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"Sie haben die Gnade der Vernunft und ich die des Unglücks"

Der Briefwechsel zwischen Stefan Zweig und Joseph Roth dokumentiert eines der großen und besonders ergreifenden Freundschaftsdramen zweier Schriftsteller. Für literarisch und historisch Interessierte ist dieser Band ein Gewinn, für Leser von Stephan Zweig ist er aufschlussreich, aber für Freunde von Joseph Roth ist er Gold wert.

Von Dr.Eberhard Falcke | 26.02.2012
    Sie waren so verschieden, wie zwei Menschen nur sein können. Wer sich davon einen Begriff machen möchte, muss nur an ihre letzten Werke denken, an Stefan Zweigs "Schachnovelle" und Joseph Roths "Legende vom heiligen Trinker". Beide spiegeln die Befindlichkeit ihrer Autoren unter dem Druck von Verfolgung, Exil und Verzweiflung wider.
    In Stefan Zweigs Novelle dient das Schachspiel als Metapher für eine Kultur und Kunst, die gegen den Ansturm der Barbarei keinen Schutz mehr bieten können.

    Damit gab Zweig in stark abstrahierter Form wieder, was er auch selbst empfunden haben dürfte. Lange hatte er im Angesicht der Nazi-Herrschaft auf die kulturellen Systeme, die kultivierten Netzwerke vertraut und gehofft. Er selbst hatte dabei eine Schlüsselrolle gespielt, als Organisator geistigen und moralischen Widerstands und vor allem als Nothelfer für verfemte Schriftsteller. Auf die Funktion des helfenden und oftmals mahnenden Wohltäters spitzte sich Zweigs Rolle schließlich auch in seiner Freundschaft mit Josef Roth zu. Es ist bestimmt kein Zufall, wenn sich genau diese Konstellation in Roths Erzählung "Legende vom heiligen Trinker" ohne großes Rätselraten wiedererkennen lässt. Ein ums andere Mal wird da der Trinker Andreas von einem vornehmen Wohltäter durch großzügige Geldspenden vor dem Untergang bewahrt, doch jedes Mal zerfließen seine eigenen guten Vorsätze aufs Neue im Alkohol, den er in sich hineinschüttet.

    Stefan Zweig setzte auf die humane Vernunft, Joseph Roth vertraute auf die impulsiven Eingebungen seiner oft bitteren Erfahrungen und seines lebhaften, stark entflammbaren Empfindens. Im Juli 1934, als beide schon gründlich miteinander vertraut waren, analysierte Joseph Roth ihrer beider entgegengesetzte Mentalitäten in einem Brief folgendermaßen:

    "Sie sind klug. Ich bin es nicht. Aber ich sehe, was Sie nicht sehen können, weil Ihre Klugheit eben Ihnen erspart, zu sehen. Sie haben die Gnade der Vernunft und ich die des Unglücks. Geben Sie mir keine Ratschläge mehr, helfen Sie mir, oder handeln Sie für mich. Ich gehe unter."

    Diese Sätze sind charakteristisch für den Briefwechsel zwischen Joseph Roth und Stefan Zweig: Obwohl er zweifellos oft genug als herzliches Gespräch zwischen ebenbürtigen Freunden stattfand, erscheint er über weite Strecken doch überwiegend als ein zugleich zelebriertes aber dennoch in den meisten Fällen verzweifelt ernstes Rollenspiel zwischen Bittsteller und Wohltäter. Wahre Anhänglichkeit und Zuneigung mischte sich mit Abhängigkeit auf der einen und großer Noblesse auf der anderen Seite. Nicht zu vergessen natürlich der gemeinsame jüdische Hintergrund, der sich jedoch ebenfalls in polarisierter Form darstellte: Zweig gehörte dem assimilierten bürgerlichen Judentum an, während Roth sich als der arme ostjüdische Zuwanderer sah, der nichts anderes hatte als seine Klugheit und sein Talent.

    Wie konnte diese enge Freundschaft trotz aller immensen Wesensunterschiede überhaupt zustande kommen? Das Kaffeehaus war jedenfalls nicht der Ort der Begegnung. Zwar war das Joseph Roths ständiger Aufenthalt, wo er arbeitete, lebte und trank, gleich in welcher Stadt, aber dieser Bohème-Stil entsprach nicht dem Villenbewohner Stefan Zweig, der sich auf anderen Parketts bewegte. Der verbindende Anknüpfungspunkt, war ein Lob, das Zweig über Roths Buch "Juden auf Wanderschaft" geäußert hatte. Der Gelobte bedankte sich dafür mit einem Brief, und so kam die Korrespondenz in Gang. Das war im September 1927, und es kann sehr gut sein, dass Roth zu dieser Zeit ein ganz besonderes Bedürfnis verspürte, sich in die Obhut eines geneigten Kollegen zu begeben, dessen Ruhm, Einfluss und Wohlstand so groß waren wie im Falle von Stefan Zweig. Denn Roth hatte in den Jahren zuvor manche Krisen durchlaufen. Er fühlte sich fremd in Deutschland, es fehlte ihm an Anerkennung, die Romanerfolge mit "Hiob" und dem "Radetzkymarsch" lagen noch in der Zukunft und das Vorgefühl schlimmer politischer Entwicklungen hatte ihn schon erfasst.

    "Lassen Sie mich Ihnen noch einmal sagen, dass ich mich sehne, zu Ihnen in eine Vis-à-vis-Beziehung zu kommen. Ich spüre bei Ihnen etwas Menschliches, obwohl - ich will offen sagen, was Ihnen nicht neu sein wird - alle Literaturhunde Sie ankläffen. Gerade deshalb! Es ist noch etwas in Ihnen: ein humanes Herz sicherlich und eine sehr schöne humanistische Verachtung."

    Vier Monate nach diesem werbenden Bekenntnis, fand das erste persönliche Treffen der beiden Schriftsteller in Salzburg statt. Am 13. Mai 1929 schrieb Zweig seiner damaligen Frau Friderike:

    "Heute ist Joseph Roth zu Tisch, sehr angenehm, klug und interessant ... "

    Worauf basierte das Verhältnis zwischen diesen bei so ungemein verschiedenen Männern? Zu den günstigen Voraussetzungen gehörte gewiss der Umstand, dass sie in ihren literarischen Ambitionen nicht miteinander konkurrierten. Die Einstellung zum eigenen Schaffen war vollkommen konträr. Roth schrieb mit heißem Herzen, er strebte nach Anerkennung, und materieller Erfolg war für sein Selbstbewusstsein ebenso wichtig wie für den Lebensunterhalt. Zweig dagegen hatte bereits seit Langem großen Erfolg, er war schon von Haus aus wohlhabend, seine eigene literarische Arbeit jedoch betrachtete er mit einiger Reserve.

    "Mein Verhältnis zu Literatur ist äußerst sonderbar. Als junger Mensch begann ich zu schreiben, aus Ehrgeiz, aus geistigem Spieltrieb und dachte, unabhängig wie ich war, niemals, daraus einen Beruf zu machen. Dann kam nach dem Krieg eine Weitwirkung, eine geradezu Weltwirkung meiner Bücher, die mich mehr verstörte als beglückte: mich drückt, quält, beunruhigt die aufgeladene Verpflichtung. So verstehen Sie, dass wirklich nur das Menschliche meine intacte Neugier lockt."

    Trotzdem dachte Zweig nicht daran, seinen auf dem Sockel der Berühmtheit empfundenen Überdruss am literarischen Erfolg auf jene zu projizieren, die mit allen Fasern danach strebten. Zu seiner Neugier aufs Menschliche gehörte auch, dass er sich mitfühlend und achtungsvoll auf andere einließ. Ganz abgesehen davon, dass er Roth als Persönlichkeit schätzte und als Schriftsteller bewunderte. Dabei nahm er lebhaft Anteil an dem, was ihm selbst bislang erspart geblieben war: am Ineinander von Lebens- und Schaffensqualen, von dem es bei Joseph Roth so unendlich viel mehr gab, als in seinem eigenen großbürgerlich geordneten Leben.
    Roth war in den 20er-Jahren ein außerordentlich erfolgreicher Journalist, der für bedeutende Blätter Reportagen und Feuilletonstücke aller Art schrieb. Bei der "Frankfurter Zeitung" bekam er, wie sein Biograf David Bronsen berichtet, das zu jener Zeit höchste Zeilenhonorar. Trotzdem fühlte sich der rastlos umherreisende, vorwiegend in Hotels lebende Roth einsam und ohne Rückhalt. Hinzu kam der Phantomschmerz über den Untergang der k.u.k.-Monarchie.
    Ein besonders schwerer Schlag traf ihn mit der psychischen Erkrankung seiner Frau, deren stetige Verschlechterung über Jahre hinweg sein Lebensgefühl zermürbte. Durch die Freundschaft zu Joseph Roth wurde auch Stefan Zweig mit all diesen Problemen konfrontiert.

    "Lieber Josef Roth, Ihr Brief, hat mich sehr erschüttert. Schon
    als ich Sie in Salzburg sah, hing jene Bedrückung über Ihnen ... Nur in einem kann und will ich Sie zu festigen suchen, nämlich dass Sie das Sterile Ihrer schöpferischen Unterbrechung zu schmerzlich empfinden. Alles Nichtweiterkönnen aus einem Übermaß des Gefühls ist ehrlich, ja Beweis einer inneren Redlichkeit: mir sind alle Künstler verdächtig, die gleichsam neben ihren innersten Erschütterungen logisch wach und kunstbewußt weiter produzieren können.
    Möge diese Spannung bald sich lösen: Sie hätten nach so viel schweren und verschatteten Jahren, weiß Gott, ein Anrecht auf Unbesorgtheit in jedem Sinne. Ich schäme mich ein wenig vor Ihnen, dass mein Leben so glatt läuft ..."


    Der Briefwechsel zwischen Stefan Zweig und Joseph Roth dokumentiert eines der großen und besonders ergreifenden Freundschaftsdramen zweier Schriftsteller. Ein Drama, das in der einzigen Fotografie, auf der beide zusammen zu sehen sind, treffend ins Bild gefasst wird. Beide sitzen nebeneinander in einem Restaurant, Zweig blickt von der Seite als freundlicher Schirmherr auf den Freund wie auf ein geliebtes Sorgenkind, das seinerseits mit trotzig-sarkastischer Miene die Kamera fixiert. Diese Fotografie ziert den Umschlag der neuen wissenschaftlich edierten Ausgabe der Korrespondenz, die ein unheilschwangeres Roth-Zitat als Titel trägt: "Jede Freundschaft mit mir ist verderblich". Herausgegeben wurde der Band von den Roth-Spezialisten Madeleine Rietra und Rainer-Joachim Siegel, der Literaturhistoriker Heinz Lunzer hat das Nachwort verfasst. Der ausgezeichnete Anmerkungsapparat erschließt mit der notwendigen Ausführlichkeit Hintergründe und Zusammenhänge, die zum genauen Verständnis der Briefe notwendig sind.

    Dass der Briefwechsel erhebliche Lücken aufweist, ist den sorgfältigen Herausgebern nicht anzulasten. Dieses Manko hat mit der großen Kluft zwischen den Lebensumständen der beiden Briefpartner zu tun. Bei Zweig herrschte eine durch Hilfskräfte und Beständigkeit gewährleistete Ordnung, beim unbehausten Roth dagegen gingen viele Briefe verloren. Daher wird die Korrespondenz, soweit sie heute überliefert ist, streckenweise stark von den Roth-Briefen dominiert. Um dennoch einen Eindruck von Zweigs Reaktionen und Einschätzungen zu ermöglichen, haben die Herausgeber in einem Anhang aus anderen Korrespondenzen aussagekräftige Passagen gesammelt, in denen sich Zweig über Roth äußert. Denn trotz der wechselseitigen Anhänglichkeit war diese Freundschaft harten Belastungsproben ausgesetzt, über die sich Zweig mit anderen austauschte.

    "Roth ist jetzt für mich ein Alptraum. Ich sehe nicht, wie man ihn menschlich, materiell und künstlerisch über Wasser halten kann, wenn er so weiter macht. Der Alkohol unterhöhlt ihn ganz, er sieht überall Feinde, Betrüger - ohne eine Entziehungscur weiß ich keine Rettung."

    ... so klagte Zweig Ende Juli 1934 im Brief an eine gemeinsame Bekannte. Seine Fürsorge für Roth wurde schlichtweg überstrapaziert. Dabei hatte es zunächst völlig moderat begonnen: Roth hatte um die Fürsprache des prominenten Freundes bei Verlagen oder anderen einflussreichen Persönlichkeiten gebeten, nicht ohne jedes Mal zu betonen, dass er mit seiner Bitte keinesfalls zur Last fallen wolle. Doch mit zunehmender Not schwand der Spielraum für solche vornehmen Gesten. Als der Erfolg mit den wunderbaren Romanen "Hiob" und "Radetzkymarsch" endlich in greifbare Nähe gerückt war, wurden Roths Wirkungsmöglichkeiten durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten dramatisch zurückgeworfen. Schon 1930 hatte er ahnungsvoll an Zweig geschrieben:

    "Wen ekelte die Politik nicht? Sie haben Recht, Europa begeht Selbstmord ... Dieser Untergang hat eine verteufelte Ähnlichkeit mit einer Psychose. Der Teufel regiert wirklich die Welt. Aber ich begreife die Extremisten beider Flügel immer noch nicht, immer noch und mitten in diesem Dreck, hasse ich den Extremismus."

    Die ganz eigenen, mal persönlichen, mal politischen Konflikte und Gegnerschaften unter den Exilanten verursachten zusätzliche Verbitterungen und Untergangsgefühle. Jede Kritik, jede Kontroverse, die zuvor selbstverständlich waren, wurden nun als schmerzhafte Selbstzerfleischung unter Verfolgten angesehen. Solidarität war keineswegs die Regel. Als Stefan Zweig 1933 ein Manifest plante, das die Situation der "deutschen Schriftsteller jüdischer Rasse", wie er formulierte, darstellen sollte, stieß er auf wenig Zuspruch und vermerkte enttäuscht, dass jeder nur an sich selber denke.

    Roth stimmte zwar in diesem Fall mit ein paar Einwendungen zu, bald aber war er es, der sich als einer der sonderbarsten Fälle politisch-ideologischer Vereinzelung hervortat. Dass er, der ehemals selbst als "Roter" angesehen wurde, eine zunehmende Aversion gegen Kommunisten und Anhänger des Sowjetregimes entwickelte, lässt sich im Hinblick auf den Stalinismus, den andere beschönigten, noch als Hellsichtigkeit bewerten.

    "Keineswegs hat der Kommunismus 'einen ganzen Weltteil verändert'. Einen Dreck hat er! Er hat den Faszismus und den Nationalsozialismus gezeugt und den Haß gegen die Freiheit des Geistes. Wer Rußland gutheißt, hat damit auch das Dritte Reich gutgeheißen."

    Roths Gegnerschaft gegen Linke jeder Couleur steigerte sich zu wüsten Attacken, in denen er Ossietzky das Konzentrationslager wünschte, Ludwig Marcuse menschlich verächtlich machte und Zweigs engen Freund Romain Rolland ebensowenig schonte wie den Idealismus des fürsorglichen Briefpartners. Als er die Rettung vor linken und rechten Extremisten im Katholizismus und in der Wiedererrichtung der Monarchie suchte, landete er endgültig in einer exzentrischen Position, die niemand mehr mit ihm teilen wollte. Damit setzte er, gelegentlich in hochmütigem Ton, auch Zweig zu.

    "Lieber Freund, Sie haben nicht recht, wenn Sie meinen defensiven Zorn einen aggresiven Haß nennen. Dass ich, Jossel Roth aus Radziwillow, gemeinsam mit der ganzen großen deutschen Vergangenheit Deutschland verteidige, ist mir vollkommen klar. Mein Judentum ist mir nie anders, als eine akzidentelle Eigenschaft erschienen. Ich habe nie darunter gelitten, ich war nie darauf stolz. Ich glaube an ein katholisches Reich deutscher und römischer Prägung. Ich glaube nicht an die »Menschheit« sondern an Gott und daran, dass die Menschheit, an der Er keine Gnade übt, ein Stück Scheiße ist. Aber ich hoffe auf Seine Gnade. - »Palästina«, »Menschheit« sind mir längst zuwider."

    Bei der Lektüre dieser Korrespondenz sind Vorsicht und Urteilsvermögen erforderlich. Denn die Briefe geben Einblick in Roths geistige Verfassung aber sie zeigen sein Denken, seinen Geist in einem schmerzlich verwundeten und alkoholisch entzündeten Zustand. Nicht zuletzt dokumentieren sie einen Prozess des Verfalls, der ab 1934 in ein galoppierendes Stadium überging. Was nicht heißt, dass Roth jemals schlichtweg dummes Zeug von sich gegeben hätte. Doch sein Denken und Formulieren spitzte sich auf allen Gebieten und in allen Aussagen zu. Gegnerschaft verwandelte sich in schrille, böse Töne, Traurigkeit wurde zu reaktionärer Melancholie, Bitten kamen herunter aufs Betteln, Verhandlungen mit Verlegern verzerrten sich zum panischen Haschen nach rettenden Strohhalmen. Trotzdem bleibt die bestrickende Wirkung, die Roth auf andere Menschen ausübte, sogar noch in der Schriftform spürbar.

    Roth verbrauchte Geld und Alkohol in großen, beängstigenden Mengen. Sein Lebensstil in Hotels und Cafés wurde für sein abnehmendes Einkommen entschieden zu teuer. Er war großzügig und zögerte nie, Geld an andere Bedürftige weiterzugeben. Selber bedürftig, war er daher ständig mit der Geldbeschaffung beschäftigt.

    "Zu jeder Stunde seiner Tage sprach er von Geld. Er brauchte Geld. Er erwartete einen Scheck. Ein Scheck kam verspätet. Sein Verleger wird ihn betrügen. Das Ende wird sein: wir werden alle nach Nordafrika flüchten müssen und ohne Geld umkommen."

    So beschrieb es Roths enger Freund Soma Morgenstern. Das ist die Kurzfassung. In diesen Briefen sind die Details nachzulesen. Immer häufiger beschwor Stefan Zweig den Freund, vom Alkohol zu lassen und seine Ausgaben zu reduzieren. Doch in besseren Momenten leugnete Roth seine Abhängigkeit, dann behauptete er störrisch, dass der Alkohol ihn keineswegs ruiniere, sondern konserviere. Wenn aber die Geldnot und die Sehnsucht nach ein paar Monaten Sicherheit übermächtig wurden, gab er Einblicke in sein Elend, die kaum übertrieben gewesen sein dürften.

    "Es ist so: mein Tag:
    ich arbeite im Café jeden Nachmittag von 3-8 Uhr. Hierauf gehe ich in's andere Cafe. Um 12 Uhr komme ich heim. Ich lege mich hin. Ich habe fürchterliche Träume. Ich erwache zwischen 6-7. Ich breche Galle. Ich lege mich hin. Ich schlafe nicht. Mein Herz zittert. Ich erhebe mich. Ich sitze, wie ein Gelähmter, im Lehnstuhl, zwei Stunden, dumm und gedankenlos. Ich fange langsam an, zu denken. Ich ziehe mich an. Ich gehe hinunter und vermeide den Hotel-Inhaber. Ist er weg, atme ich auf. Ich gehe ins Bistro. Ich trinke, um zu mir zu kommen. Ich fange langsam an, zu schreiben. So ist mein Leben."


    Am 27. Mai 1939 starb Joseph Roth in einem Pariser Krankenhaus, noch keine 45 Jahre alt. Seine Gesundheit war ruiniert, und der Alkohol, der ihn seiner Überzeugung nach konservierte, war ihm entzogen worden. Am selben Tag schrieb Stefan Zweig an Romain Rolland:

    "In diesem Augenblick erhalte ich ein Telegramm, dass mein alter und lieber Freund Joseph Roth in Paris gestorben ist, der wirklich der große Schriftsteller war, aber physisch zerstört durch das Hitlertum. Wir werden nicht alt, wir Exilierten! Ich habe ihn wie einen Bruder geliebt."

    Drei Jahre später nahm sich Stefan Zweig im brasilianischen Petrópolis das Leben. Manche der Gründe für seine hoffnungslose Entmutigung dürften sich bestimmt in diesem Briefwechsel finden.
    Für literarisch und historisch Interessierte ist dieser Band ein Gewinn, für Leser von Stephan Zweig ist er aufschlussreich, aber für Freunde von Joseph Roth ist er Gold wert.

    Joseph Roth und Stefan Zweig: "Jede Freundschaft mit mir ist verderblich". Briefwechsel 1927-1938. Herausgegeben von Madeleine Rietra und Rainer Joachim Siegel. Mit einem Nachwort von Heinz Lunzer. Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 625 Seiten, 39,90 Euro.