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"Sie haben dieses ausgewiesene Wahlergebnis mit Sicherheit nicht erreicht"

Die Kritik am Ergebnis der russischen Parlamentswahl reißt nicht ab. Es habe Manipulationen und Fälschungen gegeben, sagte der Europaabgeordnete Werner Schulz von Bündnis 90/Die Grünen und fordert Neuwahlen.

Werner Schulz im Gespräch mit Jasper Barenberg | 15.12.2011
    Jasper Barenberg: Hunderttausende in Russland werfen dem Kreml vor, die jüngsten Wahlen zur Duma gefälscht zu haben, zugunsten der Regierungspartei Einiges Russland. Sie fordern den Rücktritt von Ministerpräsident Wladimir Putin und sie fordern eine Wiederholung der Abstimmung. Das hat es seit 20 Jahren nicht gegeben. Neuwahlen in Russland verlangen auch die Parlamentarier im Europäischen Parlament im Rahmen einer Entschließung. Auf den Weg gebracht hat sie auch Werner Schulz von den Grünen. Am Telefon begrüße ich jetzt den Europaabgeordneten Werner Schulz von Bündnis 90/Die Grünen. Schönen guten Morgen.

    Werner Schulz: Schönen guten Morgen!

    Barenberg: Herr Schulz, Sie haben sich für die Entschließung im EU-Parlament eingesetzt, Sie haben sie mit auf die Beine gestellt. Die Forderung, Neuwahlen anzusetzen, hat ja eine große Mehrheit im Europaparlament gefunden. Hat Sie das Ergebnis überrascht?

    Schulz: Nein, es hat mich sehr gefreut. Es war ein zäher Kampf, ein zähes Ringen, zunächst wollten die anderen Fraktionen dem eigentlich nicht zustimmen. Aber es ist ja so, die Erkenntnisse, die wir von der OSZE-Wahlbeobachtungsmission haben, und das Wahlmonitoring der russischen NGO Golos deuten eindeutig darauf hin, dass es erhebliche Manipulationen und Fälschungen dieser Wahlen gegeben hat, und man kann mit Sicherheit sagen, dass die absolute Mehrheit der Kreml-Partei Vereinigtes Russland eben nicht erreicht worden ist. Nun streite ich mich nicht um Prozentzahlen, ob sie nun 45, 40 oder 38 Prozent erreicht haben. Das wird man auch nicht ganz genau belegen können. Aber Fakt ist, sie haben dieses ausgewiesene Wahlergebnis mit Sicherheit nicht erreicht, und insofern muss man diese Wahlen annullieren und Präsident Medwedew auffordern, Neuwahlen auszuschreiben.

    Barenberg: Warum haben denn Konservative, andere, Liberale sich gescheut, Ihrem Antrag zuzustimmen? Warum mussten Sie dafür so viel Überzeugungsarbeit leisten, wenn die Fakten so eindeutig sind?

    Schulz: Die Liberalen waren sofort mit auf unserer Seite. Bei den Konservativen hat es gedauert, da war Diskussionsbedarf noch und Überzeugungsarbeit nötig. Die Sozialistische Partei hat leider nicht zugestimmt und auch die Linkspartei nicht. Das ist ein unglaublicher Widerspruch, weil Gregor Gysi ja in Deutschland damit auftritt und auch Neuwahlen fordert. Übrigens auch Michail Gorbatschow, der sich ja bisher sehr zurückgehalten hat mit seiner Kritik an Putin, fordert die Annullierung dieser Wahlen und Neuwahlen. Also die Linkspartei ist da in einem ziemlichen Dilemma. Und die Sozialisten sind der Meinung, wir brauchen erst belastbare Beweise, wir wollen erst mal die Abschlussberichte von ODIHR, also der Wahlbeobachtung der OSZE sehen, und dann werden sie entscheiden.

    Barenberg: EU-Präsident Herman Van Rompuy hat angekündigt, die EU werde Russland bei dem Treffen heute in Brüssel an seine Verpflichtung erinnern, freie und faire Wahlen zu gewährleisten. Reicht aus Ihrer Sicht dieser mahnende Zeigefinger, den der EU-Präsident angekündigt hat?

    Schulz: An sich nicht. Lady Ashton hat uns versprochen in der Diskussion, dass das Thema Duma-Wahlen auf die Tagesordnung gesetzt wird, einer der wichtigsten Punkte sein wird. Präsident Medwedew hat ja von sich aus schon gesagt, er will diese Fälle untersuchen, wobei er dann zunächst sagte, er kann im Moment allerdings noch nichts entdecken, dass da irgendwelche Unredlichkeiten passiert seien. Also es ist natürlich absurd, wenn man diejenigen, die die Wahl gefälscht haben, nun auffordert, sie sollen das alles untersuchen, was da passiert worden ist. Man macht da den Bock zum Gärtner. Aber es reicht ja nicht aus, Russland daran zu erinnern. Das ist bereits im Sommer vor den Wahlen geschehen mit einer Resolution im Europaparlament. Russland ist Mitglied der OSZE, da sind die Standards festgelegt, die es in demokratischen Staaten bei Wahlen geben sollte. Russland ist Mitglied im Europarat. Diese Verpflichtungen stehen seit Anfang an. Nein, es geht um etwas anderes: Es geht darum, dass hier faire Wahlen und korrekte Wahlen und transparente Wahlen durchgeführt werden. Das war nicht der Fall und insofern sollten diese Wahlen wiederholt werden.

    Barenberg: Und Sie glauben, dass die EU mehr tun kann, als Mahnungen auszusprechen, um das zu erreichen?

    Schulz: Also gut, es gibt keine Zwangsmittel. Aber wir müssen natürlich auf die Konsequenzen hinweisen, die das Ganze hat. Wir können keine Duma anerkennen, die nicht durch demokratische Wahlen zustande gekommen ist. Also die Beziehungen trüben sich doch hier ein. Ich bin nicht dafür, dass ein korrekt gewähltes Europaparlament künftig mit einer manipulativ zustande gekommenen Duma Kontakt pflegt. Ich meine, wir werden den Dialog fortführen müssen, das ist schon klar. Ich bin auch nicht dafür, dass wir den abbrechen sollten. Aber es sind ja völlige Niveauunterschiede hier da, und ich glaube, dass das Konsequenzen haben müsste. Normalerweise müsste auch Putin erkennen, dass ansonsten, wenn er diesen Frust und diese Unzufriedenheit in der Bevölkerung, die sich ja immer mehr aufbaut – ich meine, jetzt waren Hunderttausend Menschen auf den Straßen von Moskau, das hat es seit 20 Jahren nicht gegeben, und es werden möglicherweise am 24. Dezember, wenn die nächste Demonstration stattfinden soll, noch mehr sein -, also er kriegt den Frust ja ansonsten bei seiner Präsidentschaftswahl zu spüren, wenn hier nicht eine Konfliktlösung erreicht wird.

    Barenberg: Ein Blogger in Russland schreibt ja schon, der Arabische Frühling sei in einen russischen Winter gemündet. Auf der anderen Seite sind ja selbst mehrere Zehntausend Demonstranten, oder nehmen wir gut Hunderttausend dann im ganzen Land. Das ist ja nicht viel, zumal in der Millionenstadt Moskau, oder?

    Schulz: Ja. Aber für eine russische Gesellschaft, die bisher sehr gleichgültig oder in Apathie sich befunden hat, ist das schon enorm. Die russische Zivilgesellschaft ist aufgewacht. Der Blogger hat ja nicht Unrecht. Diese Demokratiebewegung, die wir im Arabischen Frühling erlebt haben, die ist nach Russland gekommen, und das ist der amerikanische Einfluss, wenn Sie so wollen. Putin hat ja diese alte KGB-Räuberpistole aufpoliert, dass die USA, also Hillary Clinton, das ausgelöst hat. Natürlich! Twitter, Facebook, die Blogger, das Internet, diese digitale Welt, die hat Russland nicht mehr im Griff. Zehn Jahre lang hat man über die Beherrschung der Massenmedien, vor allen Dingen das Fernsehen, die russische Öffentlichkeit vorgeführt, oder konnte die Leute einschläfern. Das ist nicht mehr möglich. Die Wahlfälschung ist von vielen, vielen Leuten dokumentiert worden an diesem Sonntag. Die Leute haben fotografiert, sie haben mit Handys das Ganze gefilmt, sie haben es sofort ins Internet gebracht, alle konnten das sehen, und deswegen ist die Empörung so groß. Also es ist hier eine Gegenöffentlichkeit entstanden, die der Kreml nicht mehr im Griff hat.

    Barenberg: Die Unzufriedenen setzen also ein deutliches Zeichen, und das werden wir auch in den nächsten Tagen vermutlich noch wieder erleben. Hat diese Unzufriedenheit, hat diese Bewegung die Kraft, das ganze System ins Wanken zu bringen? Trauen Sie ihr das zu?

    Schulz: Das wird sich zeigen. Im Moment geht es darum – und diese Forderungen stehen ganz klar im Raum -, Annullierung der Wahl, Neuwahl, Zulassung der bisher nicht zugelassenen relevanten Oppositionsparteien, also Parnas, Volksfreiheit, von Michail Kasjanow - Sie hatten das ja in Ihrer Ankündigung mit erwähnt gehabt – und Absetzung des Leiters der zentralen Wahlkommission. Man wird sehen, Putin hat heute eine große Bürgersprechstunde im Fernsehen, wie er darauf reagiert. Aber am 4. März ist die Präsidentschaftswahl, und jetzt wird schon darüber geredet, ob Putin das überhaupt noch im ersten Wahlgang schaffen kann. Kommt es zu einer Stichwahl, wird die Sache sehr interessant, weil die russischen Bürger, die Zivilgesellschaft erkennen kann, wir können Putin los werden. Er ist im Moment die Ankündigung des ewigen Breschnews, also ein Mann, der die nächsten zwölf Jahre möglicherweise Russland beherrschen wird, und das in einer Phase von Stagnation. Es ist ja nicht so, dass die Gesellschaft sich entwickelt hat. Russland braucht zunächst keine Modernisierungspartnerschaft mit der EU, sondern sie brauchen eine Modernisierungspartnerschaft mit der eigenen Bevölkerung. Die Reformen, die Medwedew, der vier Jahre lang der Vizepräsident unter Putin war oder sein Regierungssprecher, diese Reformen, die Medwedew angekündigt hat, um die Umsetzung dieser Reformen geht es jetzt.

    Barenberg: Glauben Sie – und das zum Schluss, Herr Schulz -, dass es Alternativen zu Putin gibt? Gibt es glaubwürdige politische Führer und starke Politiker aus dem Lager der Opposition?

    Schulz: Das wird sich zeigen. Ich kann das im Moment noch nicht genau einschätzen, wer für diese Präsidentschaftswahlen antritt. Der Oligarch Prochorow hat sich ja bereits gemeldet, dass er antreten will. Man muss sehen. Man spekuliert noch darüber, ob das eine Blendgranate des Kreml ist, also eine Ablenkung, der vielleicht die unzufriedenen Stimmen einsammelt. Der Blogger Aleksej Navalny, der sehr beliebt ist in der Bevölkerung, könnte eventuell antreten. Man muss das sehen, wer sind die Gegenkandidaten. Und wie weit reagiert Putin? Ich meine, auch er hat noch Spielraum, auch er kann sich als ein beweglicher Demokrat möglicherweise noch zeigen, der von dieser gelenkten Demokratie ablässt und tatsächlich Schritte zur wirklichen Demokratie macht. Ich traue es ihm nicht zu, aber wir werden sehen, wie groß und wie stark die Kraft der Zivilgesellschaft sein wird.

    Barenberg: Der Europaparlamentarier Werner Schulz von Bündnis 90/Die Grünen über die Proteste gegen das strittige Ergebnis der Duma-Wahlen und mit einem Ausblick auf die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr. Danke, Herr Schulz, für das Gespräch.

    Schulz: Auf Wiederhören!

    Barenberg: Auf Wiederhören.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.