstellungen der Kirchen betrifft und andererseits die persönliche Lebensführung in einer pluralistischen und freiheitlichen Gesellschaft.
"Kirchliche Selbstbestimmungsrechte kommen auf den Prüfstand"
Florin: Aber was anderswo Privatleben ist, in normalen Unternehmen, ist in kirchlichen Einrichtungen Teil dieser Loyalitätsverpflichtung, dass also bestimmte sittliche Vorschriften gemacht werden, was zum Beispiel die Ehe betrifft oder Lebenspartnerschaften.
Ungern-Sternberg: Ganz genau.
Florin: Wie lange wird sich das Ihrer Ansicht nach noch halten?
Ungern-Sternberg: Es kommt unter Druck. Es gibt konkret drei Streitpunkte, die man immer wiederkehren sieht: Zunächst geht es um die Frage, ob man überhaupt Kirchenmitglied sein muss, wenn man sich für eine bestimmte Position bewirbt, oder wenn man da eben schon angestellt ist und dann möglicherweise austritt. Dann geht es um die Unauflöslichkeit der Ehe nach dem vor allem katholischen Verständnis, also diese typischen Chefarztfälle - geschieden und dann eine neue Ehe eingegangen. Und schließlich Homosexualität.
Das deutsche Recht hat das grundsätzlich auch verfassungsrechtlich eben aufgrund dieses Artikel 137 Weimarer Reichsverfassung geschützt. Aber es kam zunächst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, der da schon die Anforderungen, das zu begründen, verschärft hat, aber noch mit einem gewissen Respekt auch für die jeweiligen Eigenheiten der Religionen und Staatsbeziehungen in den einzelnen Mitgliedstaaten.
Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft, Verwaltungsgebäude in Luxemburg
Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg setzt das Antidiskriminierungsrecht strenger um als die Straßburger Richter (dpa / Horst Galuschka )
Jetzt in jüngerer Zeit ist aber auch noch der Europäische Gerichtshof in Luxemburg, also das oberste Gericht der Europäischen Union in diesem Bereich tätig gewesen. Der sieht das sehr viel strenger und entscheidet jetzt auf der Grundlage des europäischen Antidiskriminierungsrechts sehr viel "kirchenfeindlicher", wenn man so will, oder weniger verständnisvoll für die Rechte der Kirchen. Das hat tatsächlich zur Folge, dass jetzt zum Beispiel dieser klassische Chefarztfall zugunsten des Chefarztes ausgeht. Es ist damit zu rechnen, dass in weiteren Bereichen, auch aufgrund des europäischen Antidiskriminierungsrechts, diese kirchlichen Selbstbestimmungsrechte auf den Prüfstand kommen.
Kirchliche Akten sind für Staatsanwälte verfügbar
Florin: Ein anderer Bereich, der das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen betrifft und der im Moment umstritten ist, ist diese Frage nach der Hoheit über die Personalakten. Also, warum kann nicht der Staat, wenn er einen konkreten Verdacht hat, dass da Straftaten begangen worden sind in den Kirchen, warum kann nicht der Staat dann auf diese Personalakten zugreifen? Jetzt ganz konkret, wenn wir über die Fälle von sexualisierter Gewalt sprechen.
Ungern-Sternberg: Ja, also ich glaube, dass er das kann. Ich glaube, es wäre ein Missverständnis, anzunehmen, dass hier kirchliche Autonomierechte gelten. Denn die kirchliche Autonomie steht unter einem allgemeinen Gesetzesvorbehalt, sodass grundsätzlich man weder behaupten könnte, dass innerkirchliche Vorgänge nicht strafrechtlich zu ahnden wären, noch, dass eben die Konsequenz solcher strafrechtlichen Vorfälle, nämlich, dass man strafprozessual ermittelt, dass das nicht möglich wäre.
Florin: Warum gibt es in Deutschland nicht, wie in Australien oder wie in Irland, eine unabhängige Kommission, die sagen kann, so, diese Akten nehmen wir uns jetzt mal vor und ganz egal, ob die Kirchen die nun freiwillig rausrücken oder nicht, wir haben einen Anspruch darauf, die zu sehen und erst dann kann man wirklich substanzielle Zahlen zu diesem Thema sexualisierte Gewalt liefern?
Ungern-Sternberg: Noch mal: Es wäre möglich. Die Staatsanwaltschaft hat bei einem hinreichenden konkreten Verdacht, dass Straftaten begangen wurden und unter der Voraussetzung, dass sie glaubt, in bestimmten Archiven oder sonstigen Aktenbeständen etwas zu finden, grundsätzlich das Recht, Akten zu sichten, Akten zu beschlagnahmen. Es sei denn, es gilt punktuell eine etwaige Ausnahme wegen dieses seelsorgerischen Beratungsgeheimnisses. Das ist jetzt nicht nur das Beichtgeheimnis, sondern das sind auch weitere Gespräche, die da drunter fallen. Aber das wäre etwa der Fall, wenn ein Täter sich einem Priester offenbart. Das ist dann von der Vertraulichkeit geschützt. Aber was meines Erachtens keineswegs geschützt ist, ist, wenn jemand den Kirchen zur Anzeige, zur Kenntnisnahme bringt, dass da solche Missbrauchsfälle vorgefallen sind. Wenn das aktenkundig wurde und weitergeleitet wurde, ist das meines Erachtens nicht vor dem Zugriff der Ermittlungsbehörden geschützt. Also, die Möglichkeit bestünde.
In einem leeren Beichstuhl brennen in der Laurentiuskapelle im Dom in Mainz die Lichter.
Das Beichtgeheimnis ist eines der wenigen Tabus für Strafverfolgungsbehörden (picture alliance / dpa / Fredrik von Erichsen)
Florin: Aber warum gibt es das dann nicht?
Ungern-Sternberg: Da kann ich nur spekulieren. Ich glaube, dass es jahrelang ein gewisses Grundvertrauen gab in diese Einrichtungen, dass kirchliche Institutionen gar nicht in den Verdacht kamen, dass da so was geschehen konnte, und dass jetzt natürlich - weil seit 2010 sich insoweit etwas geändert hat, - natürlich jetzt schon die Staatsanwaltschaften immer einbezogen werden. Aber in der Tat, also die rechtlichen Möglichkeiten bestehen.
"Die Sonntagsruhe ist eine sinnvolle und tragfähige Bestimmung"
Florin: Welcher Artikel aus der Weimarer Reichsverfassung steht Ihrer Ansicht nach am meisten unter Druck? Welcher wird nicht mehr noch 100 Jahre durchhalten beziehungsweise noch 70 Jahre, wenn wir das Grundgesetz nehmen?
Ungern-Sternberg: Ja, also, das ist eine interessante Frage. Ich glaube, dass natürlich jetzt aus juristischer Sicht am unbefriedigtsten die mangelnde Einlösung des Artikel 138 Weimarer Reichsverfassung ist, nämlich das Gebot, die Staatsleistungen abzulösen.
Art. 138
(1) Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf.
Also, das ist, glaube ich, ein großes politisches Problem, dass sie nicht eingelöst werden und deswegen sozusagen so ein bisschen eine offene Wunde des Verfassungsrechts darstellen. Eine Bestimmung, über die wir noch gar nicht gesprochen haben, die aber durchaus, finde ich jetzt mal, anders gewendet ihren Sinn behält und die auch eine weitere Besonderheit des deutschen Verfassungsrechts ist, ist ja der verfassungsrechtliche Sonn- und Feiertagsschutz.
Art. 139
Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.
Florin: "Zur seelischen Erhebung" heißt es da.
Ungern-Sternberg: Ja. Der steht auch sehr deutlich unter Beschuss, weil die Leute doch sonntags gerne einkaufen gehen oder am Karfreitag tanzen wollen. Und dennoch glaube ich, dass das eine sehr sinnvolle und tragfähige Bestimmung ist, die sozusagen der Gesellschaft als Ganzes auch einen gewissen Schutz bietet. Deswegen würde ich mich dafür aussprechen, dass man die weiterhin ernst nimmt.
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