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Sieg der Justiz oder Siegerjustiz?

Meine lieben Freundinnen und Freunde, ich freue mich, dass sie dabei sind, wir starten ja zum vierten Mal unsere Mauerwegtour.

Autorin: Sandra Schulz | 05.08.2004
    Potsdam Hauptbahnhof, rund 70 Leute haben sich am Ausgang Nord versammelt. Alle haben Fahrräder dabei. Sie wollen dort entlang radeln, wo einst die Berliner Mauer stand. An die Spitze setzt sich Grünen-Politiker Michael Cramer. Er hat die Mauerstreifzüge ins Leben gerufen. Erste Station ist die Glienicker Brücke. Wo Ost und West zu Zeiten des Kalten Krieges Spione austauschten, schnappen heute Potsdamer und Berliner frische Luft.

    Unter den Radfahrern ist auch Karin Gueffroy. 60 Jahre ist sie alt, eine kleine Frau mit roten Haaren. So rote Haare wie sie habe niemand, hat sie am Telefon gesagt. Ihr Sohn Chris wurde am 6. Februar 1989 an der Berliner Mauer erschossen. Er war der letzte, den der Schießbefehl an der deutsch-deutschen Grenze das Leben gekostet hat. Die Radtouren helfen Karin Gueffroy, die Trauer in Schach zu halten:

    Eigentlich ist das doch für mich ein Stück Freiheit: Ich kann jetzt da fahren, wo es diesen Mauerstreifen gab, was man ja zu Mauerzeiten nicht durfte, und ich finde das sehr schön. Bei mir muss das nicht ins Gedächtnis reingeholt werden, aber dass so viele mitfahren und Anteil nehmen ...

    Sie hat nachts die Schüsse gehört, die Chris umgebracht haben. Die DDR-Bürokratie ließ sie trotzdem tagelang über den Tod ihres Sohnes im Unklaren. Nach der Wende hat man vier ehemaligen Grenzsoldaten den Prozess gemacht. Zwei von ihnen sprach das Berliner Landgericht frei, die beiden anderen wurden wegen Totschlags zu Bewährungsstrafen verurteilt. Zu wenig, findet Karin Gueffroy.

    Mit dem Urteil habe ich schon rumgehadert, das ist wahr, weil es ja letztendlich nur Bewährungsstrafen gab.

    Wut und Enttäuschung teilt Karin Gueffroy mit vielen Opfern der innerdeutschen Grenze. Der Strafrahmen für Totschlag liegt bei fünf bis fünfzehn Jahren. Mehr als sechs Jahre Freiheitsstrafe hat aber keiner der Mauerschützen bekommen. Für die meisten gab es Bewährungsstrafen, also weniger als zwei Jahre.

    Für den pensionierten Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen liegt darin nichts besonderes. Er hat bei der Berliner Staatsanwaltschaft die Ermittlungen im Zusammenhang mit den Todesschüssen an der Grenze geleitet. Für die Mauerschützen habe man keine Ausnahme gemacht, sagt er.

    Bei den Mauerschützen war insbesondere zu bedenken, dass es sich um junge Menschen handelte, die in einem System groß geworden waren, das ihnen nur geringe Möglichkeiten bot, gedanklich von dem abzuweichen, was ihnen gesagt worden ist.

    Argumente, die auch bei Rechtswissenschaftlern Anerkennung finden. Der Strafrechtsprofessor Klaus Marxen hat die Prozesse um die Todesschüsse an der Grenze wissenschaftlich begleitet. Auch er hält die Bewährungsstrafen für angemessen. Für ihn waren sie ein wichtiges Signal:

    Ich finde, das sollte man nicht unterschätzen. Das ist auch, wenn man sich die Strafe anschaut, trotzdem ein wichtiges Ergebnis. Es handelt sich um Schuldsprüche. Juristisch hat ein Schuldspruch einfach Gewicht. Einmal in den Rechtsfolgen, die Personen sind vorbestraft. Und er hat Gewicht natürlich auch dadurch, dass damit Unrecht unumstößlich festgestellt ist.

    Auch in anderen Strafprozessen ist das ein häufiges Ergebnis: Dem Opfer ist die Strafe zu milde, der Täter fühlt sich zu Unrecht verurteilt, zu hart verurteilt. So auch bei den Mauerschützenprozessen. Wut und Enttäuschung teilt Karin Gueffroy denn nicht nur mit anderen Regimeopfern, sondern auch mit vielen von denen, die als Täter verurteilt wurden.

    Für die Rechtsanwältin Suzanne Kossack wird sich morgen ein langes Kapitel Prozessgeschichte schließen. Dann wird das Berliner Landgericht sein Urteil über die Ex-Politbüromitglieder Siegfried Lorenz und Hans-Joachim Böhme fällen, das letzte Politbürourteil überhaupt. Kossack verteidigt Siegfried Lorenz. Aber auch viele Mauerschützen gehörten zu ihrer Mandantschaft.

    Viele hätten nicht gewusst, sagt sie, wie ihnen geschah, als sie von der bundesdeutschen Justiz vor den Kadi gezerrt wurden. Und verstehen es bis heute nicht:

    Ich glaube nicht, dass die das wirklich akzeptieren konnten. Und ich bin Verteidigerin und auch mir fällt es schwer, das zu akzeptieren. Die, die ich verteidigt habe, haben das nicht gewollt und wenn sie sich dem Befehl, die Grenze zu schützen und im Notfall zu schießen, widersetzt hätten, dann wären sie dafür bestraft worden. Das ist Befehlsverweigerung.

    Noch weniger können diejenigen die Prozesse akzeptieren, die diese Befehle formuliert haben. Auch sie mussten sich vor dem Strafrichter verantworten.

    Eines der prominentesten Beispiele ist der Fall Egon Krenz. Wegen seiner Mitgliedschaft im Politbüro und im Nationalen Verteidigungsrat wurde der Honecker-Nachfolger im Jahre 1997 zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Totschlag, so das Urteil des Berliner Landgerichts. Denn Krenz sei als Täter hinter dem Täter, so sagen Juristen, strafrechtlich verantwortlich. Krenz sagte damals der Presse:

    Ich bin nicht für Tote an der Grenze verantwortlich. Hier aus diesem Gerichtssaal werden die historischen Fragen verbannt, auf diese Art und Weise will man schlicht und einfach meine politische Tätigkeit in der DDR kriminalisieren.

    Der Fall ging durch alle Instanzen, denn Krenz sah sich in seinen Menschenrechten verletzt. Allerdings ließen sich die Richter von seinen Argumenten nicht überzeugen. Als sich auch das Bundesverfassungsgericht weigerte, die Urteile aufzuheben, rief Krenz den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg an. Ebenfalls umsonst. Hans Modrow, letzter Ministerpräsident der DDR bezweifelt noch heute die juristischen Argumente. Er sieht Krenz als Opfer der Geschichte, in den Mühlen des Kalten Krieges. Schuld an den Mauertoten sei das System:

    Wenn man unbedingt eine juristische Verfolgung für notwendig gehalten, hätte - das ist meine Überzeugung - auch überprüft werden müssen: Unter welchen Bedingungen ist diese Grenze entstanden, was ist zwischen NATO und Warschauer Vertrag an dieser Grenze geschehen. Und wer dann juristisch vorgehen will, der konnte nicht nur dabei bleiben, die deutsche Verantwortung für Geschehnisse in der DDR zu betrachten, sondern auch die der Mächte, die sich an der Grenze gegenüberstanden, also die Sowjetunion und die drei westlichen Mächte. Das alles ist nicht geschehen. Damit sind es politische Prozesse geworden und man darf sich nicht zu wundern, wenn damit auch das Wort der Siegerjustiz mit in das gesellschaftliche Kalkül gezogen worden ist.

    Modrow erinnert daran, dass in den Grenzprozessen meist bundesdeutsche Juristen über ehemalige Bürger der DDR zu Gericht saßen. Siegerjustiz? Für den Theologen und DDR-Bürgerrechtler Ehrhart Neubert spricht aus dieser Vokabel der blanke Zynismus. Für ihn waren die Prozesse ein Lehrstück in Sachen Demokratie. Denn die lasse es nicht zu, dass persönliche Verantwortung auf das System delegiert werde.

    Zur Demokratie gehört das Prinzip der persönlichen Verantwortung. Das Zentrale unserer Demokratie ist, dass wir politische Verantwortung kennen und auch juristische. Wo kämen wir denn da hin, wenn wir dieses Verantwortungsprinzip nicht hätten. Das ist das einzige, was auch die Politik aufrechterhält. Wenn gegen Menschenrechte verstoßen wird, dann gibt es natürlich Verantwortung.

    Aber die strafrechtliche Verantwortung hat nach dem Grundgesetz Grenzen. Juristen sagen, das Strafrecht sei des Staates schärfstes Schwert und das wolle mit Bedacht geführt sein. Deswegen gelten strenge Spielregeln. Eine dieser Spielregeln ist das Rückwirkungsverbot: Niemand darf für eine Tat bestraft werden, die noch gar nicht strafbar war, als die Tat begangen wurde. Strafgesetze können nicht im Nachhinein erlassen werden.

    In der DDR nun wurde wegen des Grenzregimes niemand strafrechtlich verfolgt geschweige denn verurteilt. Stand das Rückwirkungsverbot also einer Strafverfolgung nach der Wende im Wege? Die bundesdeutschen Gerichte sahen das nicht so. Strafrechtler Marxen erklärt:

    Die Bestrafungsgrundlage sind Gesetze, die das Töten anderer Menschen verbieten. Solche Gesetze gibt es bei uns und hat es in der DDR auch gegeben. Das wäre die erste Grundlage, die es überhaupt gibt. Und die ist vorhanden. Daran kann man gar nicht zweifeln und dann kommt hinzu, dass nach internationalen Konventionen, die von der DDR auch anerkannt waren, die Rechtsanwendung auch in der DDR geprägt sein sollte, geprägt durch den Schutz der Menschenrechte, der in diesen Konventionen verankert ist.

    Und ein Totschlag ist für Juristen die höchste Form einer Menschenrechtsverletzung. Dennoch: In seiner Urteilsbegründung musste der Bundesgerichtshof tief in die Trickkiste greifen. Er holte die so genannte Radbruchsche Formel hervor. Danach gilt das geschriebene Recht nicht, wenn es grob gegen die Menschenrechte verstößt. Diesen Lehrsatz postulierte der Rechtsgelehrte Gustav Radbruch kurz nach dem zweiten Weltkrieg. In der bundesdeutschen Justiz führte die Radbruchsche Formel aber lange Zeit ein Schattendasein. Verteidigerin Kossack findet es merkwürdig, dass die Richter ausgerechnet darauf besannen, als es um die Todesfälle an der innerdeutschen Grenze ging.

    Es war eine Abrechnung mit der DDR es war eine politische Abrechnung mit der DDR, die mit Mitteln der Justiz durchgeführt wurde, dass man die Radbruchsche Formel hervorgeholt hat, um dieses Rechtsproblem zu klären, dass die Formel in der Vergangenheit in der Bundesrepublik nicht angewandt worden ist und auch ansonsten nicht angewandt wird. Also eine lex specialis DDR.

    Mehr als 2000 Ermittlungsverfahren wurden wegen der Todesschüsse geführt. Ergebnis: rund 330 Personen wurden rechtskräftig verurteilt. Etwa 30 Täter mussten ins Gefängnis.

    Diese Zahlen stehen weitaus höheren Opferzahlen gegenüber. Die Schätzungen schwanken zwischen 270 und mehr als 1000 Todesfällen. Die Zahl der Verletzten wagt niemand zu schätzen. Hat der Rechtsstaat also vor dem DDR-Unrecht kapituliert?

    Rainer Eppelmann schüttelt den Kopf. Der DDR-Bürgerrechtler und Vorsitzende der Stiftung zur Aufarbeitung des SED-Unrechts sieht in den Prozessen vor allem eines: eine Gedächtnisstütze.

    Wenn wir das nicht gemacht hätten, denn würde ich die Zeit kommen - und das würde ich für furchtbar halten - dass die heute zwanzigjährigen irgendwann mal fragen: Na, wie war denn das mit unseren Eltern und Großeltern? Sind die bescheuert gewesen? Warum haben die diese schaue DDR zu Ende geführt, warum haben sie denn die Regierung weggejagt. Wenn in Schulbüchern nur noch die achtbaren Schriftstellerinnen und Schriftsteller der DDR vorkommen, dann würde ich es ungeheuer fatal finden, wenn eine Generation aufwächst, die von uns nicht in die Lage versetzt wird, zu verstehen, was damals tatsächlich gelaufen ist und warum es diese DDR nicht mehr gibt. Warum die überwiegende Mehrheit der Leute die weghaben wollte.

    Strafprozesse also gegen das Vergessen. Allerdings nicht für diejenigen, die ohnehin nicht vergessen können: die Täter. Viele der Männer, die an der Grenze jemanden erschossen haben, hat die Erinnerung krank gemacht. Viele nahmen Zuflucht im Alkohol. Anderen aber haben die Prozesse geholfen, mit ihrer Geschichte zu leben. Das ist zumindest die Erfahrung des pensionierten Generalstaatsanwalts Schaefgen.

    Es gab Mauerschützen, denen man anmerkte, dass der Prozess, dem sie sich jetzt stellen musste, für sie eine befreiende und reinigende Wirkung hatten. Viele haben mir gesagt, dass sie gehofft haben, dass sie von der Schusswaffe niemals Gebrauch machen müssen. Und der Prozess zog auch für sie einen Schlussstrich.

    Eine Sichtweise, die Strafverteidigerin Suzanne Kossack nicht teilt. Für sie waren die Prozesse ein Schritt in die falsche Richtung:

    Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass man durch einen Prozess irgendjemanden läutern kann. Genau das Gegenteil passiert durch einen Prozess. Weil in dem Moment, in dem man angeklagt wird, man sich verteidigen muss. Und eine Frage der Verteidigungsstrategie ist es, wie man sich verhält. Und das ist genau das Verkehrte gewesen, zu glauben, dass man damit irgendjemand erziehen, läutern kann. Aber das ist bei jeder Straftat so.

    Trotzdem hatten die Richter keine Wahl. Denn der Einigungsvertrag ordnete eine strafrechtliche Aufarbeitung des DDR-Unrechts ausdrücklich an.

    Über die Alternativen gab es damals erbitterte Diskussionen. Ossis gegen Wessis und Ossis, Bürgerrechtler gegen Parteitreue und Bürgerrechtler - kurz jeder gegen jeden. Etwa über die Frage nach einer Amnestie, also die staatlich angeordnete Straffreiheit für die Täter. Die Einigungsparteien, die Deutsche Demokratische Republik und die Bundesrepublik Deutschland, entschlossen sich dagegen. Bis heute hadert Hans Modrow mit der Entscheidung von einst. Ohne Amnestie könne es keine Versöhnung geben, sagt er. Aber was will er den Opfern anbieten?

    Ein Angebot auf dem Gebiet, wenn es um Menschenschicksale geht, kann es wohl nicht geben, sondern es geht darum, dass jedes dieser Schicksale eines zuviel ist. Und es geht nicht darum, dass wir heute den nächsten Prozess und den nächsten Prozess führen und wir dann noch einmal prüfen. Ich bin der Meinung, Geschichte kommt an einem Punkt, an dem Verjährung einsetzt, an dem Versöhnung an die Stelle von Hass treten sollte, erst dann werden wir mir den einzelnen Schicksalen so umgehen können, wie es mit einer tragischen Geschichte verbunden ist. Eine Amnestie wäre das mindeste, was man beschließen sollte.

    Doch dafür gab es nie einen politischen Konsens. Zwar wurde diese Forderung selbst aus DDR-Bürgerrechtler-Kreisen immer wieder formuliert. Zu keiner Zeit aber wäre ein Amnestie-Gesetz durch den Bundestag gekommen. Strafrechtler Klaus Marxen findet dies richtig:

    Tötungsdelikte zu amnestieren wäre eine sehr heikle Sache. Dafür gibt es eigentlich auch kaum Vorbilder. In der Frühzeit der NS-Herrschaft ist so etwas mal gemacht worden. Amnestien haben ihre rechtlichen Grenzen. Ich persönliche sehe die rechtlichen Grenzen darin, dass schwere Menschenrechtsverletzungen einer Amnestie meines Erachtens nach nicht zugänglich sind.

    Aber auch ohne Amnestie sind zahlreiche Polit-Größen der DDR ohne Strafe davongekommen. DDR-Ministerpräsident Willi Stoph zum Beispiel und dessen Nachfolger Erich Honecker. Hat also der Volksmund recht behalten, der sagt: Die Kleinen hängt man und die Großen lässt man laufen?

    Der Fall Honecker: Der ehemalige Generalsekretär der SED wurde im Jahr 1992 vor dem Berliner Landgericht angeklagt. Ein Jahr später fand das Verfahren ein vorzeitiges Ende, auf Order des Berliner Verfassungsgerichtshofs. Die Richter argumentierten, eine Fortsetzung des Prozesses würde Honecker in seinen Grundrechten verletzen. Zu recht, sagt Generalstaatsanwalt a. D. Schaefgen:

    Weil der Angeklagte Honecker schon als schwer kranker Mann in die Verhandlung gegangen ist. Er litt an Krebs. Selbstverständlich kann man keinen Prozess führen gegen einen todkranken Angeklagten, wenn man überzeugt ist, dass dieser Angeklagte gar kein Urteil mehr erleben wird.

    Die Prognose war richtig: Honecker starb ein gutes Jahr später. Auch das eine Spielregel für den Staat, wenn er mit seinem schärfsten Schwert hantiert: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und jemandem den Prozess zu machen, der zu krank ist, um bis zum Urteil am Leben zu bleiben, tastet die Menschenwürde an. Da sind sich Juristen einig.

    Kritik an dieser Entscheidung hält der DDR-Bürgerrechtler Günter Nooke deswegen für unberechtigt:

    Dass Menschen unzufrieden sind, die als Opfer des SED-Regimes zum Beispiel von dieser Stadt keine vernünftige Entschädigung bekommen haben, dass sie gerne eine stärkere Verurteilung gesehen hätten, dass ist alles richtig, darf aber einen Rechtsstaat nicht dazu bewegen, mit diesen Halunken anders umzugehen, als mit anderen Halunken heute. Die muss man gleich behandeln, sonst macht man einen Riesenfehler. Man muss ganz einfach sagen, diese Menschen profitieren von einem Rechtsstaat, den sie früher bekämpft haben und sie profitieren von einem Rechtsstaat, den sie früher anderen nicht zugestehen konnten.

    Egon Krenz ist im vergangenen Dezember aus der Haft entlassen worden. Von den sechseinhalb Jahren Freiheitsstrafe hatte er da knapp vier Jahre verbüßt, teilweise im offenen Vollzug. Auch das sind die Spielregeln des Strafrechts: Freiheitsstrafen müssen nur ausnahmsweise bis zum Ende abgesessen werden, etwa dann, wenn eine Wiederholungsgefahr besteht. Doch wie hätte Egon Krenz rückfällig werden sollen?

    Ebenfalls höchst umstritten waren die Begnadigungen der Politbüro-Mitglieder Günter Schabowski und Günther Kleiber. Verurteilt zu drei Jahren Haft wegen Totschlags wurden sie nach knapp zehn Monaten auf freien Fuß gesetzt. Anlass war der 10. Jahrestag der deutschen Einheit. Der damalige regierende Bürgermeister von Berlin wollte damit ein Zeichen der Versöhnung setzen. Bei seiner Verurteilung hatte Schabowski erklärt, er empfinde Schuld und Schmach gegenüber den Maueropfern und sich zu seiner moralischen Schuld bekannt.

    Trotzdem kann der Theologe Neubert bis heute nicht nachvollziehen, warum es zu der Begnadigung kam:

    Wenn man es kritisch sieht, hat man manchmal den Eindruck, als wolle sich die Bundesrepublik entschuldigen, dass es überhaupt zu einem Urteil gekommen ist. Wir haben ja Tausende von Betroffenen von Opfern, wir haben da eine gewaltige kriminelle Energie des Kommunismus gehabt. Und wenn man die allzu billig davonkommen lässt, dann tut sich der deutsche Staat keinen Dienst und leistet wenige Beiträge zur Befriedung. Die große Opferzahl bedeutet ja auch, dass es eine große Zahle von Leuten gibt, die genau darauf schauen, was passiert mit den Tätern, denn es gibt ja eine Täterschaft, die jenseits des Strafrechts liegt.

    Zu diesen Leuten gehört auch Karin Gueffroy. Sie hat alle Prozesse interessiert verfolgt, ist gegen Egon Krenz als Nebenklägerin aufgetreten. Sie ist Menschen begegnet, die am Tod einer geliebten Person seelisch zerbrochen sind. Aber sie hat sich nicht kaputt machen lassen. Wenn der Schmerz sie zu überrollen droht, geht sie laufen oder fährt mit dem Fahrrad ein Stück des ehemaligen Todesstreifens ab. Eine persönliche Bilanz der Prozesse zu ziehen, wagt sie kaum:

    Das ist schwer. Eine Belastung war es nicht, aber geholfen hat es auch nicht. Es war ein abarbeiten für mich. Aber ich denke, das kann man nicht aufarbeiten. Das geht nicht.