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Signal der Justiz

Der 88-jährige ehemalige SS-Mann Heinrich Boere wurde wegen mehrerer Morde im Jahr 1944 zu lebenslanger Haft verurteilt. Beate Klarsfeld, Journalistin und Menschenrechtsaktivistin, freut dieser juristische Schlag.

Beate Klarsfeld im Gespräch mit Stefan Koldehoff | 23.03.2010
    Stefan Koldehoff: Es ist eine bemerkenswerte Entscheidung, die das Landgericht Aachen heute verkündet hat: Der 88 Jahre alte ehemalige SS-Mann Heinrich Boere wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er 1944 in den besetzten Niederlanden mindestens drei Männer erschossen hat – als sogenannte Vergeltung für Anschläge des niederländischen Widerstands. Bemerkenswert aus zwei Gründen: Zum einen natürlich wegen des Alters von Boere, zum anderen aber, weil seine Taten seit Jahrzehnten bekannt waren, er sie nicht leugnete, und trotzdem wurden sie 1986 noch als völkerrechtlich zulässige Repressalien der deutschen Besatzer verharmlost. Es gab damals keine Anklage. Boere wurde auch nicht an die Niederlande ausgeliefert, er konnte seinen Lebensabend bislang in einem Altenheim in Nordrhein-Westfalen verbringen, bis ihn dort vor einigen Jahren ein holländischer Journalist aufspürte. Die Menschenrechtsaktivistin Beate Klarsfeld setzt sich mit ihrer Stiftung seit Jahrzehnten für die Verfolgung untergetauchter NS-Verbrecher ein. An sie geht die Frage: Frau Klarsfeld, überrascht Sie dieses Urteil?

    Beate Klarsfeld: Nein, wir haben schon im Demjanjuk-Prozess gesehen, dass man hier jemand verurteilt, wo man also Schwierigkeiten habe, die Beweise zu bringen, aber die deutsche Gesellschaft, würde ich sagen, hat die Richter, die sie verdient. Die Richter sind junge Leute und die Gesellschaft hat sich auch geändert, und deswegen. Aber in den 60er-, 70er-Jahren wäre das nie möglich gewesen, denn die großen NS-Verbrecher wie zum Beispiel Werner Best, der die Einsatzgruppen geschaffen hatte, war niemals vor Gericht gestellt worden, verurteilt worden. Heute sieht man immer die 80-Jährigen, nun gut, und was ja auch bei diesem Fall hier, bei Boere, richtig ist, er hat zugegeben, dass er diese drei Zivilisten erschossen hat.

    Koldehoff: Wenn Sie sagen, in den 60er-Jahren wäre das unmöglich gewesen ...

    Klarsfeld: Unmöglich.

    Koldehoff: ... die Gesetze waren damals keine anderen.

    Klarsfeld: Nein, sie waren nicht anders, aber ich sagte ja, die deutsche Gesellschaft hat die Richter, die haben sich geändert. Damals waren die Richter kurz nach Ende des Krieges, Kalter Krieg, da gab es wohl noch den Nürnberger Prozess, den Eichmann-Prozess, dann gab es wohl noch die ... geschaffen wurde, aber das dauerte eine Ewigkeit, ehe in Ludwigsburg diese Akten an die zuständigen Staatsanwalten schickt, und im Allgemeinen kam es oft zu Einstellungen.

    Koldehoff: Was heißt das konkret – dass die Justiz so früh noch nicht in der Demokratie angekommen war?

    Klarsfeld: Das waren wahrscheinlich, die saßen ja alle in den Stellen, wo man sie nicht verurteilen durfte. Ich sagte ja, Beste war bei denjenigen, die in Frankreich tätig waren, Lischka, Hagen ... die anderen, die in Abwesenheit verurteilt wurden, das waren Richter gewesen, das waren Rechtsanwälte gewesen, das waren Bürgermeister gewesen, es waren Geschäftsmänner gewesen, es ging so bunt durch die Reihe. All diejenigen, die involviert waren im Naziregime und hätten verurteilt und auch meistens also verurteilt wurden, zum Beispiel Lischka, Hagen Lischka, Heinrichsohn waren in Frankreich in Abwesenheit verurteilt worden, kein Richter wollte sich da irgendwie wieder einen schlechten Namen machen und die verurteilen.

    Koldehoff: Und es gab keine Handhabe, gegen solche Freisprüche oder sehr geringe Verurteilungen vorzugehen?

    Klarsfeld: Ich würde sagen, es gab auch wenig Motivation der deutschen Bevölkerung, also schon gar nicht in der älteren Generation. Als wir 1971 begannen, diejenigen ans Tageslicht zu ziehen, die in Frankreich verantwortlich waren für die Deportation der 76.000 Juden aus Frankreich, wie Kurt Lischka, Hagen, Heinrichsohn, wir waren allein, niemand wollte uns helfen – weder jüdische Gemeinden in Deutschland, kein Politiker. Wir haben uns dann mit der – ich würde sagen, unsere Gruppe war zusammengesetzt aus den Angehörigen der Deportierten, das war motivierend für uns. Und dann hatten wir auch versucht, mit militanten Aktionen Aufmerksamkeit auf diesen Skandal zu ziehen. Und das hat aber zehn Jahre gedauert, von '71 bis '79, als der Prozess begann, um '80 dann die Gerichtssprüche zu bekommen.

    Koldehoff: Es hat oft geheißen, wenn die Rede von geringen Strafen für NS-Täter oder von Freisprüchen gewesen ist, dass eine Krähe der anderen kein Auge aushackt, von furchtbaren Juristen im Nationalsozialismus war die Rede, die hinterher von ihren Berufskollegen nicht verurteilt werden konnten. Jetzt sind es auch Richter, also geht es nicht um Standesbewusstsein, sondern tatsächlich, wie Sie vorhin schon gesagt haben, um eine Generationenfrage.

    Klarsfeld: Der Lischka-Prozess, möchte ich noch hinzufügen: Wir haben … im Mai dieses Jahres wird in Köln am Appellhofplatz am Gerichtssaal eine Gedenktafel an den Lischka-Prozess angebracht werden. Das war die Initiative unserer Gruppe FFDJF die das gewünscht hat. Aber ich würde sagen, der vorsitzende Richter, der Herr Fassbender, der auch damals, der auch hier zugegen sein wird, hatte in dem Gerichtsverfahren im Urteilsspruch gesagt: Für mich ist es eigentlich sehr schwer, Lischka, Hagen und Heinrichsohn zu verurteilen, das sind ja, könnten mein Onkel, mein Vater sein. Aber er hat gesagt, durch diese NS-Verbrecher wird das ganze System verurteilt. Und das, würde ich sagen, ist symbolisch für die Richter, die etwas tun wollten.

    Koldehoff: Also es geht schon darum, auch Menschen, die den eigenen Berufsstand in Misskredit gebracht haben, in einer bestimmten Weise darauf zu reagieren?

    Klarsfeld: Auf jeden Fall.

    Koldehoff: Es ist in der deutschen Presse heute die Rede davon, dieses Urteil gegen Herrn Boere, das könnte der letzte große Kriegsverbrecherprozess in Deutschland gewesen sein. Glauben Sie das oder gibt es noch mehr?

    Klarsfeld: Ich würde sagen, bedauerlich ist, dass man jetzt nur noch 80-Jährige und senile NS-Verbrecher heranzieht, wie Demjanjuk oder Boere, die im Rollstuhl angefahren kommen, die sich kaum noch verteidigen können, Demjanjuk kann kaum noch ein Wort reden. Ich sagte, es bedauere es, aber dass man nicht früher begonnen hat, die großen NS-Verbrecher vor Gericht zu stellen, dass es so lange dauerte, um jetzt die heranzuholen, also die wirklich, ich würde sagen, verglichen zu den Großen kleine Lichter sind, aber nun gut. Ich meine, die Message sagen wir mal, die ist gekommen. Ich würde sagen, das ist vielleicht das Einzige, was heute uns ermutigen kann, dass eben auch in Deutschland die deutsche politische Gesellschaft daran hält, dass diese Verbrechen verurteilt werden müssen.

    Koldehoff: Hat Deutschland da in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten eine historische Chance verpasst?

    Klarsfeld: Auf jeden Fall, auf jeden Fall.

    Koldehoff: Beate Klarsfeld zur Verurteilung des NS-Kriegsverbrechers Heinrich Boere.