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Siegeszug der Virtuellen Realität
Unfassbar nah

Die Virtuelle Realität war schon einmal in den 1980er-Jahren ein Hype, funktionierte damals aber noch nicht gut. Erst 2016 machten leistungsfähige Grafikkarten, Smartphones und VR-Brillen das Eintauchen in künstliche Welten attraktiv. Seitdem wird experimentiert, denn die Einsatzmöglichkeiten sind scheinbar grenzenlos.

Von Maximilian Schönherr | 02.07.2017
    Ein älterer Mann in einer Motorradjacke trägt eine VR-Brille.
    Ein älterer Mann in einer Motorradjacke trägt eine VR-Brille. (imago stock&people)
    "Hey Kaffka, servus, was geht ab?"
    "Alles gut, und bei dir, Mann?"
    "Fein, fein."
    "Was steht auf dem Programm heute, VR-technisch?"
    "Wir haben die Anfrage von einem Sicherheitsunternehmen. Die würden gern ein Havarie-Szenario in VR abbilden."
    "Weiß der Kunde überhaupt den Unterschied zwischen Pre-Rendered und Realtime-3D? Roomscale VR?"
    Ein junges Digital-Content-Unternehmen, ein neues Projekt. Es geht um Sicherheitstechnik für Ölplattformen. Sauerstoffmasken. Wie man einer Havarie schnell entkommt. Wie man die Sauerstoffmaske anlegt und in spätestens zehn Minuten die Bohrinsel mit ihren giftigen Dämpfen verlässt – bevor sie explodiert.
    Ein internationaler Konzern, der solche Havarietechnik herstellt, möchte die präzisen Handlungsabläufe schulen und hat bei den Programmierern angefragt, ob sich das in VR umsetzen lässt. VR = Virtuelle Realität. Man nimmt zwei Kontrollstäbe in die Hände, setzt eine VR-Brille auf. Los geht's. Das ist der Plan.
    Flo, der das Projekt gerade per Videokonferenz mit seinem Hamburger Kollegen Kaffka bespricht, hat bereits ein erstes Layout erstellt, in Unity, einer sogenannten Game Engine. Das ist eine Art Programmiersprache, mit der man eigentlich Computerspiele entwickelt, jetzt aber eben auch interaktive Virtuelle-Realität-Anwendungen. In einer halben Stunde hat Flo eine Szenerie mit Rauch und Feuer und hohen Wellen aufgebaut. Kaffka sieht das viel zu dramatisch aus; der Kunde wird etwas viel Ruhigeres haben wollen, meint er. Das Budget wird es außerdem nicht zulassen, sich um Details zu kümmern, wie etwa die Gischt der Wellen unter der Ölplattform.
    Dass ein altes Unternehmen für Sicherheitstechnik überhaupt auf die Idee für diesen Auftrag kommt, liegt an der Intensität von VR. Jeder, der zum ersten Mal eine solche Brille aufsetzt und in den künstlichen Raum eintaucht, ist hin und weg. Jeder. Eintauchen heißt lateinisch Immersion. Man kann Immersion auch beim Lesen eines spannenden Buchs erleben. Die Virtuelle Realität ist ungleich direkter: Man meint, man ist da, man hat das Gefühl, das sind die eigenen Hände, die da malen, kämpfen, schrauben.
    Es ist mit nichts vergleichbar, was wir von Bildschirmen, Computerspielen auf Smartphones und auch nicht vom 3D-Kino wie Avatar kennen.
    "Ich habe einen Spieleprogrammierer in Dublin besucht, Owen Harris. Wir waren in einem Zimmer mit viel Gerümpel und hohen Decken. Als ich die Brille aufsetzte, startete Owen zunächst einen Unterwasserfilm. Ich bin im realen Leben Taucher und stand nun auf dem Deck des gesunkenen Schiffes. Schön und gut, dachte ich mir. Bis ich mich umdrehte, und dieser Wal direkt hinter mir war. Riesig. Das haute mich um.
    Später kam mir der Gedanke, wenn wir Biologie auf diese Weise ansehen könnten, wäre das eine Revolution. Wir könnten Krebsgeschwüre ansehen und verstehen, wie sie sich entwickeln. Alles in der Biologie passiert ja in drei Dimensionen. Aber bisher haben wir uns biologische Vorgänge immer nur zweidimensional angesehen, auf Papier und Bildschirm.
    Mich hat dieses Initialerlebnis darauf gebracht, die Struktur von Tumoren mithilfe der Virtuellen Realität zu untersuchen. Und ich halte es für einen irren Zufall, dass wir ausgerechnet jetzt, wo die VR-Technik so weit ist, in der Biologie die räumlichen Verhältnisse einzelner Zellen zueinander kennen."
    Tumorvisualierung als Anwendungsbeispiel
    Greg Hannon hat mit seiner Tumorvisualisierung in Virtueller Realität gerade begonnen und dafür an der Universität Cambridge in England ein ganzes Team aufgestellt. Die Technik VR und die Datenmenge, die die Biologie bereitstellt, sind neu für die Forschung. Völlig unberührt. Die finanzielle Ausstattung in Cambridge ist traumhaft: rund 50 Millionen Euro, und das quasi nur, um mit VR-Brillen riesige statistische Datenmengen zu durchwandern – und vielleicht zu verstehen.
    "Ich bin unter einer VR-Brille. Plötzlich ist ein Auto-Inneres aufgetaucht. Ich sitze in diesem Wagen. Direkt vor mir ist das Lenkrad. Ich habe ein gutes Gefühl für den Abstand des Lenkrads, würde sagen 30 Zentimeter. Ich sehe auch die Außenspiegel. Vor allem aber sehe ich meine Hände! Ich kann mit diesen Händen hier im Wagen herum fassen. Ich bekomme einen extrem präzisen Eindruck von der Geometrie hier in diesem Auto. Das finde ich das Stärkste in VR überhaupt, dass man genau sieht, wie weit etwas weg ist. Zum Beispiel bin ich mit meinem Kopf fast an der Decke. - Können wir das Interieur ändern oder einen anderen Wagen nehmen? Italien bitte, und den Rolls Royce!
    Das ist schön, wie man sich Autos bestellen kann. Jetzt ist der Rolls Royce da. Sieht aus wie ein Zweisitzer."
    "Mein Name ist Daniel Motus. Ich arbeite bei BMW bei der Entwicklung des Interieurs und bin da für die VR-Methoden im Prozess verantwortlich. Der Hardwareaufbau eines Gesamtfahrzeugs dauert zwischen sechs und 19 Wochen. Bei uns bekommen Sie in drei Wochen ein komplettes VR-Modell des Fahrzeugs neu aufgebaut, mit so einem Mixed-Reality-Hardware-Prototypen dabei."
    Ein Mann trägt eine VR-Brille und ist in eine räumliche, virtuelle Welt eingetaucht.
    Die Reise in die virtuelle Realität könnte schon bald Alltag werden. (picture-alliance/ dpa/ Maximilian Schönherr)
    Mixed Reality: Virtual Reality per Brille, und reale Objekte um einen herum.
    "Da geht es viel um Geometrieübergänge, etwa wie eine Zierleiste eingebettet aussieht, wie es wirkt, wo Licht und Schatten zusammenkommen. Das sind Themen, die man oft nur an Hardware erkennen konnte. Aber auch Themen, wie verschiedene Materialien zusammenwirken, und ob das Ganze noch modern, homogen wirkt, oder ist es too much an irgend einer Stelle. Genau diese Themen kann ich dann virtuell absichern. Der nächste logische Schritt, der auf der VR-Seite passieren wird, ist für mich die 4K-Auflösung."
    4K ist die aktuell höchste gebräuchliche Auflösung für bewegte Bilder. Gut 4.000 Pixel breit.
    "Sie können dann zum ersten Mal Display-Inhalte sehr gut erkennen und lesen, Sie können ein Anzeige-Bedienkonzept 1:1 übertragen. Die Herausforderung ist natürlich die Rechenleistung. Alles, was wir tun, ist in Echtzeit gerendert: der Schatten, die Geometrie. Dadurch ist für uns die Rechenleistung das Wichtigste Element. Wir nutzen hier Game-Rechner, die wassergekühlt übertaktet sind, um diese Performanz hinzubekommen."
    "Mein Name ist Stefan Kärcher. Und ich bin bei den Amazone-Werken als Produktspezialist für die selbstfahrende Pflanzenschutzspritze Pantera angestellt. Die Maschine hat ungefähr ein Gewicht von elf Tonnen. Und mit Allradantrieb ist sie auf vielen Feldern dieser Erde unterwegs. Auf der linken Seite ist die sogenannte Brühearmatur, wo sich ein Großteil der Spritztechnik befindet. Und hier haben wir die Spritzpumpe, die auch in der Virtuellen Realität als Übung mit integriert wurde, weil das ein für die Wartung sehr interessanter Bereich ist, der sich sehr sehr gut schulen lässt. Man muss, um an die Pumpe heranzukommen, erst eine Verkleidung demontieren."
    "Im Prinzip hast du auf dem Tisch die Schlauchschelle liegen. Die kannst du mit der rechten Hand greifen, oder mit der linken. Sobald sie bläulich leuchtet, kannst du sie mit dem Trigger-Button in die Hand nehmen und dort einbauen, wo sie einzubauen ist. Das siehst du daran, dass es auch da leicht bläulich leuchtet."
    Montage der Pumpe in einem Seminarraum der Universität Osnabrück.
    "Jetzt fängt es an, zu vibrieren, ich lass es los, und dann ist es montiert. Was ich beachtlich finde, ist der Lerneffekt. Also ich gewöhne mich innerhalb von zwei, drei Bauteilen unglaublich schnell, mich in dieser Virtuellen Realität zu bewegen."
    Das Ausbauen von Teilen einer großen Planzenschutzsprengmaschine
    Es geht darum, bestimmte Teile dieser großen Pflanzenschutzsprengmaschine auszubauen, zu reparieren oder zu säubern und sie wieder einzubauen. Das passiert meist vor Ort – und bisher mit gedruckten Bedienungsanleitungen und vielleicht einem Video. Jetzt lernt der Landwirt oder Servicetechniker über Virtuelle Realität, mit dem Tank oder mit der Pumpe umzugehen. Dirk Metzger hat die Anwendung entwickelt, sein Kollege David Sossna fuchtelt in einem Seminarraum der Universität Osnabrück in der Luft herum. In seiner VR-Brille sieht er die Teile der Pumpe in ihrer tatsächlichen Größe und übt mit den Controllern in den Händen ihren Zusammenbau.
    Metzger hat an der Universität Osnabrück über Virtuelle Realität promoviert. Er begann mit einer kleinen Statistik: Umfragen über die Akzeptanz der Technik auf einer Industriemesse. 80 Prozent der Befragten haben keinerlei Scheu vor VR, und zwar quer durch die Altersgruppen zwischen zwölf und über 100 Jahren. In der wissenschaftlichen Arbeit beschrieb der Wirtschaftsinformatiker dann den Prozess, der zu dieser VR-Schulungsanwendung führte: viele Gespräche mit Ingenieuren und Kundendienstmitarbeitern, die die Landmaschine in den verschiedenen Ländern warteten. Dann erst kam die Umsetzung in 360 Grad.
    Besucher mit VR-Brillen testen das erste Virtual Reality Kino in Amsterdam, Niederlande, März 2016
    Besucher mit VR-Brillen testen das erste Virtual Reality Kino in Amsterdam, Niederlande, März 2016 (dpa / picture alliance / Sander Koning)
    - "Und Ihnen wird es nicht übel?"
    - "Mir wird nicht übel, es sind aber jetzt auch keine besonders bewegenden Elemente im Hintergrund. Von daher wird mir nicht schlecht."
    Metzger: "Dass die Problematik, dass einem unter der Brille schlecht wird, hier nicht auftritt, ist sozusagen kein Zufall, sondern wir haben uns da relativ viele Gedanken dazu gemacht. Das Problem, warum einem schlecht wird, hängt mit dem Innenohr und dem Gleichgewichtssinn zusammen, dass man die Bewegungen, die man mit den Augen wahrnimmt, nicht übereinstimmen."
    - "Gibt es nichts mehr zu bauen? Ist das Ding jetzt fertig?"
    - "Ja, tatsächlich, das kleine Szenario, was wir hier haben, ist durchlaufen, aber wir haben ja noch mehr Szenarien."
    Der Begriff Virtuelle Realität geht auf einen Science-Fiction-Roman der frühen 1980er-Jahre zurück. Zehn Jahre später, um 1990, machte ihn der Informatiker und Musiker Jaron Lanier zum Hype. Lanier, der 2014 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, sprach damals von tiefsten gesellschaftlichen Umwälzungen durch den Einsatz von VR-Brillen und Datenhandschuhen.
    Das Schwindelgefühl hieß früher – von den Flugsimulatoren für Piloten – Simulatorkrankheit, heute spricht man von der VR-Krankheit. Die frühe Technik von Jaron Lanier und heutige VR-Brillen, in die man das Smartphone hineinsteckt, erzeugen dieses Unwohlsein schon beim Herumschauen im virtuellen Raum.
    Technik wird immer besser - und ist erschwinglich
    Erst kürzlich erschienen VR-Brillen, gespeist von leistungsfähigen PC-Grafikkarten, die erschwinglich waren und 60 Bilder pro Sekunde und mehr in die Linsen projizierten. Bei dieser Bildwiederholrate wird einem nur noch dann schwindelig, wenn man vor Abgründen steht. Viele VR-Computerspiele nutzen dies als Schock. Weil man in VR Dimensionen so gut abschätzen kann, ist es für jeden eine Qual, auf einen hohen Berg gebeamt zu werden.
    Auf dem Filmfestival in Cannes 2017 zeigte ein Team aus Regisseuren und Wissenschaftlern zwei Filme in Virtueller Realität. Der eine beschreibt das Leben eines Baums bis zu seinem Ende durch einen Waldbrand. Es gibt Wind- und Urwaldgeräusche. Düsen im Raum versprühen gezielt Gerüche von Blüten, Rauch, Waldboden. Das Publikum sitzt in keinem Kino, sondern in einem Raum ohne Leinwand. Die Betrachter tragen ihre mit dicken Kabeln an große PCs angeschlossenen Brillen, die sie blind für den realen Raum machen, und um den Bauch tragen sie Westen mit Aktuatoren, die vibrieren, wenn sie in VR mit etwas zusammenstoßen. Sie können die Arme ausstrecken und die Äste des Baums zu sich ziehen oder hochklettern – in VR.
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Der US-Regisseur James Francis Cameron vor einem "Avatar"-Plakat: Löst VR auch im Kino bald 3D ab? (picture alliance / dpa / Robert Schlesinger)
    "Die filmischen Mittel werden anders genutzt. Natürlich gibt es Schnitt, Kamerafahrt, Beleuchtung wie im herkömmlichen Film, aber sie müssen völlig anders eingesetzt werden."
    Der Münchner Regisseur Peter Popp. Er projiziert seine Filme meist in Museen auf Kuppeln. Der Betrachter trägt keine VR-Brille, sondern kann sich frei umsehen. Er erlebt eine Handlung, die vorn, hinten, rechts und links und über ihm spielt.
    "Die Kamerafahrten sind viel langsamer, es ist die Entschleunigung des Bildes. Man kann eine Kamera viel länger in einer Szene stehen lassen, ohne Schnitt, ohne dass es langweilig wird."
    Peter Popp kommt an VR nicht mehr vorbei. Seine Mitarbeiter schlagen sich mit dem Problem herum, wie man die Projektionen auf Rundum-VR erweitert, also aus der 180-Grad-Kuppel einen 360-Grad-Film macht, wo der Betrachter mit Brille auch nach unten blicken kann.
    "Wenn man sich so umsieht, wimmelt es von Fingerübungen und Experimenten in VR, es gibt aber keine richtigen Filme. Genau das treibt mich um: wie man Geschichten in VR erzählt. Wir haben nicht nur herausgefunden, dass es geht, sondern dass es sehr intensiv sein wird."
    Der Amerikaner Robert Stromberg. Er war für die visuellen Effekte bei Filmen wie "Fluch der Karibik" und "Avatar" zuständig. Jetzt hat er eine Firma gegründet, die ausschließlich Filme für Virtual Reality produziert.
    Filmindustrie sucht nach neuem Storytelling
    Stromberg sagt, das Rezeptbuch für Storytelling muss grundlegend umgeschrieben werden. Langsame Kamerafahrten und wenige Schnitte gehören nicht zu seinen Rezepten für einen VR-Kinofilm. Man muss den Betrachter stärker führen, damit er nicht zufällig nach hinten guckt, wenn der Mord vorne passiert.
    Der erste VR-Film von Stromberg erschien im Mai 2017 und heißt "Raising a Rukus". Er ist computeranimiert, also nicht real gedreht, aber natürlich komplett 360 Grad.
    In einem mit 360-Grad-Kameras gedrehten Realfilm mit realen Schauspielern muss man sich schon genau überlegen, wo man die Crew und die Scheinwerfer unterbringt, denn die Kamera sieht alles. Im Moment scheut er diesen Aufwand und setzt auf 180-Grad-Filme, also eine VR-Halbkugel; da kann man dann alles Störende unten oder hinten verstecken.
    Auch die Handlung selbst, das Drehbuch, stellt in der Virtuellen Realität höhere Ansprüche als beim normalen Film.
    "Angenommen wir haben drei Cowboys. Einer reitet nach Norden, einer nach Osten, einer nach Westen. Wenn alle drei den Zuschauer interessieren, dann schreiben wir ein verzweigtes Drehbuch: Er kann beim Betrachten des Films dem einen folgen, und am Schluss kommen alle drei wieder zusammen. Vielleicht will er dann zurückspulen und den anderen Cowboy auf seinem Abenteuer begleiten. Und wenn Sie hinter dem Berg rechts ein Geräusch gemeint haben, zu hören, bereiten wir filmisch vor, dass Sie dahin gehen, um nachzusehen. Wir drehen also tatsächlich den Weg zu diesem Berg."
    Damit ist der Virtual-Reality-Film fast ein Computerspiel, bei dem der Betrachter mitwirken kann. Die Grenzen vermischen sich. Als geschäftstüchtiger Mann der amerikanischen Filmindustrie denkt Robert Stromberg weiter – an Augmented Reality.
    Augmented Reality lockt auch die Erotikbranche
    Stromberg möchte mit Augmented Reality den Hund aus seinem ersten VR-Film vermarkten. Bei der augmentierten Realität trägt das Kind im Kinderzimmer eine halbdurchsichtige Brille. Es sieht die Spielfigur, also den realen Plastikhund; die Kamera in der Brille berechnet daraus zusätzliche Daten und blendet sie ins Blickfeld ein. So können die Augen des etwas schmucklosen realen Plastikhunds plötzlich anfangen zu leuchten, er wird mit dem Schwanz wedeln, und das Kind wird über die Kopfhörer bei bestimmten Bewegungen das Bellen und Heulen hören.
    Selbstverständlich hat auch die Erotikbranche die Augmentierte Realität und die Mixed Reality im Blick – und erfindet Gegenstände, die einen zusätzlichen Kick geben.
    "Wir stellen Geräte und eine App für Smartphones her, mit denen Pärchen auch über große Entfernungen hinweg Sex haben können."
    Ashton Egner von dem Startup-Unternehmen für virtuellen Sex, Kiiroo, in Amsterdam.
    "Wir bieten Masturbationsgeräte für Mann und Frau. Über die Datenverbindung schalten wir sie zusammen. Dass diese Technik jetzt zum Durchbruch in der Porno-Industrie führt, ist der Virtuellen Realität zu verdanken. Denn wenn Sie die Brille über den Kopf ziehen, sehen Sie den Partner mit Ihnen zusammen in einem Raum. Sie werden berührt und berühren den anderen. Es ist das umwerfendste Erlebnis, das ich kenne – und jetzt ist es für jeden erschwinglich."
    Auf der Konferenz der Internet-Erotik-Industrie Eurowebtainment auf Mallorca wurde klar, dass mit Porno im Internet kaum Geld verdient wird. Die neuen VR-Ideen sind ein Hoffnungsschimmer, dass sich das ändern könnte, weil man den Kunden dann tatsächlich etwas verkauft, eben Geräte und Infrastruktur.
    Doch die Startups für interaktiven VR-Sex kämpfen auch mit Mixed und Augmented Reality ums Überleben. Virtueller Sex ist mit viel Technik verbunden, also VR-Brillen, schnellen stabilen Internetverbindungen, Hardware, Apps und Bluetooth. Diese Hürden sind für die meisten Konsumenten viel zu hoch.
    Es sind erste VR-Avatar-Anwendungen ohne Sex erschienen, die der alten Computersimulation Second Life ähneln und noch nicht richtig Spaß machen. Die Figuren, also man selbst und die anderen in diesem gefühlt 30 Quadratmeter großen Raum, sehen wie große Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Figuren aus. Und es hakt oft, zum Beispiel wenn man raus zu den fünf anderen Figuren am Pool gehen will. Echtzeit mit mehreren Personen und auch noch Dialogen stellt hohe technische Ansprüche an das, was die VR-Brillen über die Internetleitung zeigen.
    Von den VR-Brillen, die man selbst baut oder für 100 Euro kauft, um sein Smartphone hineinzustecken, kann man solche Leistungen nicht erwarten.
    Tausende VR-Videos auf Youtube
    Billiglösungen wie diese sind der eigentlich Motor für den großen Erfolg von Virtueller Realität. Zig Tausende an VR-Videos finden sich allein auf Youtube, fast alle gedreht von Amateuren, die sich für 100 Euro eine kleine Kamera gekauft haben, die rund-um filmt, 360 Grad. Dieser vierminütige Clip der Universität von Malaga besteht aus einer einzigen mit einer solchen Kamera gedrehten Szene.
    Eine Frau sitzt auf einem Stuhl und weint. Ihre Hände sind gefesselt. Die Tür öffnet sich. Ein maskierter Mann tritt ein.
    Das sieht am Bildschirm völlig unbedeutend aus, aber mit VR-Brille ist man in dem Raum, blickt sich automatisch um und sieht nicht nur die gefesselten Hände der Frau, sondern auch, wie sich ein Mann mit einer fiesen Tiermaske auf dem Kopf hinten rechts zur Tür reinschleicht.
    Low Budget und hoch immersiv.
    Die Virtuelle Realität inspiriert die Welt der Kunst, der Bildung, der leichten Unterhaltung, der schweren Unterhaltung, der Psychotherapie und der Wissenschaft.
    Der Biogenetiker Greg Hannon wusste nichts von VR, bis ihn ein Bekannter unter virtuelles Wasser führte und er diesen virtuellen Wal hinter sich auftauchen sah. Anschließend zog er Millionen an Forschungsgeldern an Land, baute sein Institut für Krebsforschung in Cambridge um und plädiert jetzt für eine Wissenschaft, die mit Virtueller Realität Daten visualisiert, die auf Flachbildschirme schlicht nicht mehr passen.
    "Angenommen, bei einer Frau wird ein ein Zentimeter großer Tumor klinisch diagnostiziert. Das ist ein makroskopisches Objekt, und die Chirurgen, die den Tumor entfernen werden, arbeiten ja mit genau solchen Dimensionen. Dieser Ein-Zentimeter-Tumor besteht aus 100 Millionen Zellen. In unserem Projekt wollen wir uns jede dieser 100 Millionen Zellen ansehen und sie verstehen. Die Biologie kann aus jeder Zelle 20.000 Informationen ableiten. Damit sind wir bei einer Datenmenge, die es bisher noch nie gab. Mit Virtueller Realität können wir diese Daten sichtbar machen und verstehen. Stellen Sie sich ein Blatt Papier vor. Um mehr Informationen auf die Seite zu bringen, müssen Sie kleiner schreiben. Sie können sich auch mit mehreren Bildschirmen auf Ihrem Schreibtisch umgeben. Mit einer VR-Brille ist das völlig anders: Sie stellen sich einfach in einen Fünf-Meter-Würfel aus Molekülen hinein!"
    Der in England forschende amerikanische Krebsspezialist ist von diesem Quantensprung in der Visualisierung so begeistert, dass er auch seinen Kollegen von der Hirnforschung zu VR rät: Sie könnten dann Synapsen und ihre Kommunikation im virtuellen Raum darstellen und durch schieres sich Umschauen viel besser verstehen, was da vor sich geht. "Verstehen" sagt Greg Hannon. Es geht nicht nur um den physikalischen dreidimensionalen Raum, sondern um den intellektuellen Raum, das tiefe Begreifen.
    Experimentierphase ist spürbar
    Bei der Unmenge an VR-Fotos auf Facebook oder Instagram spürt man die Experimentierphase, in der wir uns befinden. Die Technik funktioniert. Jedes Smartphone kann VR-Einzelbilder aufnehmen, 360-Grad-Kameras sind preiswert geworden. Aber was fotografiert und filmt man damit? Sicher nicht mehr die Achterbahnfahrt – die gab es schon zu oft. Virtuelle Realität fordert ihre eigene Ästhetik.
    Die Virtuelle Realität bricht erstmals mit dem, womit wir seit zig Tausenden Jahren Bilder und seit gut 100 Jahren Filme ansehen: auf zweidimensionalen Flächen. Virtuelle Realität lässt sich gut beschreiben, aber nicht auf einem Flachbildschirm zeigen. Sie wirkt da trivial, langweilig, eben: flach. Deswegen funktioniert VR im Fernsehen nicht, im Kino ebenfalls nicht, denn wozu Kino, wenn jeder seine Realität in seiner Brille betrachtet und erlebt und keine Leinwand alle verbindet?
    Trotz ihres Siegeszugs wird VR keine Massenanwendung werden: Virtuelle Realität braucht eine sichere Umgebung, weil man ja blind für alles um sich herum ist. Und Kopfhörer, damit man noch tiefer drin ist.
    "In der Virtuellen Realität ist jeder für sich. Mir kommt es, wenn ich jetzt wieder in meinem dunklen Raum wunderbare Ölstriche in die Luft male, bisschen vor, als würde ich ein Buch lesen. Eine stille, einsame und sehr erfüllende Tätigkeit. Das soll ein Adler werden. Äh? Hab ich da was gehört?"
    Redaktioneller Hinweis: In der Audiofassung des Beitrags befinden sich falsche Angaben zur Breite eines 4K-Videos und zur maximal möglichen Auflösung; in der Textfassung wurde dies vor Veröffentlichung korrigiert.