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Sigmar Gabriel
"Wir brauchen die Vorratsdatenspeicherung"

Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel hält die Vorratsdatenspeicherung für notwendig. Im DLF sagte der SPD-Chef, er wisse zwar, dass das Thema hochumstritten und die Vorratsdatenspeicherung kein Allheilmittel sei - sie könne aber durch eine schnellere Aufdeckung von Straftaten helfen, die nächste Straftat zu verhindern.

Sigmar Gabriel im Gespräch mit Falk Steiner | 15.03.2015
    Sigmar Gabriel bei einem Pressestatement in Berlin
    Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel zu Chancen Deutschlands im Digitalen Zeitalter. (dpa / Stephanie Pilick)
    Falk Steiner: Herr Gabriel, in den kommenden Tagen werden wir wieder viel über zunehmende Vernetzung, über sogenannte intelligente Netze, über große Datenmengen und ihre Aussagekraft und nicht zuletzt über den Wandel in der Industrie hin zur sogenannten Industrie 4.0 hören. Und all dem ist gemein, dass keineswegs immer alle das Gleiche meinen, wenn sie davon sprechen. Also lassen Sie uns etwas kleiner anfangen: Für Sie, als Wirtschaftsminister, was sind denn die größten digitalen Herausforderungen, die die Wirtschaft der Bundesrepublik in den kommenden Jahren meistern muss?
    Sigmar Gabriel: Ja, die wichtigste Herausforderung ist natürlich, dass völlig neue Wertschöpfungen entstehen und nicht klar ist, ob eigentlich - wir sind ja heute die Industrieausrüster der Welt, wir liefern den Maschinenbau, die Elektrotechnik, Stahl, Chemie, Automobile - die Innovation weiter bei uns bleibt oder ob sie durch neue Wertschöpfungen eher zu denen wandern, die die Daten darüber haben. Denn die Wertschöpfungen werden ja dort entstehen, wo die Nutzung solcher Produkte Daten erzeugen und man aus diesen Daten neue Geschäftsmodelle macht. Und die werden natürlich Rückwirkungen haben auf Innovationen, auf Forschung oder auf Entwicklung - und das ist noch nicht ausgemacht. Das ist die größte Herausforderung, vor der wir stehen.
    "Mit dem Ausbau der Infrastruktur, der digitalen Infrastruktur vorankommen"
    Steiner: Wenn Sie das schon so klar fassen können, welche Aufgaben ergeben sich denn daraus für Sie als politischen Akteur?
    Gabriel: Also das Erste und Wichtigste ist ganz sicher, dass wir mit dem Ausbau der Infrastruktur, der digitalen Infrastruktur vorankommen. Da haben wir jetzt sehr viel in die Wege geleitet. Wir haben gerade noch mal ein Investitionsprogramm aufgelegt. Das Zweite ist, wir werden die frei werdenden Frequenzen versteigern und die Einnahmen auch zum Infrastrukturausbau verwenden. Wir werden hoffentlich es schaffen, dass wir Techniken, wie das Vectoring ermöglichen. Und, ich glaube, wir werden auch in Europa über den Regulierungsrahmen zu sprechen haben, der es manchmal den Unternehmen, von denen wir erwarten, dass sie in die Infrastruktur, in Breitband investieren, sehr schwer macht, auch das Geld zu verdienen. Wir gucken sehr auf Europa und passen auf, dass dort die Unternehmen nicht marktbeherrschend werden und merken manchmal gar nicht, dass die wirklich marktbeherrschenden Unternehmen wo ganz anders sitzen. Und deswegen glaube ich, müssen wir schon aufpassen, dass wir unsere Industrie nicht zu klein regulieren, dann schafft sie die Aufgabe nicht. Also ein ganz schöner Packen von Aufgaben, damit wir diese wichtigste Voraussetzung, also den Ausbau der Infrastruktur, auch wirklich schaffen und möglichst bis 2018 diese 50 Megabit pro Sekunde erreicht haben.
    Die "Digitale Agenda" - "Wir haben verdammt viel auf den Weg gebracht"
    Steiner: Viel zu tun - aber große Koalitionen können ja auch große Aufgaben bewältigen, wenn sie denn wollen. Die "Digitale Agenda", die Sie vor einem halben Jahr mit ihren Ministerkollegen Dobrindt und de Maiziére vorgestellt haben, die wurde ja mit einem, sagen wir mal, gemischten Echo aufgenommen. Auf der einen Seite wurde begrüßt, dass sich die Bundesregierung ein - so nannte es Thomas de Maiziére - "Hausaufgabenheft" gegeben habe, was sie erledigen wolle. Doch die Kritik war auch gleich da: "Zu wenig", "zu klein gedacht", "zu spät" und "zu wenig mutig". Wie sehen Sie jetzt, ein halbes Jahr später, diese Digitale Agenda und den Fortschritt, der sich vielleicht auch ergeben hat?
    Gabriel: Ein bisschen spaßig, würde ich sagen: Ich habe noch nie erlebt, dass etwas, was die Politik vor hat, öffentlich nicht als "zu wenig", "zu wenig mutig" und "nicht ausreichend" empfunden wurde - das ist auch in Ordnung. Diejenigen, die jetzt insbesondere in dem Bereich Digitalisierung, Vernetzung, neue Telekommunikationstechniken unterwegs sind, die müssen die Politik und die Wirtschaft auch antreiben, sonst passiert zu wenig. Trotzdem glaube ich, dass wir verdammt viel auf den Weg gebracht haben: Überlegen Sie sich mal das ganze Thema Datenschutzgrundverordnung in Europa, von der wir jetzt endlich hoffen - übrigens mit deutscher Hilfe -, dass wir sie in diesem Jahr verabschieden. "Digital Single Market" in Europa - also wir brauchen ja nicht nur in Deutschland Rahmenbedingungen, das nützt ja nichts bei der Technologie, sondern mindestens in Europa. Wir brauchen Standardisierungen, damit wir die Digitalisierung - Sie haben das vorhin Industrie 4.0 genannt, die Amerikaner nennen es "Internet der Dinge" -, dass wir das auch wirklich vorantreiben können. Wir reden über "Trusted Cloud" - für mich als Wirtschaftsminister eines der wesentlichen Themen. Denn viele Mittelständler wissen zwar, dass Digitalisierung für sie wichtig ist, aber sie sind sehr skeptisch, ob die Daten dann am Ende auch sicher sind - das gilt auch für Forschungseinrichtungen. Wie machen wir also Datenschutz auch zum Asset für den Wirtschaftsstandort. Das alles ist Thema der Digitalen Agenda und noch vieles mehr. Also ich glaube, wir haben uns das Richtige vorgenommen. Aber trotzdem, das ist absolut okay, dass wir angetrieben werden.
    Gläsernen Menschen verhindern
    Steiner: Datenschutz und Datensicherheit - Sie haben es gerade angesprochen - ist zweifelsohne auch ein Wirtschaftsfaktor. Wir haben gesehen im Zuge der Debatten um die NSA-Affäre, dass Unternehmen speziell Produkte versuchen zu entwickeln, um eben genau diesem Sicherheitsbedürfnis dann auch Produkte entgegen zu halten und zu sagen: 'Hier machen wir neue Angebote, die genau dafür geschaffen sind.' Wie weit sehen Sie das, ist das ein Markt, der dann auch wirklich funktionieren kann? Denn auf der anderen Seite ist ja der Trend, dass Daten eben nicht abgeschottet sind, sondern in diese großen Datenmengen, landläufig unter dem Stichwort "Big Data", dass die dort zusammengefasst werden. Also funktioniert das denn, dass wir sagen: 'Wir machen jetzt einzelne Firmenclouds und gleichzeitig machen wir Big Data'?
    Gabriel: Das ist eine der spannendsten Fragen: Wie ermöglichen wir die vielfältigen Chancen oder wie realisieren wir die vielfältigen Chancen, die wir durch diese ungeheure Menge an Daten haben? Denken Sie nur daran, was im Gesundheitswesen möglich ist und wie schaffen wir es gleichzeitig, dass Menschen datensouverän bleiben? Also, um beim Beispiel Gesundheit zu bleiben: Wie verhindern wir, dass private und persönliche Gesundheitsdaten ihren Weg in die Öffentlichkeit finden? Und wie verhindern wir vor allen Dingen, dass wir einen völlig gläsernen Menschen haben?
    Es gibt in der ganzen Debatte Menschen, insbesondere in Amerika, die verstehen uns gar nicht, weil das gar nicht ihr Thema ist. Ich erlebe das auch manchmal in Deutschland, dass man in der Netzgemeinde sozusagen hoch sensibel ist, wenn es darum geht, welche Daten der Staat hat, aber, sagen wir mal, es für völlig normal hält, dass große Datensammelunternehmen, wie Google, Facebook, Amazon und andere, sozusagen Daten horten, und zwar ganze Persönlichkeitsbilder dabei entstehen können. Und wie kriegen wir das übereinander? Ich glaube, dass wir in Europa ganz gute Ideen dafür haben.
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    (Bild: picture alliance / dpa / Jens Büttner) (picture alliance / dpa / Jens Büttner)
    Das Thema dafür ist die Datenschutzgrundverordnung. Wir haben gerade ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs im letzten Jahr bekommen, das sagt: 'Wer immer hier in Europa unterwegs ist, auch wenn der aus Amerika kommt, er muss sich an die europäischen Spielregeln halten.' Der Europäische Gerichtshof hat zum Beispiel gesagt: 'Es gibt ein Recht auf Löschung von Daten, damit nicht, wenn man als Kind irgendeinen Blödsinn gemacht hat, das irgendwie 30 Jahre später zum Gegenstand des Einstellungsgespräches beim Arbeitgeber stattfindet.'
    Das zeigt, Europa will zurecht seine Grundlagen des Zusammenlebens, die wir bei uns in der Verfassung ja aufgeschrieben haben, nicht aufgeben. Hinter dem Thema Datensouveränität steckt der Artikel 1 der Verfassung in Deutschland: Die Würde des Menschen ist unantastbar - und das gilt auch im Digitalen Zeitalter. Ein zweites Riesenthema ist das Urheberrecht. Es gibt in der Netzgemeinde ganz viele, die finden, dass man das eigentlich im Digitalen Zeitalter nicht braucht. Ich finde, das ist eine abenteuerliche Idee, dass wir die geistige Arbeit entwerten. Menschen, die künstlerisch, die kreativ tätig sind, die haben natürlich einen Anspruch darauf, dass das auch ihr geistiges Eigentum bleibt, auch im Zeitalter der Digitalisierung.
    Und wie wir diese Schnittstellen managen, wo die Grenzen sind, ohne die Chancen kaputt zu machen, die Datensouveränität zu erhalten, das ist eine bislang ungelöste Aufgabe. Aber ich glaube, die Europäer haben besser Chancen sie zu lösen als die Vereinigten Staaten. Und am Ende, glaube ich, wird das ein Wettbewerbsfaktor. Unternehmen und auch Wissenschaftseinrichtungen werden lieber in die Regionen der Welt gehen, bei denen sie jedenfalls sicherer als anderswo sein können, das ihre Daten nicht verschwinden. Und deswegen würde ich den Wettbewerb mit den Amerikanern um dieses Thema gerne aufnehmen. Ich glaube, dass das etwas ist, was uns voranbringt.
    "Bei den Produktionen sind wir Exporteur"
    Steiner: Das heißt, den Wettbewerb, einmal um die Frage, wie mit Daten umgegangen wird, zum anderen auch um die Frage, wie kann gleichzeitig der Schutz der Privatsphäre zusammengebracht werden mit einem wirtschaftlichen Nutzen. Es gibt einen Bericht des World Economic Forum in dem hieß es: Daten sind das "Öl der Informationsgesellschaft". Als Bundeswirtschaftsminister kann ich Sie ja da als Experten durchaus zu befragen: Ist Deutschland da derzeit eher Importeur oder Exporteur?
    Gabriel: Nein, nein, bei den Produktionen sind wir Exporteur. Das ist ja das, worauf so viele scharf sind. Denn überlegen Sie sich, wie viele Daten wir alleine durch die Herstellung unserer Produkte und deren Nutzung produzieren. Wir sind zur Zeit Importeur, was Hard- und Software der Nutzung dieser Daten angeht, und deswegen, glaube ich, geht es halt auch darum, dass wir dafür eigene Entwicklung in Gang bringen müssen.
    Eines der Themen dafür ist zum Beispiel: Wie fördern wir junge Unternehmen, die am Standort Deutschland und Europa sich mit der Frage Big Data einerseits, Datensouveränität auf der anderen Seite auseinandersetzen, und dafür übrigens auch technologische Entwicklungen anbieten, wie in der Trusted Cloud. Also sozusagen in der Cloud, bei der man sicher sein kann, dass die Daten dort nicht verschwinden oder von anderen genutzt werden. Und da, glaube ich, müssen wir wesentlich mehr tun. Wir haben in Deutschland und Europa eine erbarmungswürdige Kultur der Förderung von solchen jungen Unternehmen.
    Und das ist das, was einen schon ziemlich die Zornesröte ins Gesicht treiben kann, wenn man sieht, dass wir jetzt als Deutsche in die Vereinigten Staaten gehen und dort um Geld für junge Unternehmen aus Deutschland werben. Die kriegen übrigens ihr Geld und gehen noch nicht mal weg aus Deutschland, trotzdem kann es doch nicht wahr sein, dass wir hier in einem so reichen Land, wie Deutschland, nicht in der Lage sind, bessere Bedingungen für das Wachstum junger Unternehmen im Bereich des Datenmanagements, des Internets, der Digitalisierung auf den Weg zu bringen.
    Entwicklung von Big Data
    Steiner: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk, zu Gast ist Sigmar Gabriel, Bundeswirtschaftsminister und auch Vorsitzender der SPD. Auf einem kleinen Parteitag in Berlin, im vergangenen Herbst, haben Sie ihrer Partei mächtig ins Gewissen geredet: Die Herausforderungen durch die Digitalisierung seien eine Aufgabe für die Gesellschaft, vergleichbar mit der, vor der die Arbeiterbewegung durch die Industrialisierung stand, es gelte - so sagten Sie es -, den Silicon-Valley-Kapitalismus zu bändigen, wie einst der Manchester-Kapitalismus für die Menschen gebändigt werden musste. Wie wollen Sie das erreichen?
    Gabriel: Na ja, ich will vielleicht erst noch mal erklären, worum es da geht. Es ist eben so, dass mit der Entwicklung von Big Data natürlich schon die Gefahr besteht, dass große Unternehmen, sagen wir, auch des Finanzkapitalismus' oder auch Unternehmen wie Google und andere, am liebsten hätten, dass jede Regung, die ein Mensch tut, verwertet werden können. Es gibt ja den Spruch dann bei Google und anderen, die sagen: 'Wir werden irgendwann wissen, was ihr euch wünscht und was ihr denkt, wovon ihr träumt, bevor ihr das eigentlich euch gewünscht habt, gedacht habt und geträumt habt.' Das ist für mich eine ganz schlimme Vorstellung.
    Früher haben wir immer gedacht, 'Big Brother is watching you' ist ein Problem im Umgang mit dem Staat, jetzt stellen wir fest, es gibt so ein Hybrid manchmal in Amerika, wo die privaten Datensammelstellen in großen Unternehmen dann auch noch verschnitten werden mit staatlichen Einrichtungen, wie den amerikanischen Geheimdiensten.
    Und ich will nicht, dass wir Menschen quasi mit jeder Regung ihres Lebens und jeder Handlung in ihrem Leben zum Gegenstand von kapitalistischer Verwertung machen. Was nicht heißt, dass es viele Dinge gibt, die wir möglich machen wollen, weil sie das Leben der Menschen vereinfachen. Es ist ja nicht so, dass das alles nur Gefahr ist. Es ist ein bisschen das Problem in Deutschland, wir neigen manchmal dazu, nur die Gefahren zu sehen. Ich sehe schon durchaus die Chancen. Aber wie verhindern wir, dass wirklich alles zum Gegenstand der Vermarktung und Verwertung wird und dann am Ende wir Menschen auch mit manipuliert werden können? Das ist das Eine.
    Das Zweite ist: Wir erleben eine Veränderung auch in der Arbeitswelt. Digitalisierung bedeutet auch völlig neue Arbeitswelten. Das geht los mit der Frage: Welche Qualifikationen muss man eigentlich haben? Die Digitale Wirtschaft entgrenzt ein ganz klassisches Arbeitsverhältnis. Früher war das klar: Ich komme zur Arbeit, dann bin ich eine bestimmte Zeit da, dann gehe ich wieder nach Haus; dafür, in der Zeit dazwischen, kriege ich mein Geld. Jetzt ist es so, dass die ersten sich auf digitalen Plattformen im Internet mit ihrer Arbeitsleistung bewerben. Der preiswerteste kriegt sozusagen den Zuschlag, und in welcher Zeit der das macht, ist völlig egal. Manche nennen das "Clickworker".
    Ich glaube jedenfalls, dass wir uns über die Frage unterhalten müssen: Wie sichern wir eigentlich das, was wir an klassischem Arbeitsrecht geschaffen haben, was soziale Sicherheit bedeutet, was übrigens auch bedeutet, dass es einen Zeitraum gibt, in dem man arbeitet und einen anderen Zeitraum gibt, in dem man Zeit hat, sich zu erholen, sich um die Familie zu kümmern. Ich glaube, alle diese Themen sind uns noch gar nicht so richtig klar, und sie werden die Kultur unseres Zusammenlebens verändern. Und deswegen wollen wir als Sozialdemokraten so etwas wie ein Digitales Grundsatzprogramm schaffen, bei dem wir uns auseinandersetzen mit der Frage: Wie wollen wir eigentlich zusammenleben in Zukunft? Das ist die wichtigste Frage, die die Politik immer wieder stellen und beantworten muss.
    Regeln des analogen Zeitalters auch fürs Digitale Zeitalter verwenden
    Steiner: Genau in dieses, sagen wir mal Spannungsfeld, ist im vergangenen Jahr bereits eine Debatte ja sehr stark hineingestoßen, nämlich die Debatte um diesen Fahrdienstleister Uber, könnte man sagen, und sein Konflikt mit dem Taxigewerbe. Disruptive Innovation rufen die einen, die anderen rufen, es sei ein Angriff auf das geregelte Personenbeförderungswesen und auf den Arbeitsschutz. Was haben Sie aus dieser Debatte mitnehmen können, für genau eben diese große Debatte?
    Gabriel: Ich glaube ganz prinzipiell, dass die Regeln, die wir im analogen Zeitalter hatten, nicht einfach deshalb ihre Gültigkeit verlieren, weil wir jetzt im Digitalen Zeitalter sind. Und was heißt das jetzt für den konkreten Fall? Wenn ich ein Auto besteige - egal, wie viel ich dafür zahle für jemanden, der Personentransport betreibt -, dann will ich sicher sein, dass der, erstens, fahren kann, dass ich jedenfalls in dem Maße, in dem man das sicher machen kann, sicher befördert werden. Das Gleiche gilt ja auch für die, die sozusagen statt eines Hotels ihre Wohnung anbieten, ich will wissen, dass Brandschutz da ist und vieles andere mehr. Das heißt, ich glaube nicht, dass wir einfach aufgeben sollten die Dinge, die wir miteinander vereinbart haben, damit die Nutzung von gewerblichen Dienstleistungen - und Uber ist nichts anderes - damit die sicher, in dem Maße sicher ist, wie man das machen kann. Und deswegen glaube ich, geht es immer um die Frage: Wie verschaffen wir dem Geltung, was wir bislang für angemessen gehalten haben, wenn jemand eine Dienstleistung oder ein wirtschaftliches Angebot annimmt? Das, glaube ich, hat in der Digitalen Welt seine Gültigkeit nicht verloren.
    Steiner: Aber ist das nicht eigentlich auch genau der Stellvertreterkonflikt für die Debatte, wie wir über Digitalisierung in Europa sprechen und wie wir in den USA darüber sprechen? In den USA kann man ja im Zuge der Vertragsfreiheit ja sehr, sehr viel einfach das per Vertrag eingehen und vielleicht auch Sicherheiten aufgeben, freiwillig. In Europa, speziell in Deutschland ist das natürlich deutlich schwieriger. Vieles ist rechtlich deutlich enger geregelt.
    Gabriel: Das hat aber mit Digitalisierung nichts zu tun, sondern die Amerikaner haben ein anderes Rechtsverständnis dazu: Sie machen etwas und wenn das schief geht, dann drohen ihnen gewaltige Schadenersatzzahlungen. In Deutschland und Europa haben wir traditionell das Vorsorgeprinzip, wir sorgen dafür, dass möglichst wenig passieren kann, und jemand, der sich an Recht und Gesetz hält, der wird dann hinterher nicht zu gigantischen Schadenersatzforderungen verklagt werden können. Ich glaube nicht, dass wir in Europa einfach mal diese Rechtstradition über Bord werfen sollten, sondern dass die Amerikaner das anders handhaben, das war auch schon vor der Digitalisierung so und bei uns ist das das Gleiche.
    Wie gesagt, es geht immer wieder um die Frage: Glauben wir, dass wir die Regeln im Zusammenleben bei uns einfach über Bord werfen sollen, weil es eine neue Technologie gibt oder sagen wir: 'Nein, lasst uns mal lieber darüber nachdenken, wie wir diese Regeln im Zusammenleben übertragen können ins Digitale Zeitalter? Ich bin für den zweiten Weg.
    Steiner: Aber ist die Digitalisierung an der Stelle vielleicht mit ihren Auswirkungen - es gibt ein Google für Europa und für die USA, es gibt ein Facebook für beide Seiten des Atlantiks -, ist sie dann nicht in gewisser Weise auch vielleicht Vorbote eines zukünftigen gemeinsamen Wirtschaftsraumes?
    Gabriel: Na ja, der gemeinsame Wirtschaftsraum existiert ja längst. Das ist natürlich die Voraussetzung oder nein, das ist natürlich auch eine der Folgen, nicht nur im Bereich der Digitalisierung. Sie können und wollen ... wir wollen uns auch gar nicht abkoppeln, aber ich finde es schon ganz gut, dass der Europäische Gerichtshof gesagt hat: 'Okay, wenn ein amerikanisches Unternehmen mit Daten umgeht in Europa und daraus ein Geschäftsmodell macht - ich meine, Googles Geschäftsmodell ist Advertising -, dann muss es sich an die europäischen Regeln halten.'
    Deswegen schlagen wir zum Beispiel vor, dass jemand, der dort Anbieter ist, andere nicht strukturell benachteiligen darf, nur weil sie beim ihm vielleicht ein Konkurrenzangebot machen. Ich glaube nicht, dass das wirklich zum Schaden ist, dass wir dafür sorgen, dass in Europa die Regeln beibehalten werden. Ich glaube eher, dass die amerikanischen Unternehmen, die dann hier den Markt nutzen wollen, sich den Regeln relativ schnell anpassen werden. Ich halte nichts davon, kleinmütig zu sein als Europäer. Wir haben hier eine ganz gute Form des Zusammenlebens, und ich glaube nicht, dass wir einfach sagen müssen: Wir werfen das über Bord. Disruptive Techniken gibt es, ja, aber ehrlich gesagt, disruptive Verfassungen möchte ich nicht haben.
    Steiner: Sie haben es eben selber schon angesprochen, Herr Gabriel, es gibt in Deutschland relativ wenige, sehr erfolgreiche digitale Firmen als solche. Immer wieder gibt es Forderungen, dass Sie und die Bundesregierung mehr für Wagniskapital zum Beispiel tun müssten, möglicherweise auch selbst Geld in die Hand nehmen, um wachsenden Start-ups Starthilfe auf dem Weg zu Weltkonzernen zu leisten. Ist das ein Weg zum Erfolg?
    Gabriel: Unser Problem ist nicht das Start-up, nicht die Gründung des Unternehmens - es gab noch nie so viel Gründungskapital, durchaus auch über den Staat. Unser Problem ist, dass wir, wenn diese Unternehmen den Schritt in die Internationalisierung wollen, wenn die wachsen wollen, dann fallen wir total aus. Ich habe jetzt irgendwo gelesen, dass in einem Jahr in Kalifornien 15 Milliarden US-Dollar Venture Capital, also Risikokapital für solche Unternehmen in der Wachstumsphase bereitstehen - bei uns waren es, glaube ich, 670 Millionen, das ist eine homöopathische Dosis.
    Was ist der Grund dafür? Es gibt ein paar regulatorische Gründe. Zum Beispiel gibt es bei uns eine Regel, wenn jetzt ein Unternehmen oder ein Kapitalbesitzer einsteigen will in ein Unternehmen und sagt: 'Pass auf, ich helfe euch, gebe euch Private Equity oder wie auch immer, ich helfe euch mit meinem Geld' und dieses Unternehmen bisher Schulden hatte und deswegen Verlustvorträge hat und keine Steuern zahlen musste, dann muss der neue Unternehmer mal als erstes die Steuern bezahlen. Na, also ehrlich gesagt, ich glaube, es gibt relativ wenige Unternehmen oder Kapitalbesitzer, die sagen: 'Ich steige in ein Unternehmen ein, damit ich als erstes dessen Steuerrückstände bezahle.'
    Das regeln andere Länder ganz anders, die zahlen dann Steuern, wenn die Gewinne machen. Das, finde ich, gehört dringend verändert. Dann gibt es leider das Problem, dass wir eine Schwierigkeit haben für Unternehmen, den Weg an die Börse zu gehen. Da haben wir mit der Deutschen Börse jetzt verabredet, dass wir vor allen Dingen in der vorbörslichen Phase bessere Angebote machen wollen, damit Unternehmen überhaupt in die Reife kommen, das zu tun. Und dann gibt es das größte Problem: Wir haben leider keine Kultur für Risikokapital. Und es kann auch nicht sein, dass unsere Ideen immer beim nächsten Sparkassenfond oder nächsten staatlichen Fond landen. Sondern, ich glaube, dass es auch eine stärkere Kultur der Bereitschaft geben muss für diejenigen, die in Deutschland viel Geld verdienen oder über großes Kapital verfügen, auch in solche Unternehmen einzusteigen.
    Und es kann auch nicht sein, dass wenn bei uns mal einer gescheitert ist, dass der für die nächsten 200 Jahre nicht mal mehr einen Minikredit bei einer Bank bekommt. Auch das ist in Amerika anders. Bei denen ist es so, dass, sagen wir mal, das Scheitern mit zum Erwachsenwerden gehört und man am liebsten erst mal keinem Geld gibt, der nicht mindestens einmal gescheitert ist, weil man dann Sorge hat, dass er nicht genug weiß. Also es gibt auch kulturelle Probleme in unserem Land und in Europa.
    Steiner: Die werden Sie als Politik wahrscheinlich nicht abstellen können in dem Sinne, das wird zumindest sehr, sehr schwierig.
    Gabriel: Da haben Sie recht. Aber dafür werben kann man.
    Steiner: Auch wenn das Scheitern teilweise zur Politik sicherlich auch dazu gehört.
    Gabriel: Das kann ich bestätigen.
    Netzwerkstecker sind vor einem Computer-Bildschirm mit Symbolen für "gespeicherte Verbindungen" zu sehen
    Die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung verstößt gegen EU-Recht, hat der EuGH entschieden. (dpa picture alliance / Jens Büttner)
    "Die Vorratsdatenspeicherung ist kein Allheilmittel"
    Steiner: Dennoch, ein Beispiel dafür wäre ja zum Beispiel auch eines der Vorhaben der Politik - ich muss jetzt leider ein wenig im Thema springen, aber das ist nun mal so in solchen Interviews -, ein weiteres Beispiel dafür ist etwas, wo die Politik etwas versucht hat, wo sie am Ende allerdings dann von den Gerichten eingefangen wurde: Wir müssen noch einmal über das Thema Vorratsdatenspeicherung sprechen.
    In den Niederlanden ist sie in diesen Tagen ebenfalls außer Kraft gesetzt worden. In Deutschland stellt sich Justizminister Heiko Maas, ihr Parteigenosse, gegen eine schnelle Neueinführung. Auf europäischer Ebene deutet nichts auf eine Neuauflage hin. Die Geschäftsgrundlage aus dem Koalitionsvertrag, ist auf absehbare Zeit entfallen. Der letzte Parteitagsbeschluss der SPD zur Vorratsdatenspeicherung ist von Dezember 2011, noch vor dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes, weit vor dem Urteil, und die Abstimmung war damals schon äußerst knapp. Wie wollen Sie, Herr Gabriel, in dieser Frage nun weiter verfahren?
    Gabriel: Wir haben damals einen Parteitagsbeschluss gehabt - 2011 im Dezember -, der übrigens mit relativ großer Mehrheit gefasst wurde, weil wir gesagt haben: 'Achtung, das, was derzeit in Deutschland an Rechtslage ist, ist verfassungswidrig!' Und wir haben die damalige Bundesregierung - CDU/CSU und FDP - sehr davor gewarnt. Das ist uns damals nicht geglaubt worden, hinterher ist das Gesetz vor dem Verfassungsgericht gescheitert. Und wir haben Vorschläge gemacht, wie man es verfassungskonform machen kann. Zum Beispiel, dass man es begrenzt auf schwere Straftaten zum Beispiel dadurch, dass man einen Richtervorbehalt hat - die Daten werden ja sowieso nicht beim Staat gesammelt, sondern bei privaten Unternehmen - und der Staat jetzt nicht einfach darauf zugreifen kann, sondern dass er ein Gericht fragen muss und im Übrigen, dass die Aufbewahrungsfristen solcher Daten relativ kurz ist.
    Das, glaube ich, sind damals schon vernünftige Beschlüsse gewesen, heute werden sie uns helfen, ein mit der Verfassung und auch mit Europarecht konformen Gesetzesvorschlag zu machen. Ich bin der Überzeugung, wir brauchen das, ich weiß aber, dass das hochumstritten ist. Ich glaube nur, dass die Debatte eine sehr ideologische ist. Die Vorratsdatenspeicherung ist kein Allheilmittel, die wird uns nicht bei jeder Gelegenheit helfen, alle Straftaten zu verhindern, aber sie kann uns durch eine schnellere Aufdeckung von Straftaten helfen, die nächste Straftat zu verhindern.
    Das ist die Erfahrung gewesen der Norweger bei dem Attentat von Herrn Breivik, einem rechtsradikalen Attentäter, auf sozialdemokratische Kinder und Jugendliche in einem Zeltlager. Da wird immer behauptet, das hätte gar nicht stattgefunden - das ist falsch, wir haben die Norweger gefragt. Und das gilt auch in vielen anderen europäischen Staaten. Ich glaube also, dass wir wegmüssen von so einer ideologischen Debatte. Und ich meine, wir erleben doch gerade, dass die Welt ziemlich gefährlich geworden ist und dass die Gefahren aus anderen Teilen der Welt zu uns importiert werden.
    Und ich glaube, dass wir auch in dem verfassungsrechtlich vertretbaren Umfang technisch in der Lage sein müssen, darauf zu reagieren, aber wie gesagt, ich weiß, hoch umstritten, die Diskussion. Trotzdem, man darf sich vor der nicht wegducken und wir müssen aufhören, sie ideologisch zu führen, sondern sie so zuführen, wie ich das vorhin schon am Beispiel der Wirtschaft versucht habe zu sagen: Immer entlang der Regeln, die wir uns auch im analogen Zeitalter gegeben haben. Da durfte der Staat auch nicht alles, da haben wir bestimmte Eingriffe - Einsatz von nachrichtendienstlichen Mitteln zur Strafverfolgung - auch nur bei schweren Straftaten zugelassen, wir haben dort auch Richtervorbehalte gemacht. Und ehrlich gesagt, wir sind damit bislang ja ganz gut gefahren. Und dafür würde ich werben, eine ideologiefreie Debatte zu führen.
    Steiner: Um einige der Vorgaben aus eben zum Beispiel dem EuGH-Urteil (Urteil des Europäischen Gerichtshofes) werden Sie natürlich dennoch nicht drumrum kommen. Immer wieder im Gespräch ist dort zum Beispiel die Herausnahme der Berufsgeheimnisträger - technisch überaus schwierig umzusetzen, sagen mir Fachleute, wie das funktionieren soll. Die Vorratsdatenspeicherungsdebatte liegt jetzt bei Heiko Maas und bei Thomas de Maiziére. Die Kanzlerin hat sich nach "Charlie Hebdo" auch eingebracht, hat gesagt: 'Wir brauchen das jetzt'. Auch Sie haben das jetzt noch einmal bekräftigt, dass man das eigentlich brauchen würde. Wie soll denn da ein Kompromiss gefunden werden in naher Zeit?
    Gabriel: Also, ich bin nicht erst seit jetzt ein Befürworter, sondern habe damals sehr dafür geworben, dass die SPD sich gegen die alte Form der Vorratsdatenspeicherung positioniert, aber mit eigenen Vorschlägen, wie man das besser machen kann, weil ich nichts davon halte, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen. Jetzt ist es so, dass wir, dass die Kollegen de Maiziére und Heiko Maas gemeinsam einen solchen Vorschlag entwickeln müssen. Das wird nicht von heute auf morgen der Fall sein, dafür sind die Themen viel zu kompliziert. Und des nützt ja auch nichts, irgendwas vorzuschlagen, was dann wieder beim Verfassungsgericht oder wieder beim EuGH scheitert. Aber einfach wegzuducken und zu sagen: 'Das ist uns zu schwierig' - übrigens, in Europa haben wir viele Staaten, die haben die Vorratsdatenspeicherung -, davon halte ich jetzt auch nichts. Das würde uns vielleicht manchen Ärger ersparen, aber man ist nicht in der Politik, um sich Ärger zu ersparen.
    Steiner: Sigmar Gabriel, ich danke Ihnen für dieses Interview. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.
    Gabriel: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.