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Sie trennt und verbindet Kulturen

Der historische Roman beschreib die Zeit von 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Die besagte Brücke an der bosnisch-serbischen Grenze verbindet jüdische Handwerker und islamische Händler, serbische Bauern und österreichische Beamte.

Von Wolfgang Schneider | 01.08.2011
    Die Metapher vom "Brückenbau" zwischen den Kulturen wirkt oft abgenutzt und sonntagsredenhaft. Nirgends wird sie erzählerisch so beglaubigt wie bei Ivo Andric. 1882 in Travnik geboren, verbrachte er seine Grundschuljahre im bosnischen Visegrad mit dem Blick auf das Bauwerk, das ihn zu seinem berühmtesten Werk inspirierte.

    Auf der Brücke, um sie herum und in Verbindung mit ihr verläuft und entwickelt sich das Leben der Bewohner von Višegrad. In allen Erzählungen über persönliche, familiäre und gemeinsame Erlebnisse kann man immer wieder die Worte "auf der Brücke" hören. Auf der Drinabrücke tun die Kinder ihre ersten Schritte, spielen die Jungen ihre ersten Spiele. Sie angeln Fische oder jagen unter ihren Bögen nach Tauben. Von ihren jüngsten Jahren an haben sich ihre Augen an die harmonischen Linien dieses großen Bauwerks aus hellem, porösem, gleichmäßig und makellos behauenem Stein gewöhnt.

    Die 1571 fertiggestellte Brücke war mit ihren 180 Metern und elf Bögen jahrhundertelang der einzige Übergang am oberen und mittleren Lauf der Drina, ein wichtiges Bindeglied auf der Handelsstrecke zwischen Sarajewo und Konstantinopel, eine Schnittstelle der Kulturen. Hier begegneten und begegnen sich islamische und christliche Welt, sephardische Juden, orthodoxer und katholischer Glaube. Hier stießen Mächte aufeinander, die Imperien der Habsburger und Osmanen - und hier lebten zugleich die Ohnmächtigen.

    Der Roman beschreibt, wie der Großwesir Mehmedpascha die Brücke errichten lässt, in Erinnerung an seine Kindheit. Als zehnjähriger Christenjunge wurde er aus seiner bosnischen Heimat bei einer Knabenlese ins Osmanische Reich verschleppt, wo ihm eine fabelhafte Karriere beschieden war. Beim Brückenbau werden wiederum viele Christen zum Frondienst gezwungen, was zu Sabotageakten führt. Als man eines Nachts einen Bauern bei der Brückenbeschädigung aufgreift, lässt ihn der mürrische, boshaft strenge Aufseher Abidaga weithin sichtbar auf der Baustelle pfählen - eine der grausamsten Szenen der Weltliteratur, gehalten im Ton unaufgeregter Anschaulichkeit:

    An beiden Ufern herrschte eine solche Stille, dass man jeden Hammerschlag deutlich vernehmen konnte. Die am nächsten Stehenden konnten hören, wie der Mann mit der Stirn gegen das Brett schlug, und dazu ein anderes ungewöhnliches Geräusch; aber das war weder ein Schmerzensschrei noch ein Wehruf, noch ein Todesröcheln, noch irgendein menschlicher Laut, vielmehr gab der ganze auseinandergespannte und gefolterte Körper ein Knarren und Knirschen von sich wie ein Zaun, den man umtritt, oder wie Holz, das bricht. Nach jedem zweiten Schlag trat der Zigeuner zu dem ausgestreckten Körper, prüfte, ob der Pfahl in die gewünschte Richtung ging, und wenn er sich überzeugt hatte, dass kein lebenswichtiges Organ verletzt war, kehrte er um und setzte seine Arbeit fort.

    Plötzlich hörte das Klopfen auf. Merdžan sah, wie sich am rechten Schulterblatt die Muskeln spannten und die Haut hob. Schnell schritt er hinzu und schnitt die Stelle kreuzförmig ein. Blasses Blut floss heraus, zunächst spärlich, dann immer stärker. Noch zwei, drei Schläge, leicht und vorsichtig, und an der aufgeschnittenen Stelle begann die mit Eisen beschlagene Spitze des Pfahles herauszutreten. Der Mann steckte am Pfahl wie ein Lamm am Spieß, nur dass ihm die Spitze nicht aus dem Mund, sondern aus dem Rücken herauskam.


    Als realistischer Erzähler, geschult an Tolstoi und Thomas Mann, hatte Andric nicht das Verlangen, der Wirklichkeit eine erfundene, fantastische Welt entgegenzusetzen - und trotzdem nehmen sich seine balkanischen Geschichten zwischen Orient und Okzident heute oft fantastisch aus. Bisweilen will sich geradezu ein 1001-Nacht-Gefühl einschleichen. Wenn sich eben nicht immer wieder der Realist Andric mit verstörenden Details zu Wort melden würde.

    "Die Brücke über die Drina" wartet nicht mit Helden und Hauptfiguren im üblichen Sinn auf, mit einer durchgehenden Handlung und melodramatischen Spannungskurve. Stattdessen bietet das Buch ein großes menschliches und historisches Panorama. Andric stellt etwa hundert Figuren auf die Bühne seiner Brücke, alle plastisch und psychologisch eindringlich geschildert. Was dem modernen Roman zum Problem wurde, die Totalität einer Welt noch überzeugend im Rahmen eines Romans abzubilden, gelingt Andric mit einem ingeniösen Kunstgriff: Er führt vier mitteleuropäische Jahrhunderte durch das Nadelöhr seiner Drinabrücke. Alles war hier geschieht - und es geschieht sehr viel - ist bezogen auf dieses Bauwerk.

    Die Kapija, die balkonartig erweiterte Mitte der Brücke, ist der soziale Treffpunkt der Stadt. Hier wird Kaffee ausgeschenkt, hier werden städtische Neuigkeiten und weltgeschichtliche Ereignisse besprochen. Studenten debattieren über das Leben im Allgemeinen und die Zukunft Bosniens im Besonderen, Liebende ergötzen sich aneinander im Halbdunkeln. Die Kapija ist ein magischer Ort, wo die Menschen in den Wirrnissen ihres Lebens eine Atempause finden:

    Vorspringend und etwa fünfzehn Meter hoch über dem grünen, rauschenden Fluss, schwebt dieses steinerne Sofa im Raum über dem Wasser, auf drei Seiten von dunkelgrünen Bergen umgeben, über sich den Himmel ( ... ) und mit offenem Blickfeld den Fluss hinab ... Man saß dort wie auf einer Zauberschaukel ...

    Die Brücke ist ein Symbol der Beständigkeit: Mögen Reiche aufsteigen und verfallen - sie steht unverrückbar da. Mögen die reißenden Hochwasser der Drina die halbe Stadt zerstören, die Brücke taucht aus der Flut unversehrt wieder auf. Der erste Regen wäscht die Schlammkrusten herunter, und ihre weißen Bögen leuchten wie frisch poliert in der Sonne. Die Hochwasser lassen Muslime, Christen und Juden zusammenrücken. Die Erinnerung daran, wie man vergangenes Unheil mit vereinten Kräften bestanden hat, gehört zu den wichtigsten Stützpfeilern einer gemeinsamen Identität. Das ist die Psychologie der Katastrophe.

    Szenen des historischen Realismus wechseln mit fabulierfreudigen Episoden aus dem Alltagsleben, mit Liebesdramen oder märchenhaften Anekdoten. Zu Andrics Kunstmitteln gehört eine Psychologie, die jede Figur zu ihrem Recht kommen lässt. Niemand ist zu verworfen oder zu unmenschlich, als dass der Erzähler nicht seine Antriebe verständlich machen könnte. Der Roman gehört in die Reihe jener Großwerke, die sich - mal eher nostalgisch, mal eher analytisch - mit den letzten Jahrzehnten der Donaumonarchie beschäftigen, wie die Romane Joseph Roths, Robert Musils oder Sandor Marais. Melancholischen K.u.K.-Schmelz wird man bei Andric allerdings kaum finden. Hier dreht sich die Perspektive: Aus der Sicht der Kolonisierten wird die Besetzung Bosniens geschildert. 1878 endet die osmanische Gemütlichkeit; der Fortschritt macht sich geltend, Handwerker, Händler, Hoteliers bekommen zu tun, österreichische Ingenieure sorgen für Straßen, Wasserleitungen und Eisenbahnverbindungen - und selbst städtische Nichtsnutze können jetzt als Lampenanzünder ihr Auskommen als kleines Rädchen in der gut geölten Staatsmaschine finden.

    Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts setzen mit den Annexionskrisen und Balkankriegen ethnische Verfolgungen ein. Wenn die Umstände danach sind, werden aus geschätzten Mitbürgern schnell schlachtreife Sündenböcke. Es ist eine Urangst im bosnischen Zusammenleben, die regelmäßig die Seiten wechselt. Der panslawische Nationalismus erhitzt nun die Gemüter junger Serben, Studenten singen auf der Kapija ihre verbotenen Lieder. Nach den serbischen Siegen der Jahre 1912/13 weicht die türkische Grenze, die gerade noch fünfzehn Kilometer vor der Stadt gelegen hat, um 1000 Kilometer zurück. Traumatische Erfahrungen von Flucht und Vertreibung sind die Folge.

    In ihrer Kindheit hatte die türkische Macht von der Lika und vom Kordun an der österreichischen Grenze bis in den Wüsten des fernen und unwegsamen Arabistan gereicht. ( ... ) Nun mussten sie erleben, wie diese Macht gleich einer fantastischen Ebbe plötzlich zurückgegangen war und sich in unabsehbare Fernen verzogen hatte, während sie, betrogen und bedroht, wie Meerespflanzen auf dem Trockenen, sich selbst und ihrem schlimmen Schicksal überlassen, hier zurückgeblieben waren.

    Ivo Andric war in vielen Kulturen zuhause, er stand dem Islam mit Sympathie gegenüber, er verkörperte Jugoslawien als Idee der Versöhnung. Das war nicht immer so. Als Schüler war er Mitglied in der sozialrevolutionären Jugendorganisation "Mlada Bosna" - Junges Bosnien -, aus der auch der Mörder Franz Ferdinands kam, weshalb er während des Ersten Weltkriegs von den Österreichern in Haft genommen wurde.

    Zwei Jahrzehnte diente er dann dem jugoslawischen Königreich als Diplomat in den Hauptstädten Europas. 1939 wurde er zum jugoslawischen Gesandten an der Botschaft Berlin. Mit dem Überfall der Wehrmacht im April 1941 endete das Königreich Jugoslawien und mit ihm Andrics diplomatische Mission. Er kehrte ins besetzte Belgrad zurück und versenkte sich ganz in seine literarische Arbeit. Es waren Jahre, in denen Krieg und Bürgerkrieg in Jugoslawien Millionen Opfer forderten: kroatische Ustaschen, die Juden und serbische Tschetniks metzelten, serbische Nationalisten im Kampf mit Tito-Partisanen, die wiederum an allen anderen Rache nahmen. Andric aber hielt sich fern von den verfeindeten Widerstandsgruppen; der nahezu klassische Ton seiner Prosa überwölbt die historisch-politischen Schlammfluten wie die fest gemauerten Bögen der Drinabrücke.

    Der Roman läuft zu auf die Ereignisse des Sommers 1914 - und die Sprengung des Mittelteils der Brücke. Nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajewo werden die Serben vogelfrei. Lange verhohlene Hassgefühle brechen auf; bald werden auf dem Markt gegenüber der Brücke Galgen errichtet. Andric analysiert die Massenpsychologie der Verfolgung - und schildert in atmosphärischen Details eine Stadt im Ausnahmezustand:

    Die Menschen zerfielen in Verfolgte und Verfolger. Wie oft in der Geschichte waren Gewalt und Raub, ja sogar Mord stillschweigend erlaubt, unter der Bedingung, dass sie im Namen höherer Interessen, unter festgelegten Losungen und gegen eine begrenzte Zahl von Menschen verübt wurden.
    Der Markt war vollgestopft mit Wagen, Pferden, Soldaten aller Waffengattungen. Von Zeit zu Zeit führten Gendarmen eine Gruppe gefesselter Bauern oder Städter, Serben, vorüber. Die Luft war voller Staub. Alle sprachen lauter und bewegten sich schneller, als es das erforderte, was sie zu tun oder sagen hatten. Die Gesichter waren schweißbedeckt und glühend, man hörte Flüche in allen Sprachen. Die Augen glänzten von Alkohol, Übermüdung und jener qualvollen Unruhe, die immer in der Nähe der Gefahr und blutiger Ereignisse herrscht.


    Vierzig Kilometer entfernt von Višegrad liegt Srebrenica. Man wird den Roman, der jetzt zum fünfzigsten Jahrestag des Nobelpreises in revidierter, aufgefrischter Übersetzung erschienen ist, kaum lesen können, ohne an den Bürgerkrieg der neunziger Jahre zu denken, in denen der Fluss zum Massengrab wurde. Die Konflikte, die damals wieder aufbrachen, werden in ihren langen, verzweigten Wurzeln erkennbar. Als muslimische Extremisten 1992 das Andric-Denkmal an der Brücke über die Drina in die Luft sprengten, hatten sie immerhin begriffen, dass dieser pessimistische Humanist nicht für Nationalismus und Fanatismus in Anspruch zu nehmen ist.

    Ivo Andric: Die Brücke über die Drina. Roman. Übersetzung von Ernst E. Jonas, überarbeitet von Katharina Wolf-Grießhaber, Zsolnay Verlag 2011, 496 S., 25,90 Euro