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Sigmund Freud
Der Mensch als Maschine

Vor 75 Jahren starb der Begründer der Psychoanalyse. Sigmund Freud bleibt bis heute ein wichtiger Referenzpunkt für die Psychiatrie und Psychotherapie, ist sich Freud-Forscher Raphael Bonelli sicher. Streng nach Freud'scher Lehre arbeiteten jedoch nur mehr wenige Therapeuten.

Von Henning Klingen | 23.09.2014
    Der österreichische Psychoanalytiker Sigmund Freud kurz nach seiner Ankunft in London am 6. Juni 1938.
    Der österreichische Psychoanalytiker Sigmund Freud kurz nach seiner Ankunft in London am 6. Juni 1938. (AFP)
    "Er war sehr ehrgeizig, er hatte sehr viel Energie, das sagen ihm alle nach. Er konnte sehr charmant sein, er konnte Menschen gewinnen, aber er war auch sehr eckig, wie man das oft sieht bei narzisstischen Persönlichkeiten, dass sie polarisieren. Er hat polarisiert, Leute haben ihn geliebt oder gehasst. Er hat wenige Leute gleichgültig gelassen. Und in späteren Jahren, als er schon bekannt und berühmt war, war er für seine Mitarbeiter ein Tyrann. Seine Meinung hatte was Dogmatisches. Und da war er sehr unbeweglich. Die Einen sagen, er war halt so überzeugt von seinen Ideen. Die Anderen sagen, das war Folge seines Narzissmus, dass er halt sehr begeistert war von sich und alles, was er gedacht hat, das musste schon ziemlich stimmen und da war kein Verhandlungsspielraum mehr."
    Sagt der Psychiater Raphael Bonelli, der unter anderem an der Wiener Sigmund-Freud-Universität lehrt und forscht und seine Praxis nur einen Steinwurf von der ehemaligen Wohnung Freuds in der Wiener Innenstadt hat.
    Zu den eher unbekannten Seiten Freuds zählt dessen ambivalentes Verhältnis zur Religion. Dieses zeige sich bereits in Freuds eigenen familiären Verhältnissen:
    "Er wächst prinzipiell in einer jüdischen Familie auf mit mehr jüdischer Identität als jüdischer Religion. Seine Frau Martha war eine gläubige und praktizierende Jüdin. Freud macht dann auch noch das Heiratszeremoniell des jüdischen Glaubens mit, verbietet dann seiner Frau aber in der Folge, den jüdischen Glauben auszuüben."
    Ablehnung aller Religion entsprach dem Zeitgeist
    Mit seiner radikalen Ablehnung aller Religion sei Freud damals allerdings im philosophischen wie im psychologischen Wissenschaftsbetrieb nicht allein gewesen. Dies habe vielmehr dem Zeitgeist entsprochen:
    "Er kommt aus einer Zeit des 19. Jahrhunderts, wo alles machbar erschien, wo Technik alles war, wo Physik das große Ding war. Charles Darwin hat kurz vorher seine Hypothesen präsentiert und die religiösen Menschen galten als Reaktionäre, die den Fortschritt behindern - so ist sein Denken doch noch deutlich im 19. Jahrhundert verhaftet: Technik ist alles und ich entdecke jetzt, wie die Seele tickt - im wahrsten Sinne des Wortes."
    Religion ist für Freud nur Ausdruck eines infantilen Wunsches nach einem übermächtigen Vater - eine Pathologie, die es zu behandeln gilt. Durch und durch pragmatisch-technisch ist Freud auch in seinem Blick auf die menschliche Psyche. Denn wenn Technik alles ist, so lässt sich aus Freuds Perspektive auch die Psyche technisch beschreiben:
    "Und so erklärt sich auch ein Teil seines Systems, weil er präsentiert den Menschen später eigentlich als Maschine. Er ist reiner Materialist philosophisch gesehen. Er denkt nur in physikalischen Begriffen - und wenn er den sogenannten 'psychischen Apparat' vorstellt, dann ist das kein Zufall: Der psychische Apparat ist das Es, das Ich und das Über-Ich, das kennen wir alle. Die meisten wissen aber nicht, dass er das den 'psychischen Apparat' genannt hat, was sehr viel über ihn und sein Denken aussagt. Da geht es nur um verdrängen, sublimieren, verschieben - das sind lauter Begriffe aus der Physik."
    Religion als Therapieansatz
    Ist Freud damit für die heutige Psychiatrie und Psychotherapie "erledigt"? Nein, sagt der Psychiater Bonelli, Freud bleibe bis heute ein wichtiger Referenzpunkt. Streng nach Freud'scher Lehre arbeiteten jedoch nur mehr wenige Therapeuten. Ein Bereich etwa, in dem die Psychotherapie sich weiter entwickelt habe, sei der Umgang mit Religion im Therapeut-Klienten-Gespräch.
    "Es gibt Ansätze, die sagen, Religion ist eine Ressource. Dazu gibt es auch viele Studien, die aussagen: Religion tut der Psyche gut. Aber Religion kann natürlich nicht verschrieben werden in dem Sinn, dass man keinem befehlen kann, religiös zu werden, um weniger Suizidgedanken zu haben. In den USA gehen manche Therapeuten wirklich so weit, dass sie mit ihren Patienten beten, dass sie auch fast aktiv Religiosität evozieren. Das gibt es in Europa meines Wissens nicht - ich würde das auch nicht gutheißen, weil ich für eine starke Trennung zwischen Psychotherapie und Seelsorge plädiere."
    Doch die Kritik an Freud setzt nicht nur dort an, wo sich die Medizin weiterentwickelt hat - was Freud so schwer greifbar und handhabbar mache, sei vielmehr die Tatsache, dass seine Thesen weder beweis- noch falsifizierbar sind, so Bonelli. Ich, Es und Über-Ich lassen sich nicht im Computertomografen sichtbar machen. So müsse man Freud heute, 75 Jahre nach seinem Tod, entmystifizieren, um zugleich neu sichtbar zu machen, was er Großes geleistet habe:
    "Die große Schwäche von Freuds Theorien ist einerseits, dass er seine Weltanschauung sehr tief mit hineingenommen hat - ganz besonders, was Religiosität betrifft. Da bleibt er überhaupt nicht auf dem Boden der sachlichen Wissenschaftlichkeit, sondern da wird er fast persönlich betroffen und aggressiv. Und dass der Mensch eine Maschine ist. Der Mensch besteht bei ihm nur aus Materie und ist zutiefst unfrei. Es gibt bei Freud überhaupt keine Freiheit. Kein Mensch kann sich frei entscheiden - es hat immer seinen Grund immer im Ich, Über-Ich oder Es. Hier ist der große Denkfehler und das große Defizit in der Freud'schen Hypothese zu finden, die aber ihren Ursprung in seiner Weltanschauung hat. Wenn er seinen ganzen Materialismus weglassen würde, dann wären seine Theorien viel brauchbarer und seine Beobachtungen viel nützlicher für die heutige Zeit, weil die Einzelbeobachtungen großartig sind."