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Sicht eines Kulurnomaden

Der Schriftsteller Konrad H. Jarausch wurde in Deutschland geboren und lebt heute in den USA. In seinem soeben erschienenen Buch "Die Umkehr" gelingt dem Autor eine Beschreibung der gesamtdeutschen Geschichte.

Von Eike Gebhardt | 16.03.2005
    Noch ein Besinnungsbuch im Jahre 15 nach dem Mauerfall? Oder die endlich jene normale Selbstreflexion einer Gesellschaft - nach Michael Naumann ein Code-Wort für Kultur schlechthin? Schon 1918 hätten die Deutschen die historische Zäsur zur Abkehr vom unglückseligen Sonderweg nutzen können - damals verschmähten sie die Chance. Das sollte sich rächen. Beim zweiten Mal jedoch hatten sie offenbar gelernt, ergriffen die Gelegenheit, und machten es deutsch-gründlich. Ohne Vergleich war der radikale Mentalitätswandel der verspäteten Nation nach dem zweiten Weltkrieg - doch warum diesmal und nicht damals schon?

    In der Tat, eine spannende Frage - die Antwort hätte womöglich Folgen für die Umerziehung anderer besiegter und/oder befreiter Völker, denen wir jetzt noch übergangslos politische Muster aufdrängen, für die sie kulturell nicht vorbereitet sind.

    "Welche Bedingungen förderten im Gegensatz zur Lernunwilligkeit nach dem ersten Weltkrieg eine "Bewusstseinsänderung" der deutschen Bevölkerung nach der zweiten Niederlage? Wie verliefen die Vorgänge der individuellen Besinnung und des kollektiven Lernens .... Welche Folgen hatte der Zivilisationsbruch für ausgewählte Schlüsselbereiche wie die Haltung zum Militär, das Verständnis von Nation oder die Ordnung der Wirtschaft? Die trotz aller Widerstände letztlich doch stattgefundene "geistige Wandlung" wirft schwierige Fragen auf: War es die überlegene Macht der Sieger, die eine opportunistische Anbiederung an ihre Rhetorik wie Verhaltensweisen nahe legte?"

    Jarausch, in Deutschland gebürtig, und heute in den USA nutzt geschickt die Doppelperspektive des Kulturnomaden, um die Entwicklung gleichsam von innen und von außen zugleich auszuleuchten - und

    "...um die Spannung zwischen sich wandelnden Strukturbedingungen und ihrer Bewusstwerdung auszuloten, ist eine methodische Mischung von individueller Erfahrungsgeschichte und Analyse des öffentlichen Diskurses notwendig,"

    Von der kollektiven Biographie verspricht er sich die Mentalitätsgeschichte eines ganzen Volkes. Die psychohistorische Methode ist hier wohl in der Tat ein viel versprechender Ansatz. Das große Vorbild ist Sebastian Haffner, und unverkennbar kommt Jarausch dem Ideal auch ziemlich nahe - bis auf den Stil: Da fehlt doch Haffners spielerischer, tänzerischer Gestus, die Ironie, ja die Melancholie, in der sich Zeitgeist und Idiome brechen. Haffner war eben teilnehmender Beobachter, vertrat eine Stimmung, Meinung, Position - während Jarausch mit Sachverstand und ungeheurer Detailkenntnis die Lage nüchtern Revue passieren lässt. Subjektiv, das heißt für ihn: Die Subjekte sprechen lassen, die Betroffenen. Und in der Tat: Eine schier unvorstellbares Spektrum Betroffener aus allen Gesellschaftsschichten marschiert auf - man fragt sich, woher der US-Akademiker zum Beispiel all die Namen nur lokal bekannter DDR-Sänger oder Untergrund-Heroen kennt, ihre Verbindungen, Funktionen, Schicksale und Repräsentanz?

    Ganz nebenbei füllt Jarausch ein Manko auf, das nicht nur er beklagt: Die isolierte Geschichtsschreibung jeweils in oder über Ost und West. Dass die beiden Staaten sich komplementär definierten, ist heute ein Gemeinplatz. Dass auch die Historiker oft diesem Wahrnehmungsfilter zum Opfer fielen, wurde selten thematisiert:

    " Die von konservativer Seite geförderte Renaissance der Totalitarismustheorie hat die Repressionsmechanismen des SED-Staats und die Versuche des Widerstands aufgehellt, trägt aber wenig zum Verständnis der Entwicklungsdynamik und des Zusammenbruchs bei. Die aus postkommunistischer Perspektive entwickelte Denkfigur eines "fehlgeschlagenen Experiments" verdeutlicht dagegen die Aspirationen der Akteure beim Aufbau des Sozialismus ... "

    Überdies habe das "Musterschüler-Syndrom", jener, wie Jarausch sagt, oft "rückgratlose Opportunismus" die Deutschen zu Erfüllungsgehilfen der Teilung des eigenen Landes gemacht - ein schwerer Vorwurf an die Adresse der selbstgerechten Kalten Krieger von einst. War es also Überanpassung, wieder nur die alte deutsche Obrigkeitshörigkeit, nur Schein-Demokratie? Doch selbst wenn es so gewesen sein sollte, dass sich die verunsicherten und demoralisierten Deutschen gut und lernwillig zeigen wollten, ohne Glauben an demokratische Ideen, womöglich gar ohne sie überhaupt recht zu verstehen, wenn sie also nur Mimikry betrieben: Gewirkt hat es dennoch, suggeriert Jarausch. Ohne Kant zu zitieren, nutzt er immer wieder dessen These von der self-fulfilling prophecy: Wenn Menschen sich so verhalten, als wäre ihr Verhalten richtig, gewinnt das richtige Verhalten allmählich eine Eigendynamik - bis es schließlich ganz natürlich, ja mehr noch: von der zweiten zur ersten Natur wird.

    Der widerspenstigen Zähmung? Der Weg zur Zivilgesellschaft, die Jarausch, mit Kant und Jürgen Kocka, als Fähigkeit zur Selbstorganisation definiert, war im Osten wie im Westen womöglich gleich weit - in dieser Parallelführung liegt eine von Jarauschs großen Stärken. Zwar wurden soziale Bewegungen in der DDR weithin gleichgeschaltet, aber auch in der BRD gab es Bürgerinitiativen, also eine selbst organisierte Öffentlichkeit, erst seit den 70er Jahren. Und in beiden Staaten gab es jeweils nur Teil-Öffentlichkeiten, keinen gesellschaftlichen Gesamtdiskurs. In der DDR waren das, neben der Dissidenten-Szene, vor allem Literatur und Theater - an deren Rolle im Westen die DDR-Intellektuellen verzweifelten: Im Westen könne man zwar alles sagen, aber nur, weil es eh unverbindlich und folgenlos sei; just diese Trennung von Staat und Gesellschaft aber schien den Westdeutschen natürlich - womöglich weil man das schlechte Beispiel der DDR vor Augen hatte, nur: Gerade deshalb blieb z.B. nur der Staat der Adressat der Kritiker, nicht die Gesellschaft selber.

    Scheuklappen und Wahrnehmungsfilter gab es eben auf beiden Seiten - mit den bekannten Folgen:

    "So erschwerte der prinzipielle Pazifismus der Semisouveränität die Übernahme von internationaler Verantwortung durch multilaterale Militäreinsätze; ähnlich verhinderte ein ethischer Postnationalismus die emotionale Bindung an den eigenen Staat in Form eines demokratischen Patriotismus."

    Die DDR-Dissidenten hingegen arbeiteten bewusst auf die Gestaltung ihrer Gesellschaft hin, und nutzten dabei oft geschickt die interne Dialektik der Parteiprogramme:

    "Die staatlichen Repressalien gegen die Friedensbewegung machten es notwendig, "den engen Zusammenhang von Frieden und Menschenrechten" zu thematisieren,"

    betont Jarausch z.B. - mit impliziter Rüge an jene deutschen Kollegen, vor allem im Westen, die immer wieder nur den Kalten Krieg in ihren Thesen nachspielten. Denn aus dieser Innen-Sicht ergibt sich eine verblüffende (im Wortsinn) Ein-Sicht:

    "Dieses Programm der Demokratisierung des Sozialismus lief auf eine Wiederherstellung einer funktionsfähigen Zivilgesellschaft hinaus. ... Statt auf das Ende der Repression zu warten, bemühten sich die oppositionellen Gruppen um die sofortige Herstellung von Gegen-Öffentlichkeiten."

    In der Tat war die DDR wohl eine "Nischengesellschaft" - auch wenn Günter Gaus, der sie so nannte, genau das Gegenteil meinte: Den Rückzug in private Nischen. Jarausch hat sehr genau hingeschaut, und vor allem in die vielen Nischen selber - und er hat dort die Keime der Zivilgesellschaft entdeckt, die öffentlich sich nicht formieren durfte - und die des westlich auf Politik fixierte Blick nicht sehen mochte; vielleicht auch weil nicht sein konnte was nicht sein durfte.

    Jarausch staffelt die Ebenen vom konkreten Detail bis zur Abstraktion einer historischen Tendenz, von den psychohistorischen Ausgangsbedingungen bis zum Zeitgeist, von der spiegelbildlichen Propaganda bis zur Populärkultur immer wieder derart geschickt, dass sie alle gleichzeitig im Blickfeld und nachvollziehbar bleiben. Er sieht die ideologischen Wahrnehmungsfilter ebenso wie die milieuspezifischen Unterschiede der Verarbeitung der Vergangenheit. So wird Jarauschs Buch vielleicht gar - der Titel als Programm - eine Umkehr in jener eingefahrenen Tradition getrennter Geschichtsschreibung. Und zur Selbstreflexion einer lange unfreiwillig pluralistischen Gesamtgesellschaft.

    Konrad H. Jarausch: "Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945 - 1995"
    Deutsche Verlags-Anstalt